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       # taz.de -- Totale Elite: Hilfe, ich bin elitär
       
       > Keine Gesellschaft kommt ohne Eliten aus. Es gilt die Eliten zu
       > demokratisieren und die Demokratie zu elitisieren.
       
   IMG Bild: Der Besuch eines Taylor-Swift-Konzerts kann teurer sein als der einer Oper, gilt aber als weniger elitär
       
       Auf meiner Rating-Liste der Dinge, die mir echt bis zum Hals stehen, kommen
       die Blödsinnigkeiten, die mit dem Begriff „Elite“ verbunden sind, auf Rang
       11. (Rang 12 belegt übrigens die Manie für Rating-Listen.)
       
       Klar, die Rechten mussten „Eliten“ erfinden, weil sie sonst kein
       Gegengewicht zu ihrem heiligen „Volk“ hätten, das ja bekanntlich in der
       Demokratie nicht wirklich an der Macht ist, weil es diese verdammten Eliten
       gibt, die einen tiefen Staat unter Pizzerien führen und auf [1][Geheiß von
       George Soros] das Volk mit Impfzwang und großem Austausch vernichten
       wollen.
       
       Aber es gibt auch weniger blöde Leute, sogar Linke, die meinen, dass
       „Eliten“ und das „Elitäre“ so ziemlich an allem schuld sind, vor allem an
       der [2][Ungerechtigkeit der Verhältnisse]. Ganz allgemein und nach dem
       Sprachgebrauch lässt sich der Begriff „Elite“ in fünf verschiedenen
       Zusammenhängen fassen.
       
       1: Zur Elite gehören Menschen, die irgendwas besser können als andere. Das
       heißt: Jeder Berufszweig, jede Klasse hat eine Elite. Das gilt für
       Wissenschaftler*innen, Künstler, Politikerinnen wie für Fußballspieler oder
       Postbotinnen. Das, was wir gerade als „Fachkräftemangel“ erleben, könnte
       man also auch als Elitemangel verstehen. Dass Leute, die irgend etwas
       besser können als andere, in der einen oder anderen Weise dafür auch
       belohnt werden (sei’s durch Freiheit, durch Anerkennung oder Luxus), ist
       okay. Man darf das aber keinesfalls übertreiben. Eher kein Geniekult, eher
       kein Privatflugplatz!
       
       2: Elite könnten auch jene Menschen sein, die ein System genauer kennen als
       andere. Daher gibt es eine Elite der Wissenschaften, aber auch eine Elite
       des Wissenschaftsbetriebes. Und eben eine politische, ökonomische,
       kulturelle Elite. Jede Gesellschaft braucht eine Elite, so wie Maschinen
       nicht ohne Maschinist*innen funktionieren. Es gibt, so wie es feudale
       oder faschistische Eliten gibt, demokratische Eliten, die allerdings etwas
       komplizierter wirken: Sie müssen zugleich Demokratie elitisieren und Eliten
       demokratisieren.
       
       ## Wissen, Macht, Besitz
       
       Dagegen gibt’s freilich Widerstand, und damit sind wir bei 3: Elite wird zu
       einem selbstreferentiellen Subsystem innerhalb von Staat und Gesellschaft,
       das die Kontrolle über die Verbindung der drei Herrschaftselemente für sich
       beansprucht: Wissen, Macht, Besitz. Immer wieder setzt sich das Phantasma
       einer „totalen Elite“ fest. Diese Elite, die vor allem mit dem Erhalt der
       eigenen Macht beschäftigt ist, tendiert dramatisch zu Verblödung und
       Verrohung.
       
       Sehen wir uns nebenbei die [3][Kandidat*innenliste der AfD] an:
       Bemerkenswert viele von ihnen entstammen der staatlich-gesellschaftlichen
       Elitenbildung: Justiz, Militär, Polizei, Erziehung, Wissenschaft,
       Verwaltung. In den Thinktanks und „Instituten“ der „neuen Rechten“ wird
       eifrig an der Herstellung einer eigenen „Elite“ gearbeitet. Man hat’s von
       den historischen Nazis gelernt, deren Ziel der möglichst rasche Austausch
       der bürgerlichen durch die faschistische Elite war. Die Rechten sind alles
       andere als antielitär; sie mögen bloß keine demokratische Elite.
       
       Dass sich ein so auffälliger Teil der ökonomischen Gewinner an die
       rechtspopulistischen bis rechtsextremen Bewegungen hält, führt zu 4: Elite
       sind Menschen, die ihre Privilegien, ihre Macht, ihren Reichtum, ihren
       Einfluss, ihr Ansehen, aber auch ihre Umgangsformen, ihre
       Konsumgewohnheiten, ihre Statussymbole mit aller Gewalt gegen Kritik,
       Widerstand und Veränderung verteidigen. Eine Klasse für sich innerhalb der
       Klassenherrschaft.
       
       ## So furchtbar wie die chinesische Kulturrevolution
       
       Bleibt umgekehrt 5: Eine Elite der vom Besitz durch die Klasse gelösten
       Kultur, die das System semantisch und organisatorisch durchschaut und seine
       verborgene Wahrheit preisgibt, die gehassliebte „intellektuelle Elite“. Sie
       befindet sich in einem populistisch-autokratischen Regime vorwiegend im
       Gefängnis, im Exil oder im Untergrund. Dort sähe sie auch unsere neue
       Rechte am liebsten.
       
       Was man da theoretisch auseinanderhält, ist leider in der Praxis ein
       gewaltiges Durcheinander, alles zwischen „Erstickt doch an eurer Arroganz!“
       bis „Wo sind die Eliten, wenn man sie mal braucht?“. Stand der Dinge ist:
       Eine Gesellschaft funktioniert nicht ohne Eliten, so widersprüchlich sie in
       sich auch sein mögen. Und Versuche, die Eliten abzuschaffen, enden so
       [4][furchtbar wie die chinesische Kulturrevolution]. Es kommt nicht darauf
       an, die Eliten zu beseitigen, sondern sie demokratisch zu kontrollieren und
       ihre Arbeit für alle nutzbar zu machen.
       
       Ist schon „Elite“ ein Begriff voller innerer Widersprüche, dann setzt es
       mit „elitär“ vollends aus. Denn „elitär“ können sich auch Leute geben, die
       mit den Eliten nichts zu tun haben: Angeber, Snobs, Menschen, die dem
       Irrtum aufsitzen, dass jemand, der etwas besser kann (zum Beispiel Tennis
       spielen), auch was Besseres ist. Man kann allerdings auch alles, was einem
       zu anstrengend, zu kompliziert, zu kritisch, zu „abgehoben“ vorkommt, als
       „elitär“ bezeichnen. Wenn man etwas als „elitär“ kennzeichnet, muss man
       sich damit nicht mehr auseinandersetzen.
       
       Dabei sind die traditionellen Merkmale des „Elitären“ längst verschwunden:
       Das Weltwissen ist für jede und jeden mit ein, zwei Clicks verfügbar. Ein
       [5][Taylor-Swift-Konzert oder das Ticket für ein WM-Spiel kosten mehr], als
       wir gewöhnliche Menschen im ganzen Jahr für Kultur ausgeben – und trotzdem
       nennt man nicht dies, sondern das Hinterhoftheater „elitär“. Und dass
       höhere Bildung für immer weniger erschwinglich wird, hat weniger mit Elite
       als [6][mit dem Kapitalismus] zu tun.
       
       Und jetzt kommt’s: Ganz offensichtlich funktioniert die einstige
       Verbundenheit zwischen ökonomischen, politischen, sozialen,
       wissenschaftlichen, kulturellen Eliten nicht mehr. Im Kampf um die
       kulturelle Hegemonie und um die Fleischtöpfe bekommt die rechte Heimtücke
       der Anti-Elite-Kampagne willige Helfer. Die Demokratie ist verloren, wenn
       sie keine Eliten der Demokratie und keine Demokratie der Eliten
       hervorbringt.
       
       17 Jul 2024
       
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