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       # taz.de -- Umweltjurist über Klima-Urteile: „Gerechtigkeit ist ein logisches Mittel“
       
       > Weltweit wird vor Gericht um Klimaschutz gerungen. Hermann Ott erklärt,
       > warum Klimaklagen zunehmen und wie man Kohlekraft verhindert.
       
   IMG Bild: Um diesen Gletschersee geht es: Der Bauer Saul Luciano Lliuya klagt gegen den Energiekonzern RWE
       
       wochentaz: Herr Ott, bei einem Verkehrsunfall findet man leicht heraus, wer
       Schuld hat. Lässt sich auch die Schuldfrage der Klimakrise juristisch
       klären?
       
       Hermann Ott: Tatsächlich haben Wissenschaft und Technik einhundert Jahre
       gebraucht, bis wir zu exakten Ergebnissen gekommen sind, um die Schuldfrage
       bei Verkehrsunfällen zu klären. Was [1][die Schuld am Klimawandel betrifft,
       war die Wissenschaft schneller] – sie ist ein Ergebnis des Menschen und
       seiner Maschinen. Recht ist ein Mittel, Fehlverhalten in einer Gesellschaft
       zu korrigieren. Grundlage dafür sind die Gesetze. Wir verstehen
       mittlerweile immer besser, wie einzelne Extremereignisse dem Klimawandel
       zuzuordnen sind. Also ist es doch logisch, gegen dieses Fehlverhalten
       juristisch vorzugehen.
       
       Einige Expert:innen halten Klagen für [2][den entscheidenden Motor] des
       klimapolitischen Fortschritts in diesem Jahrzehnt. Gerade in einer Zeit, in
       der die Klimabewegung wenig Aufwind hat, gilt vielen [3][die Klimaklage]
       jetzt als letzter Strohhalm für Veränderung. Ist das berechtigt? 
       
       Ich halte nichts davon, dem Rechtsweg alle Hoffnungen anzuvertrauen. Große
       Demos, [4][ziviler Ungehorsam] und der Klageweg sind allesamt
       Möglichkeiten, Staat und Wirtschaft zu mehr Klimaschutz zu bringen. Motor
       der Veränderung ist jedoch immer die Zivilgesellschaft, von den Bürgerinnen
       und Bürgern muss der Wille zum Wandel kommen. Aber natürlich: Das Schwert
       der Gerechtigkeit ist auch beim Klimawandel ein logisches Mittel, gegen die
       Ungerechtigkeit vorzugehen, dass einige mit der Aufheizung der Atmosphäre
       Milliardengewinne machen.
       
       Ist das immer so einfach zu sagen: Hier hört die Verantwortung der
       Politiker:innen auf, da fängt die Verantwortung der Richter:innen
       an? 
       
       Auch das wird ja vor Gericht mitverhandelt. Es gab ja grundsätzliche
       Urteile, in denen die Politik in die Pflicht genommen wurde. Der
       Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat gerade die
       Schweiz wegen Verletzung der Menschenrechtskonvention zu mehr Klimaschutz
       verdonnert. [5][Geklagt hatte eine Gruppe Schweizer Seniorinnen]. Und
       manchmal sagen die Gerichte auch, das sei nicht ihre Zuständigkeit.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Im Jahr 2021 und 2022 haben [6][mehrere Umweltorganisationen deutsche
       Autobauer verklagt]. Sie argumentierten, dass wegen der Klimakrise nach
       2030 keine Personenkraftwagen mit Verbrennungsmotor mehr verkauft werden
       dürften. Die Gerichte lehnten diese Klagen als „unbegründet“ ab. Nicht weil
       sie das Problem nicht sahen. Sondern weil für derartige Fragestellungen der
       Gesetzgeber verantwortlich ist.
       
       Prozesse sind ein beliebtes Setting für Filme, Artikel und Podcasts – es
       gibt Gegner, Gewinner und Verlierer. Geht es bei den Verfahren eher um die
       öffentliche Aufmerksamkeit als ums Gewinnen an sich? 
       
       Selbst Prozesse, die man verliert, können etwas bewegen. Aber wir gewinnen
       auch! In Polen hat ClientEarth zum Beispiel ein Kohlekraftwerk verhindert.
       Die Organisation hatte Aktien eines Energiekonzerns gekauft, das
       berechtigte uns, an der Hauptversammlung teilzunehmen. Dort haben wir den
       Antrag gestellt, ein geplantes Kohlekraftwerk nicht zu bauen.
       
       Dieser Antrag wurde wie erwartet abgelehnt, weil die große Mehrheit der
       institutionellen Anleger das Projekt wollten. 80 Prozent der unabhängigen
       Kleinanleger waren aber gegen den Bau, und so sind wir gegen das eigene
       Unternehmen vor Gericht gezogen. Unser Argument war der Investorenschutz:
       Wenn dieses Kohlekraftwerk gebaut wird, dann versenkt der Vorstand unser
       Geld. Schließlich belegen alle Studien, dass ein Kohlekraftwerk nicht mehr
       so lange am Netz sein kann, dass sich die Investition amortisiert. Statt
       eines Kohlekraftwerks wurde dann auf Gas umgesattelt.
       
       Gerade wurde die Bundesregierung nach einer Klage der Deutschen Umwelthilfe
       verurteilt, ihr Klimaschutzprogramm zu überarbeiten. Das Gericht sagt, die
       bisherigen Maßnahmen reichen nicht aus. Dagegen ist Klimaschutzminister
       Robert Habeck in Berufung gegangen. Sie waren selbst mal
       Bundestagsabgeordneter für die Grünen, klimapolitischer Sprecher der
       Fraktion: Welches Signal sendet Habeck? 
       
       Ich hätte ihm dringend von einer Revision abgeraten. Dass zuletzt das
       Klimaschutzgesetz abgeschwächt wurde, ist ja auf Betreiben der FDP
       geschehen. Die Sektorenziele wurden gestrichen, das Herzstück des Gesetzes:
       Nach der bisherigen Gesetzeslage musste jeder Bereich – Verkehr, Gebäude,
       Industrie, Landwirtschaft und so weiter – bestimmte Treibhausgasmengen
       reduzieren.
       
       Dafür hatten die Umweltbewegung und auch die Wissenschaft lange gekämpft,
       weil so die Verantwortung innerhalb des Kabinetts nicht mehr zwischen den
       einzelnen Ministerien hin- und hergeschoben werden kann. Ich vermute mal,
       Habecks Strategie hinter der Berufung war, für größere Wählerschichten
       akzeptabel zu sein. Ein Tempolimit war ja durchaus greifbar nahe als
       Maßnahme eines Sofortprogramms im Verkehr.
       
       Das Urteil gegen die Bundesregierung könnte tatsächlich deutsche Politik
       verändern: Die Richter:innen haben einen Fehlbetrag von 200 Millionen
       Tonnen Treibhausgas festgestellt und die Bundesregierung verurteilt, dafür
       neue Gesetze vorzulegen. Können Gerichte doch bessere Politik machen? 
       
       Ein klares Jein! Auf der einen Seite Ja, weil Gerichte einem anderen
       Wertesystem unterliegen. Die juristische Logik unterliegt nicht in
       demselben Maße der Verwertungslogik wie der Rest unseres kapitalistischen
       Systems …
       
       … das müssen Sie erläutern! 
       
       Ein Beispiel ist das Bundesverfassungsgericht, das 2021 quasi mit einem
       kleinen Nebensatz eines der Hauptargumente, das immer aus der ökonomischen
       Ecke kommt, zunichte gemacht hat: Deutschland sei ja „nur“ für 2 Prozent
       der weltweiten Emissionen verantwortlich. Dagegen hatte das
       Bundesverfassungsgericht geurteilt: Völlig egal, wie groß der Beitrag ist,
       die Regierung hat eine Rechtspflicht zur Vorsorge, also zum Klimaschutz.
       Damit hat das Gericht diese jahrzehntelange Diskussion einfach weggewischt.
       Gerichte können eher von ökonomischen Erwägungen absehen als das politische
       Establishment.
       
       Das war jetzt der Ja-Teil vom Jein. 
       
       Die andere Seite sehen wir an der Entwicklung beim Klimaschutzgesetz: Um
       unbeliebte Urteile zu umgehen, schreibt sich die Politik einfach ein neues
       Gesetz. Oder sie ignoriert das Urteil, wie gerade in der Schweiz, wo die
       Regierung angekündigt hat, ein Urteil des europäischen
       Menschenrechtsgerichtshofs nicht anzuerkennen. Die Justiz selbst hat keine
       Machtmittel, um die Umsetzung eines Urteils gegen Regierungen zu erzwingen.
       Gerichte können Entwicklungen beschleunigen, sie können Entwicklung in Gang
       setzen. Aber sie können die politische Ebene nicht ersetzen – und das soll
       in einer Demokratie ja auch so sein.
       
       Es heißt, der Klimawandel sei das Systemversagen des Kapitalismus. Mit den
       Klimaklagen bewegen sich die Akteure aber innerhalb des Systems. Können
       Klimaklagen also das System ändern? 
       
       Das ist die Gretchenfrage! Ich glaube, wir müssen insgesamt radikaler
       werden, also anerkennen, dass innerhalb dieses ökonomischen Systems ohne
       größere Veränderungen kein wirklicher Klimaschutz erfolgen kann. Es ist ja
       nicht damit getan, dass wir alles mit erneuerbaren Energien machen, denn
       der Ressourcenverbrauch, etwa die Vernichtung der Biodiversität, würden
       weitergehen. Wir müssen anerkennen, dass in einem endlichen System kein
       unendliches Wachstum möglich ist.
       
       Wo wir bei den großen Fragen sind: Kann ein Umweltverbrechen ein Verbrechen
       gegen die Menschlichkeit sein? 
       
       Im Völkerstrafrecht wird seit langem der [7][Begriff des Ökozids]
       diskutiert. Beispielsweise haben indigene Gruppen aus Brasilien den
       ehemaligen Präsidenten Bolsonaro vor dem Internationalen Strafgerichtshof
       verklagt, weil er die Abholzung der Regenwälder gefördert hat. Dies sei ein
       Ökozid, in der Wirkung vergleichbar mit kriegerischen Aggressionen. Der
       Internationale Strafgerichtshof ist noch nicht dazu gekommen, sich mit der
       Klage zu befassen. Aber ich meine, auch Regierungschef:innen sollten
       wegen großer Umweltverbrechen strafrechtlich verfolgt werden können.
       
       12 Jul 2024
       
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   DIR [2] https://wedocs.unep.org/bitstream/handle/20.500.11822/43008/global_climate_litigation_report_2023.pdf?sequence=3
   DIR [3] /Klimaklage/!t5939273
   DIR [4] /Ziviler-Ungehorsam-der-Klimabewegung/!5858374
   DIR [5] /Klage-Schweizer-Frauen-erfolgreich/!6000578
   DIR [6] https://www.lexology.com/library/detail.aspx?g=b0c3e29d-b294-4b31-aac1-f5f59e5e6b6d
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