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       # taz.de -- Politologe über den Rechtsruck: „Das Ende der EU wird kein Knall“
       
       > In Frankreich stehen die Rechten vor dem Machtgewinn, in Italien und
       > Ungarn regieren sie schon. Jan-Werner Müller warnt vor
       > Umarmungsstrategien.
       
   IMG Bild: Poster in der Stadt Hénin-Beaumont karikieren Éric Ciotti, den umstrittenen Chef der französischen Konservativen, der mit den Rechtsextremen Le Pen und Bardella kuschelt
       
       wochentaz: Herr Müller, in Frankreich stehen die Rechtsextremen um Marine
       Le Pen vor einem Machtgewinn. Warum? 
       
       Jan-Werner Müller: Es ist dem Rassemblement National (RN) gelungen,
       gemäßigt zu wirken. Das hat zwei Gründe. RN konkurriert mit Éric Zemmour,
       der noch extremistischer auftritt. Vor diesem Hintergrund konnte sich RN
       als moderatere, scheinbar normale rechtsbürgerliche Kraft inszenieren.
       Dieses Dynamik hat Le Pens Politik der Entteufelung plausibel erscheinen
       lassen. Ähnlich hat das in Italien auch für Giorgia Meloni funktioniert,
       die sich von Matteo Salvini distanzieren konnte.
       
       Und der zweite Grund? 
       
       Die bürgerlichen Parteien haben viele rechtsextreme Positionen systematisch
       legitimiert. Die politische Brandmauer ist spätestens im Februar 2022
       gefallen, als Valérie Pécresse, die Kandidatin der Republikaner bei der
       Präsidentschaftswahl, sich die rechtsextreme These vom „großen Austausch“
       zu eigen gemacht hat. Demnach soll das französische Volk durch Einwanderung
       zerstört werden. Bei einer Debatte hat der französische Innenminister
       Marine Le Pen vorgeworfen, sie sei bei der Bekämpfung des Islamismus zu
       weich. Das hat sogar Le Pen verwundert. Dass Präsident Emmanuel Macron Le
       Pen weiter als rechtsextrem bezeichnet, wirkt da nicht sonderlich
       überzeugend.
       
       Gleichzeitig „umarmen“ und „ausgrenzen“ ist also keine brauchbare Strategie
       im Umgang mit Rechtsextremen?
       
       Man kann nicht die Gefährlichkeit der Rechtsextremen proklamieren und
       gleichzeitig ihre Inhalte kopieren. Das muss scheitern. Es gibt auch kein
       Beispiel, das gezeigt hat, dass bürgerliche Parteien Rechtsextreme per
       Umarmung unschädlich machen können.
       
       Vielleicht doch. Die christdemokratische ÖVP hat im Jahr 2000 in Österreich
       mit der rechten FPÖ regiert und sie damit fast ruiniert. 
       
       Ja, aber nur kurzfristig. Der ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel hat die
       Zerstörung der FPÖ damals machiavellistisch geplant, der FPÖ Ministerien
       gegeben, in denen sie scheitern sollte. Die FPÖ versank in
       Korruptionsskandalen und spaltete sich. Aber sie hat sich davon erholt.
       Auch Macron scheint die Idee verfolgt zu haben, dass sich die
       Rechtsextremen an der Macht entzaubern und ihre Inkompetenz für alle
       sichtbar wird. Das ist eine brandgefährliche Illusion.
       
       Macron hat sich als einzige vernünftige Alternative zum „Bürgerkrieg“, der
       Machtübernahme von rechts und links inszeniert. Warum ist das gescheitert? 
       
       Offenbar haben viele WählerInnen das für einen Erpressungsversuch gehalten.
       2017 und 2022 hat die „Ich als Inkarnation der Republik oder der
       Extremismus“-Rhetorik noch funktioniert. Jetzt nicht mehr. Sie wurde als
       pädagogische Ansprache identifiziert, mit der Macron die Kritik an ihm an
       den Rand drängen wollte. Die Strategie, sich als Verkörperung eines
       technokratischen, alternativlosen dritten Weges zu verkaufen, hat sich
       ebenfalls erschöpft.
       
       Wie ist es dann überhaupt möglich, den Rechtsextremismus einzudämmen? 
       
       Der Machtzuwachs dieser Akteure erklärt sich nicht dadurch, dass sie
       plötzlich viel mehr Menschen politisch attraktiv finden. Sie mobilisieren
       vielmehr viele, die vorher nicht zur Wahl gegangen sind. Und sie
       profitieren davon, dass man sie kopiert und damit legitimiert. Kein
       Kopieren, keine Koalitionen – das ist die Hauptlektion, und sie richtet
       sich klar an Mitte-rechts.
       
       Also ausgrenzen, wo es geht? 
       
       Ja, um zu verhindern, dass Rechtsextremismus als normal angesehen wird. Das
       mag pedantisch klingen – aber man muss immer wieder daran erinnern, dass
       Donald Trump kein normaler US-Republikaner ist und RN keine
       rechtsbürgerliche Partei. Auf dieser Grenze zu beharren, ist eine Frage der
       Verantwortungsethik und des Anstands.
       
       Die Rechtsextremen und -populisten sind in Europa in den Zentren der Macht
       angekommen. Meloni regiert in Italien, Geert Wilders in den Niederlanden,
       Le Pen rückt als französische Präsidentin näher. Brauchen wir da keinen
       neuen Blick, der Rechte, die demokratisch adaptierbar sind, von Rechten
       trennt, die die Demokratie zerstören wollen? Zugespitzt: Meloni
       akzeptieren, die AfD ausgrenzen? 
       
       Ich bin skeptisch. Dass die Postfaschisten in Rom nicht so schlimm sind wie
       erwartet, dass keine Schwarzhemden durch die Straßen marschieren, sollte
       uns nicht beruhigen. Autoritäre Regime sind heute weniger repressiv und
       gewalttätig als früher. Sie setzen nicht darauf, Gegner zu verfolgen,
       einzusperren oder gar zu töten als vielmehr darauf, die öffentliche Meinung
       zu kontrollieren und das Wahlsystem zu manipulieren. Es heißt, Meloni sei
       doch für die Ukraine und nicht gegen die EU. Letzteres ist angesichts der
       Milliarden, die von Brüssel nach Italien fließen, nicht überraschend. Man
       sollte nicht übersehen, dass die Postfaschisten versuchen, per
       Verfassungsreform in Italien durchzuregieren, Minderheitenrechte
       beschneiden und systematisch die Kulturinstitutionen besetzen.
       
       Unterschätzen wir die Dramatik? 
       
       Es gibt einen Gewöhnungseffekt. Viele haben den Eindruck: Wir können nicht
       Tag und Nacht die Rolle von Demokratierettern spielen. Irgendwie werden die
       Extremen schon moderater. Deshalb gibt es den absurden Vergleich mit den
       Grünen, die ihre radikalen Elemente ja auch abgestreift haben. Man wünscht
       sich, dass es so wäre, weil man nicht dauerhaft im Panikmodus sein will.
       Dazu kommt: Die Rechten regieren zwar in vielen Staaten der EU, aber fast
       nirgends alleine. Sie sind Teile von komplizierten Koalitionen. Es ist ein
       Trugschluss, aus ihrem Agieren in Koalitionsregierungen zu schlussfolgern,
       dass sie sich in normal-moderate Kräfte verwandelt haben. Was sie tun
       würden, wenn sie die Mehrheit hätten, wissen wir nicht. Was wir wissen,
       ist, dass sie geschickt vorgehen und ihre Absichten oft kaschieren.
       
       Sind die Rechten wirklich ein homogener, veränderungsresistenter Block? Was
       wäre denn ein Indiz für eine Wandlung? 
       
       Das ist eine gute, ergo schwierige Frage. Ich würde drei Kriterien
       vorschlagen. Erstens: Existiert eine versteckte Agenda? Es gibt über RN in
       Frankreich genug investigative Berichte, die zeigen, dass RN eine
       Doppelstrategie verfolgt und Außenwirkung und Innenleben verschiedene Dinge
       sind. Zweitens: Bauen Rechte das System autoritär um? Meloni versucht genau
       das derzeit in Italien. Und drittens: Teilen sie die Bürger nach ethnischen
       Kategorien in das wahre Volk und andere, die weniger oder gar nicht dazu
       gehören? RN will die Rechte von Franzosen mit doppelter Staatsangehörigkeit
       einschränken. Von dort führt eine Linie zu den Remigrationsideen des
       völkischen Flügels der AfD und dem geheimen Treffen in Potsdam.
       
       Auch die [1][Kampagne der Union 1999 gegen die doppelte Staatsangehörigkeit
       in Deutschland] hat mit Bildern vom wahren Volk gespielt. Zum Konservativen
       gehörten immer völkische Aspekte. Müssen wir das Rechtsextreme nicht
       präziser fassen und abgrenzen? 
       
       Der Front National ist von Nazi-Kollaborateuren mitbegründet worden. Bei
       dem Nachfolger RN sollte man völkisches Denken als zentrales Element sehen.
       Außerdem gehören Verweise auf andere demokratische Staaten oder Parteien zu
       den Tricks, mit denen sich Rechtspopulisten selbst verharmlosen. Ich halte
       mich gerade in Budapest auf, wo man anschauen kann, was Rechtsautoritäre
       aus Demokratien machen. Um Kritik an seinem System zu kontern, verweist
       Viktor Orbán immer darauf, dass es Teile davon ja auch in Demokratien gebe,
       die über jeden Verdacht erhaben sind. Man muss aber immer das Gesamtbild im
       Auge behalten.
       
       Ein zentrales Argument gegen Rechtsautoritäre lautet, dass sie das
       demokratische System zerstören, um faktisch nicht mehr abwählbar zu sein.
       [2][Polen ist aber ein Gegenbeispiel]. Warum war dort möglich, was in
       Ungarn schwerer oder unmöglich ist? 
       
       Die Methoden in Ungarn und Polen waren ähnlich. Man hat versucht, Medien,
       Justiz und Wirtschaft zu kontrollieren und die Zivilgesellschaft
       einzuschüchtern – aber ohne ans Limit zu gehen. In Budapest darf man noch
       demonstrieren oder investigativen Onlinejournalismus machen – solange es
       Orbáns Macht nicht gefährdet. Wenn ein Machtwechsel unmöglich ist, ist es
       keine Demokratie mehr.
       
       Was war in Polen anders? 
       
       Die PiS hatte anders als Orbán keine verfassungsändernde Mehrheit im
       Parlament, deswegen hat es von Anfang an mit dem Systemumbau nicht ganz
       geklappt. Die Opposition hat zudem geschickt agiert, und Donald Tusk ist
       eine starke, wenn auch polarisierende Figur. Man sollte aber nicht glauben,
       dass die Deformationen des Rechtsstaates in Polen einfach wieder reparabel
       sind. Die Lektionen der Wendezeit, runde Tische und Verhandlungen mit der
       Nomenklatura funktionieren in diesen Kontexten nicht. Die Rückverwandlung
       eines autoritären Regimes in ein demokratisches ist eine Herausforderung,
       auf die wir noch keine gute Antwort haben.
       
       Gibt es etwas, das in der Debatte zu kurz kommt? 
       
       Ja, die Eliten. Es ist falsch, wenn wir uns den Sieg der Rechtsextremen als
       Ergebnis einer spontanen, nicht zu stoppenden Bewegung von BürgerInnen
       vorstellen, die mit der Demokratie brechen wollen. Es gibt historisch kaum
       Beispiele dafür, dass Mehrheiten die Demokratie abgeschafft hätten. Die
       Schwarzhemden sind 1923 auf Rom marschiert, [3][Benito Mussolini aber kam
       im Schlafwagen]. Die Faschisten hatten keineswegs die Mehrheit hinter sich.
       Ausschlaggebend war, dass die italienischen Eliten der Ansicht waren, dass
       Mussolini für Ordnung sorgen soll.
       
       [4][Bislang scheint die EU Rechte in Regierungen zu disziplinieren]. Würde
       das mit einer Präsidentin Le Pen so bleiben? 
       
       Ich sehe eine graduelle, komplizierte Anpassung. Die EU beruht darauf, dass
       sich Gerichte gegenseitig vertrauen können. Wenn in vielen Ländern die
       Justiz politisch manipuliert wird, funktioniert das nicht mehr.
       Gleichzeitig wird die EU-Kommission ihrer Rolle als Hüterin der Verträge
       immer weniger gerecht: Es gab in den vergangenen Jahren viel weniger
       Vertragsverletzungsverfahren. Es gibt also schon jetzt eine wenig sichtbare
       Erosion der Standards. Im Maschinenraum läuft es nicht mehr rund. Auf der
       anderen Seite reden die Rechtspopulisten nach dem [5][Brexit] nicht mehr
       vom Ausstieg aus der EU. Denkbar ist also, dass die EU bleibt, aber
       schwächer wird. Wenn es überall heißt „Deutschland zuerst“, „Italien
       zuerst“, „Frankreich zuerst“, wird die Kompromiss- und Konsensmaschine
       stoppen. Das Ende der EU wird, wenn es kommt, nicht mit einem großen Knall
       passieren, sondern als innerer Verfall.
       
       7 Jul 2024
       
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