URI: 
       # taz.de -- Gipsy Village auf der Travemünder Woche: Die Sache mit den Stereotypen
       
       > Ist ein Gipsy Village auf der Travemünder Woche problematisch? Sinti- und
       > Roma-Organisationen sind sich uneins über den Umgang mit Stereotypen.
       
   IMG Bild: So, wie man es sich vorstellt: Zelt einer Wahrsagerin auf der Travemünder Woche
       
       Travemünde taz | Bestes Wetter an diesem Mittwochabend auf der Travemünder
       Woche – Sonne und eine typische Brise. Die Menschen schieben sich über die
       Strand- und Hafenpromenade. Viele Essensstände und Zelte mit Kleidung
       säumen den Weg. Es riecht nach Holzkohlegrill. [1][Der Song „Bailando“
       dröhnt] aus den Boxen. Im Hintergrund zieht ein Monster von einer Fähre aus
       Skandinavien Richtung Hafen.
       
       Teil des Programms ist auch ein sogenanntes Gipsy Village, das zusammen mit
       der Strandpromenade wie folgt beworben wird: Neben „südländischer
       Atmosphäre und ganz viel Lebensfreude“ können sich BesucherInnen auf
       „exotische indische Kost“ sowie Musik von Flamenco bis Jazz freuen, und
       „beim Wahrsagen kannst Du einen Blick in die Zukunft werfen“. Der Begriff
       Gipsy, das Wahrsagen als stereotype Zuschreibung sowie die benutzte Sprache
       in der Ankündigung rufen sehr unterschiedliche Reaktionen hervor.
       
       Gipsy ist die englische Bezeichnung für Roma und das in der deutschen
       Sprache diskriminierende Wort Zigeuner. Die in Deutschland als nationale
       Minderheit anerkannten Sinti und Roma werden seit Jahrhunderten unterdrückt
       und ausgegrenzt. Sie wurden durch die Nationalsozialisten systematisch
       entrechtet und verfolgt.
       
       Unter Antiziganismus wird [2][die pauschalisierende Abwertung] als fremd,
       nomadisch, müßiggängerisch, musikalisch und frei, primitiv, archaisch,
       kulturlos oder kriminell und modernisierungsresistent verstanden. Auch die
       Wahrsagerei verbinden viele mit Sinti und Roma.
       
       ## Laubinger findet Begriff unangebracht
       
       Welche Konnotation diese Stereotype und der mittlerweile auch in der
       deutschen Sprache gängige Begriff Gipsy haben und ob sie verwendet werden
       sollen, darüber ist sich die nationale Minderheit der Sinti und Roma in
       Deutschland uneins.
       
       Kelly Laubinger von der Sinti-Union Schleswig Holstein findet den Begriff
       unangebracht: „Wir lehnen die wissenschaftlich erwiesene rassistische
       Fremdbezeichnung in all ihren Variationen entschieden ab.“ Die Community
       leide seit Jahrhunderten unter dieser Bezeichnung, die ihr von der
       Mehrheitsgesellschaft auferlegt worden und in ihrer Sprache noch nicht
       einmal existent sei.
       
       „Die große Mehrheit der Sinti und Roma in Deutschland beansprucht diese
       Fremdbezeichnungen nicht für sich selbst und dennoch entscheiden Betroffene
       am Ende des Tages selbst, wie sie genannt werden möchten“, sagt Laubinger.
       
       Rolf-Ulrich Schlotter vom schleswig holsteinischen Landesverband Deutscher
       Sinti und Roma vertritt eine andere Einschätzung: Sprache sei zwar nicht
       unwichtig. Das Z-Wort verwende der Verband deshalb nicht mehr. „Die
       jüngeren Leute wollen die Fremdzuschreibungen nicht mehr hinnehmen und das
       ist auch gut so“, findet Schlotter.
       
       Seiner Meinung nach ist das eine Generationenfrage. Aber man solle die
       Debatte um den Begriff auch nicht so groß machen. „Wir haben deutlich
       größere Probleme“, sagt Schlotter. Er weist daraufhin, dass das Gipsy
       Village in Travemünde von Menschen aus der Minderheit selbst gewollt sei
       und im Zweifel auch einfach Geld für diese bedeute.
       
       Das bestätigt auch der Pressesprecher der Travemünder Woche, Ralf Abratis.
       Er ist seit 14 Jahren dabei. So lange gebe es auch schon das Gipsy Village
       – ein Anliegen der Familie Rosenberg, die selbst zur Minderheit gehört.
       Aufgrund eines Schreibens, das den Namen des „Dorfes“ kritisiert, hätten
       sich die Organisatoren in diesem Jahr im Vorfeld deutlich intensiver mit
       dem Thema auseinandergesetzt, das aber schon immer sensibel behandelt
       worden sei.
       
       Die Veranstalter hätten mit der Stabstelle Integration der Stadt Lübeck
       sowie dem schleswig-holsteinischen Sozialministerium über den Namen
       gesprochen. Außerdem liegt der taz ein Schreiben an die Stadt Lübeck vor,
       in der die Betreiber des Gipsy Village, unter anderem Mitglieder der
       Familie Rosenberg, bestätigen, dass sie den Namen bewusst beibehalten
       wollen.
       
       Für Stefan Rosenberg und dessen Familie sei der Begriff nicht negativ
       besetzt. Der Begriff stehe „für seine tief empfundene eigene Identität und
       ein einzigartiges Gemeinschaftsgefühl“, er sei „ein Ausdruck des Stolzes
       auf die eigene Kultur und Herkunft“.
       
       ## Nicht nur in Travemünde
       
       Auch andere Veranstaltungen wie die Elbinsel Gipsy Night 2022 im Hamburger
       Stadtteil Wilhelmsburg wurden unter Nutzung des Begriffs angekündigt, mit
       dabei: das Café Royal Salonorchester, ein Ensemble der Sinti-Familie Weiss
       aus Hamburg.
       
       Die [3][Besucher der Travemünder Woche] scheinen sich an dem Begriff
       jedenfalls nicht zu stören. „Die nennen sich doch selber so“, sagt ein
       älterer Herr, der gerade zwei Becher neues Bier an den Tisch gebracht hat,
       an denen sich zwei Paare niedergelassen haben, um gleich der Musik aus dem
       Gipsy-Zelt zuzuhören. Die drei anderen stimmen nickend zu. Am Zelt der
       Wahrsagerei wirbt „Röslein Rosenberg“ sogar mit „Zigeuner Handlesen“. Über
       fehlende Kundschaft kann sie sich nicht beklagen.
       
       Die Flamenco Night fällt an dem Abend leider aus, wie uns kurz später
       mitgeteilt wird, „aber [4][morgen gibt es wieder Jazz]“, beim Gipsy
       Village.
       
       25 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Spotify-Jahresrueckblick/!5816097
   DIR [2] /Sinti--und-Roma-Mahnmal-in-Berlin/!6000317
   DIR [3] https://www.travemuender-woche.com/festival/festival-areal/
   DIR [4] /Jazzmusikerin-ueber-den-Geruch-von-Musik/!5968870
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mika Backhaus
       
       ## TAGS
       
   DIR Verband Deutscher Sinti und Roma
   DIR Sinti
   DIR Sinti und Roma
   DIR Travemünde
   DIR Jahrmarkt
   DIR Stereotype
   DIR Minderheiten
   DIR Social-Auswahl
   DIR Auschwitz
   DIR Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti
   DIR Verband Deutscher Sinti und Roma
   DIR Antiziganismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Sinti und Roma im Holocaust: Der lange ignorierte Völkermord
       
       Am Freitag gedenkt Europa bei einem Festakt in Polen des Völkermords an den
       Sinti und Roma vor 80 Jahren. Ihr Schicksal wurde lange ignoriert.
       
   DIR Antiziganismus im Hotel: Gleiche Regeln für Sinti-Nachnamen
       
       Kelly Laubinger von der Sinti-Union bekam aufgrund ihres Nachnamens kein
       Zimmer in einem Hotel. Der Hotelier muss dafür jetzt Strafe zahlen.
       
   DIR Mahnmal für ermordete Sinti und Roma: Die Aushöhlung des Gedenkens
       
       Unter dem Mahnmal des Porajmos in Berlin ist ein S-Bahn-Tunnel geplant.
       Hinterbliebene fürchten um das Gedenken. Doch Senat und Bahn wiegeln ab.
       
   DIR Prozess um mögliche Diskriminierung: Kein Zimmer frei für Sinti
       
       Kelly Laubinger von der Sinti-Union bucht für einen Autor ein Zimmer. Das
       Hotel storniert – wegen ihres Namens. Jetzt traf man sich vor Gericht.
       
   DIR Antiziganistische Gewalt: „Wo bleibt der Aufschrei?“
       
       In Koblenz wurden die Wahlplakate eines Sinto mit Gewaltfantasien
       beschmiert. In Flensburg zerstörten Unbekannte ein Mahnmal.