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       # taz.de -- Lagebericht Letzte Generation: Kritische Phase
       
       > Die Letzte Generation blockiert keine Straßen mehr, den Einzug ins
       > EU-Parlament hat sie verpasst. Wie steht es um die Organisation?
       
   IMG Bild: Lina Johnsen, Spitzenkandidatin für die EU-Wahl hier bei einer Protestaktion der Letzten Generation in Berlin-Kreuzberg am 18. September 2023
       
       Wann ist eine soziale Bewegung erfolgreich? Im Rückblick ist das leicht zu
       beantworten: Wenn sie ihre Ziele, oder zumindest einen Teil davon,
       erreicht. Aber wie weiß eine Bewegung, die noch mitten in ihren Kämpfen
       steckt, ob sie auf dem richtigen Weg ist? Ob sie festhalten soll an ihrer
       Strategie und nur einen langen Atem braucht, oder ob sie ihren Kurs
       korrigieren muss?
       
       Dass diese Fragen schwer zu beantworten sind, lässt sich derzeit an der
       Letzten Generation beobachten. Im Januar gab die Gruppe bekannt, künftig
       auf Straßenblockaden zu verzichten. Seitdem zieht sie deutlich weniger
       Hass, aber auch deutlich weniger Aufmerksamkeit auf sich. Seit Mai
       ermittelt die Staatsanwaltschaft Neuruppin wegen des Verdachts auf Bildung
       einer kriminellen Vereinigung gegen die Letzte Generation, ein
       schwerwiegender Vorwurf, doch die großen Solidaritätsbekundungen bleiben
       aus. Und im Juni verpasste die Gruppe den Einzug ins Europaparlament, sie
       bekam nur 0,3 Prozent der Wählerstimmen.
       
       „Dass Menschen uns nicht gewählt haben, heißt nicht, dass wir unbeliebt
       sind, sondern dass die Menschen noch nicht den Schritt in den Protest
       geschafft haben“, sagt Carla Hinrichs in die Kamera ihres Laptops. Es ist
       der Montagabend nach der EU-Wahl, die Letzte Generation hat ihre Mitglieder
       zu einer Videokonferenz geladen. Zunächst erzählt eine Aktivistin aus
       Regensburg vom dortigen Hochwasser, dann reden die Sprecher:innen Theo
       Schnarr und Carla Hinrichs, zum Schluss Lina Johnsen. Sie war die
       Spitzenkandidatin für die EU-Wahl.
       
       Alle drei lächeln viel, während sie sprechen oder einander zuhören, ihre
       Botschaft ist klar: Es ist zwar schade, dass der Einzug nicht geklappt hat,
       aber eigentlich war der Weg das Ziel und das Ganze trotzdem ein Erfolg.
       Mehr als 250 Menschen nehmen an der Videokonferenz teil. Wie die
       Zugeschalteten darüber denken, erfährt man nicht: Nach einer Stunde ist
       Schluss, eine Möglichkeit für Fragen oder Anmerkungen gibt es nicht.
       
       ## Letzte Generation will eine Massenbewegung werden
       
       Fünf Tage später laufen am Potsdamer Platz in Berlin gut 50 Menschen in
       orangefarbenen Westen, ein Kamerateam und acht Polizist:innen
       durcheinander. Eine wuselige Szene, die sich plötzlich verschiebt: Wie auf
       ein unsichtbares Signal hin gehen die Menschen in den Westen auf die
       Straße. Sie nutzen eine Rotphase der Ampel, um sich vor den fahrenden Autos
       zu positionieren, und laufen los, sehr langsam, sehr still. Die
       „ungehorsame Versammlung“, wie die Letzte Generation diese Aktionsform
       nennt, hat begonnen. Im Schneckentempo laufen die Aktivist:innen bis
       zur Friedrichstraße, die Polizei lässt sie weitgehend gewähren, obwohl die
       Demonstration nicht angemeldet ist.
       
       „Die ungehorsamen Versammlungen sind als Aktionsform zwar weniger
       effizient, aber dafür anschlussfähiger als die Straßenblockaden“, erklärt
       Lina Johnsen beim Gespräch in einem Café in Berlin-Wedding. „Das ist
       wichtig für die Phase, in der wir uns jetzt als Organisation befinden, denn
       jetzt wollen wir eine Massenbewegung werden.“
       
       Dass die Medien nun weniger berichteten, sei nicht schlimm, Aufmerksamkeit
       habe die Gruppe seit ihrer Gründung im Winter 2021/2022 genug bekommen.
       Jetzt gehe es um den Aufbau von Ortsgruppen, die bei der Letzten Generation
       „Widerstandsgruppen“ heißen, um das Organisieren von möglichst vielen
       Menschen.
       
       Ein nachvollziehbares Ziel. Ob die Gruppe dabei erfolgreich sein wird, ist
       ungewiss. Einerseits haben gerade die Straßenblockaden dafür gesorgt, dass
       die Letzte Generation zum wohl unbeliebtesten Teil der Klimabewegung wurde,
       auch aus der Bewegung selbst gab es viel Kritik. Nicht nur an den
       Aktionsformen, auch an der Verfasstheit der Gruppe: Die Letzte Generation
       ist nicht basisdemokratisch, sondern hierarchisch organisiert. Die
       Mitglieder können Feedback zur Strategie geben, aber die Entscheidungen
       werden von einem kleinen Kreis an Aktivist:innen getroffen.
       
       Andererseits gibt es wohl keine Klimaschutzgruppe in Deutschland, die
       offener für neue Mitglieder ist als die Letzte Generation, es gibt weder
       formelle noch informelle Aufnahmehürden. Kein Wunder, dass die Gruppe
       rapide gewachsen ist: War es zur Gründung nur eine Handvoll Aktivist:innen,
       seien es jetzt „zwei- bis dreitausend Menschen in etwa 70
       Widerstandsgruppen“, sagt eine Sprecherin auf taz-Anfrage. Dabei ist es
       nicht ohne, Mitglied der Letzten Generation zu sein, vor allem dann nicht,
       wenn man sich an den Straßenblockaden beteiligt hat.
       
       ## Nur die drastischen Urteile bekommen Aufmerksamkeit
       
       Allein in Berlin finden derzeit [1][fast täglich Gerichtsverhandlungen]
       dazu statt. Manchmal sind es gleich mehrere, so wie an diesem Dienstag im
       Juni. Im Amtsgericht Moabit sitzt unter anderem eine junge Frau auf der
       Anklagebank, die im April 2023 an einer Straßenblockade am Kurfürstendamm
       teilgenommen hatte. Die orangefarbenen Hartplastiksitze der
       Zuschauerreihen in dem holzgetäfelten Gerichtssaal bleiben fast alle leer,
       nur zwei Menschen aus der Prozessbegleitungsgruppe der Letzten Generation
       sind gekommen.
       
       Die Verhandlung endet mit einer Einstellung gegen Geldauflage an eine
       gemeinnützige Organisation. „Eine Klima-Organisation möchte ich hier jetzt
       nicht so gern nehmen“, sagt die Richterin zur Frage, an wen die Spende
       gehen soll, „aber Tierschutz ist in Ordnung, denke ich“. Die meisten
       Verfahren gehen weniger glimpflich aus, meist gibt es Geldstrafen, die die
       Aktivist:innen selbst bezahlen müssen, manchmal auch Haft.
       
       Nur die drastischsten Urteile werden mit Öffentlichkeitsarbeit und medialer
       Aufmerksamkeit begleitet, der Rest spielt sich weitgehend unbemerkt in den
       Gerichtssälen ab. So auch die Verurteilung eines führenden Mitglieds am
       vergangenen Mittwoch zu einer Freiheitsstrafe von [2][einem Jahr und vier
       Monaten ohne Bewährung].
       
       „Wir sind jetzt gerade in einer kritischen Phase“, sagt Lina Johnsen.
       „Natürlich fühlt es sich manchmal wie ein Kampf gegen Windmühlen an.“ Doch
       das bedeute nicht, dass die Gruppe es nicht schaffen könne, die notwendigen
       Veränderungen anzustoßen.
       
       ## Letzte Generation spricht ungern über Fehler
       
       Die Letzte Generation bezieht sich in ihrer Strategie auf den „Movement
       Action Plan“, den der US-amerikanische Aktivist Bill Moyers in den 1980er
       Jahren entwickelte und der acht Phasen beschreibt, die gewaltfreie soziale
       Bewegungen typischerweise durchliefen. Laut Moyers folgt normalerweise ein
       oder zwei Jahre nach dem Start einer Bewegung, der mit großen Hoffnungen
       verknüpft war, eine Phase der Frustration. In dieser gingen die
       Aktivist:innen davon aus, zu scheitern. Doch dem Modell zufolge beginnt
       in dieser Phase des vermeintlichen Scheiterns tatsächlich der Erfolg der
       Bewegung, weil ihre Forderungen von der Mehrheitsgesellschaft übernommen
       würden.
       
       Durch den Bezug auf Moyers Theorie macht die Organisation klar, dass sie
       sich trotz der „kritischen Phase“ weiterhin auf dem richtigen Weg sieht,
       dass alles nach Plan läuft. Diese Gewissheit ist so etwas wie der
       Markenkern der Letzten Generation, das, was sie von anderen Gruppen
       unterscheidet: „Wir haben einen Plan“ stand schon auf den ersten Plakaten
       und Flyern, die die Letzte Generation 2022 verteilte.
       
       Das ist ein Versprechen – eines, das die Letzte Generation attraktiv macht.
       Gerade weil die Klimakrise so überwältigend scheint, sich viele angesichts
       dieser komplexen Katastrophe so plan- und machtlos fühlen.
       
       Aber kann die Letzte Generation ihr Versprechen halten? Die Strategie,
       möglichst störende Mittel wie Straßenblockaden mit möglichst
       mehrheitsfähigen Forderungen wie der nach einem Tempolimit zu verbinden, um
       schnell erste Erfolge nachweisen zu können, ist gescheitert. Man könnte der
       Letzten Generation vorwerfen, dass sie darüber wenig spricht, wie auch über
       andere Fehler, weil das nicht passt in die Erzählung, einen Plan zu haben
       und auf dem richtigen Weg zu sein.
       
       Man kann aber auch sagen: Die Letzte Generation und gerade die wenigen
       Mitglieder, die die Strategie vorgeben, das sind überwiegend junge
       Menschen, die gegen übermächtige Gegner kämpfen. Natürlich machen sie dabei
       Fehler, und auch im Umgang mit Fehlern machen sie Fehler.
       
       ## Nur wenige ziehen Konsequenzen für ihr Leben
       
       Wer Lina Johnsen an diesem Vormittag im Café zuhört, der sitzt vor einer
       26-Jährigen, die sich dazu entschieden hat, wirklich anzuerkennen, was die
       Klimakrise bedeutet und echte Konsequenzen für das eigene Leben daraus zu
       ziehen. Es gibt, gerade in Deutschland, nach wie vor nur wenige Menschen,
       die das tun. Und es gibt viele, die sehr viel mehr Lebenserfahrung haben
       als Johnsen und sich dennoch anders entscheiden.
       
       Dass es mit dem [3][Einzug ins EU-Parlament] nicht geklappt hat, sei
       schade, sagt Johnsen. Man merkt ihr aber auch ein wenig Erleichterung
       darüber an, die nächsten fünf Jahre ihres Lebens nun nicht zu großen Teilen
       in den Parlamentsgebäuden in Brüssel verbringen zu müssen. Nach zwei Jahren
       Vollzeit-Aktivismus möchte sie jetzt ihren Master beginnen, aber weiter
       Aktivistin bei der Letzten Generation bleiben.
       
       Hier, beim Gespräch auf einer schattigen Café-Terrasse, fühlt sich der Juni
       angenehm an. Aber Juni 2024, das sind auch 51 Grad in Neu-Delhi, mehr als
       1.000 tote Pilger:innen auf dem Weg nach Mekka und Tourist:innen, die
       auf griechischen Inseln tot zusammenbrechen. Ganz gleich, was man von den
       Mitteln der Letzten Generation hält: Dass sie ihre Ziele erreicht, kann man
       sich angesichts dieser Realität nur wünschen.
       
       22 Jul 2024
       
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