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       # taz.de -- Die Wahrheit: Abgang eines Kopfballungeheuers
       
       > Ein kleiner Unfall mit großer Wirkung: Gaffer entern einen
       > Menschenauflauf und erfinden ein Schwerverbrechen, das niemals stattfand.
       
       Der Ball flog über den Zaun der Lise-Meitner-Schule: Er klatschte gegen
       Raimunds Schläfe, und Raimund verdrehte die Augen und sank wie ein alter
       Sitzsack auf den Bürgersteig.
       
       „Das Fußballspielen auf dem Schulhof ist verboten – vormittags,
       nachmittags, immer!“, knarzte in Sichtweite der alte Schwarte. Er lehnte
       wie üblich auf einem speckigen Kissen auf seiner Fensterbank und schimpfte
       über alles, was draußen geschah.
       
       „Alter!“, stotterte Theo und kniete neben Raimund nieder. „Ey, das war doch
       nur ’n Fußball!“ Er gab ihm einen Klaps auf die Wange, doch Raimund stöhnte
       nur leise, während ein Junge über den Zaun sprang, sich den Ball grabschte
       und mit seinen Kumpels davonrannte.
       
       „Wir brauchen einen Arzt!“, rief eine junge Frau. Es bildete sich ein
       Menschenauflauf und zwei junge Burschen hielten ihre Handys hoch, um Videos
       zu machen.
       
       „Raimund?“ Theo fasste ihn an den Schultern und schüttelte ihn sacht. „Der
       ist ja richtig bewusstlos!“, rief die junge Frau. „Warum ruft denn niemand
       einen Arzt?!“
       
       Die beiden Burschen, die Videos machten, rangelten auf der Suche nach der
       besseren Perspektive miteinander. Ein weiterer Typ mit Smartphone drängte
       sich nach vorne: Er sprach direkt in die Kamera, doch in seinem
       Livekommentar war schon nicht mehr von einem abgefälschten Fußball, sondern
       von einem Raubüberfall die Rede.
       
       „Wachtmeister, endlich!“, rief der alte Schwarte, der hinter der
       Menschentraube in Vergessenheit zu geraten drohte. Er hatte den dicken
       Hilfspolizisten vom Ordnungsamt entdeckt, der seine Runde machte und
       Parkzettel kontrollierte. „Da sind sie entlang!“, rief Schwarte und zeigte
       in Richtung Goetheplatz. Der Dicke rührte sich nicht. „Sie müssen die
       Verfolgung aufnehmen! Und wenn Sie zu viel Schnitzel mit Pommes auf den
       Rippen haben, rufen sie das SEK!“
       
       Der Typ, der den Raubüberfall erfunden hatte, war näher gekommen. Jetzt
       erfand er auch noch ein paar Nordafrikaner und ein Messer, mit dem sie
       Raimund niedergestochen hätten, doch weil wir ja zum Glück im
       Goetheplatzviertel waren, sprangen zwei junge Punks herbei, die ihm das
       Telefon aus der Hand wanden und ein anarchistisches Kasperletheater vor der
       Kamera entfachten, das in einer furiosen Publikumsbeschimpfung gipfelte.
       
       Raimund kam zu sich. „Alter, ich denk’, du bist das Kopfballungeheuer vom
       Krekelplatz?!“, sagte Theo, denn vor vielen Jahren hatte Raimund sich
       diesen Ehrentitel in einer legendären Freizeitkickerpartie erworben, als er
       trotz einer Kopfverletzung wie weiland Dieter Hoeneß mit einem
       Turbanverband weitergespielt und mit einem Flugkopfball den entscheidenden
       Treffer erzielt hatte.
       
       Doch diese Zeiten waren vorbei, und als wir Raimund erzählten, wieso er zu
       Boden gegangen war, sagte er nur: „Wie peinlich!“, und wir verpissten uns,
       bevor doch noch jemand auf die Idee kam, einen Arzt zu rufen.
       
       24 Jul 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
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