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       # taz.de -- Ausstellung „Die anderen 50er Jahre“: Als alle von nichts wussten
       
       > Eine Flensburger Ausstellung widmet sich den persilweißen 1950er-Jahren
       > und den Abgründen, die zugleich verschwiegen wurden. Die Balance gelingt.
       
   IMG Bild: Irgendwie ein zentraler Ort der 50er: die Küche. Hier ein Exemplar in der Flensburger Ausstellung
       
       Flensburg taz | Das Weiß auf dem Werbeplakat ist kraftvoll. Eine Mutter
       hält ihr Kind auf dem Arm in einer strahlend fleckenlosen Gegenwart.
       Porentief reingewaschen dank Persil. Wir sind auf dem Flensburger
       Museumsberg: „Die anderen 50er-Jahre“ heißt die aktuelle Ausstellung.
       
       Nun steht eine Schau, die in die Welten von Nierentischen und den
       Bravo-Starschnitten von Peter Kraus und Conny Froboess eintaucht, in der
       Gefahr, dass es bald allzu neckisch und verspielt wird. Doch in Flensburg
       gelingt eine bemerkenswerte Balance von nostalgischem Schwelgen und
       nachdenklichem Innehalten.
       
       Was mit daran liegt, dass fortlaufend kurze Störungen durch aufrauend
       Alltagspersönliches eingebaut sind. „Wir haben die Mitglieder unseres
       Kunstvereins gebeten, uns ihre Fotoalben zur Verfügung zu stellen“, erzählt
       Michael Fuhr, Direktor der städtischen Museen. Private Bilder erzählen eben
       mehr als offizielle Fotos, „wo man meist nur Politiker hinter Rednerpulten
       stehen sieht oder Bänder durchschneide“.
       
       Ein passendes, bitteres Beispiel: zwei Familienfotos, auf einem wird ein
       Kind von dessen Tante im Arm gehalten, der Onkel hat fotografiert. Dazu ein
       Hochzeitsfoto aus dem Jahr 1941: „Das große Familiengeheimnis war: Der
       Onkel war schwul, die Tante lesbisch, und sie hatten geheiratet, um der
       Verfolgung durch die Nazis zu entgehen“, erzählt Fuhr. Auch während der
       Nachkriegsjahre wahrte man das Stillschweigen: Der Onkel ging halt mit
       einem Partner auf Geschäftsreise, die Tante hatte eine beste Freundin.
       „Erst nach dem Tod des Onkels wurde das Tabu aufgelöst“, so Fuhr.
       
       Spannend ein Raum, der sich dem Soziotop der Küche jener Jahre widmet: Auf
       der einen Seite die „Schwedenküche“, hell in Pastellfarben, die Fronten
       geschlossen, die Arbeitshöhe genormt für moderne E-Geräte; gegenüber braun
       und drückend der Küchenschrank à la Gelsenkirchener Barock: Gerade viele
       Vertriebene aus den Ostgebieten hätten gewollt, „dass es wieder so aussieht
       wie zu Hause“, so Fuhr.
       
       Und was war nun in [1][Flensburg] ab 1950 anders als in Oldenburg oder
       Bremerhaven? Fuhr nennt zunächst die Gründung des Versandhauses für
       Ehehygiene der [2][Beate Uhse] 1951 in der Wilhelmstraße 1: „Viele Deutsche
       waren schlichtweg nicht aufgeklärt und konnten sich hier diskret und
       einfach Literatur und Verhütungsmittel besorgen.“
       
       Besonders sei auch, dass das Kraftfahrt-Bundesamt im Jahr darauf an der
       Förde seinen Sitz fand: Flensburg verdankt das der Förderung als
       Zonenrandgebiet: „Die Alliierten haben bewusst auf die dezentrale
       Ansiedlung von Bundesbehörden gedrängt, um den Föderalismus zu stärken.“
       
       Von dänischer Seite aus habe es anfangs Überlegungen gegeben, noch einmal
       eine Volksabstimmung zu initiieren, um womöglich neue Grenzen zu ziehen:
       Als „klares Zeichen dagegen“ werten Fuhr und sein Team die Gründung des
       Senders „Studio Flensburg“, mit dem 1951 der Bedarf nach deutschen
       Nachrichten signalisiert worden sei.
       
       Und dann gab es die Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955, die seither die
       Rechte der dänischen Minderheit in Deutschland und der deutschen Minderheit
       in Dänemark sichert. „Diese Erklärung ist ein erstes, gelungenes Beispiel,
       wie man Minderheitenrechte einfordert und umsetzt.“
       
       Und dann wäre da noch die [3][Heyde-Sawade-Affäre], die es 1964 auf den
       Titel des Spiegels schaffte: Werner Heyde war Euthanasie-Obergutachter,
       verantwortlich für den Tod Zehntausender Menschen. Er tauchte in Flensburg
       unter, nannte sich Fritz Sawade – und wirkte als Amtsarzt, bis er in
       Frankfurt am Main angeklagt und vor Gericht gestellt wurde.
       
       „Frankfurt, weil zu Recht davon ausgegangen wurde, dass die Flensburger
       Justiz von Nazis unterwandert war“, so Fuhr. Dazu zeigt man ein schlichtes
       Dokument: Heydes damaligen behördlichen Meldezettel, der beweist, dass man
       genau wusste, wer da in der Stadt lebte. „Hinterher hat übrigens niemand
       etwas davon gewusst“, sagt Fuhr noch.
       
       Schön ist, dass man neben Exponaten der Sparten Möbel und Design auch Kunst
       jener Jahre zeigt. Zu betrachten ist etwa ein gemäßigt modernes Gemälde von
       Gerhard Fritz Hensel. Der Schwager des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß
       war der erfolgreichste Maler Flensburgs, ein Nazi durch und durch,
       Kunstlehrer am örtlichen Gymnasium, der Höß nach dem Krieg geholfen hatte,
       in der [4][Marineschule Mürwick] unterzutauchen.
       
       Doch auch die Generation habe es in Flensburg gegeben, die bewusst anders
       und modern malte, verweist Kuratorin Madeleine Städtler auf die Bilder
       Lilly Kröhnerts, die dem Informel zuneigte: „Während des Krieges war sie
       Kunsterzieherin in Danzig, und hat dort dem jungen [5][Günter Grass] das
       Malen beigebracht.
       
       21 Aug 2024
       
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   DIR Frank Keil
       
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