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       # taz.de -- Awareness-Team auf dem Hamburger Fanfest: „Wir hören zu“
       
       > Beim Fanfest auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg kommt auch ein
       > Awareness-Team zum Einsatz. Das Konzept hat seinen Ursprung in der linken
       > Szene.
       
   IMG Bild: Mitunter sehr emotional: Public Viewing auf dem Hamburger Heiligengeistfeld, hier am 23. Juni 2024
       
       Hamburg taz | In lilafarbenen Warnwesten stehen sie da. Ihre Blicke
       konzentriert in die Menge gerichtet. Bis sie an einer Gruppe junger
       Menschen, die heftig diskutieren, hängen bleiben: „Da könnte vielleicht
       etwas los sein“, sagt der eine besorgt: „Lass einfach kurz nachschauen“,
       stimmt die andere zu. Die beiden laufen los. Auf die Rückseite ihrer lila
       Westen ist in hell leuchtenden Buchstaben „Awareness“ gedruckt. Sie gehören
       zum Sicherheitskonzept der Uefa-Fanmeile auf dem Hamburger
       Heiligengeistfeld, gleich neben dem Millerntorstadion.
       
       Awareness bedeutet „aufeinander achten“. Das Konzept wurzelt in
       unterschiedlichen Traditionen, etwa der Schwarzen Frauenbewegung oder
       Community-Arbeit. In Deutschland hat es sich zuerst in linken Subkulturen
       verbreitet. Heutzutage ist es auf den meisten Festivals selbstverständlich,
       auch in der Clubszene zunehmend üblich.
       
       Für das [1][Fanfest] hat der Veranstalter, die Hamburger Bergmann-Gruppe,
       die Firma L’Unità damit beauftragt. Die Bremer sind Vorreiter im Bereich
       Sicherheit und Awareness auf Großveranstaltungen. Als erste in Deutschland
       bieten sie Awareness nicht als ehrenamtlichen Verbund, sondern als
       Dienstleistung gegen Bezahlung an und werden dafür von
       Veranstalter:innen gebucht.
       
       Gründer Kai Villbrandt hatte in seiner Tätigkeit als Türsteher die
       Notwendigkeit erkannt, betroffenenorientierte und parteiliche Arbeit beim
       Feiern anzubieten. Mit dem Verband der Bremer Musikspielstätten hat er 2017
       die Kampagne „Gemeinsam sicherer feiern“ ins Leben gerufen und dafür ein
       Awareness-Konzept verfasst. Damit arbeitet L’ Unità bis heute, die
       Mitarbeiter:innen der Firma werden regelmäßig geschult.
       
       ## Aufmerksamkeit für Betroffene
       
       Nilo, lila Weste, Funkgerät, arbeitet seit anderthalb Jahren bei L’ Unità
       und hat schon viele Einsätze gemacht. Nilo sieht eine große
       [2][Notwendigkeit für Awareness bei Großveranstaltungen]. In der
       Vergangenheit habe sich oft gezeigt, dass der Fokus zu stark auf
       Täter:innen liege und Betroffene von sexuellen Belästigungen oder
       anderem übergriffigem Verhalten zu kurz kämen: „Häufig wird die handelnde
       Person des Geländes verwiesen, die betroffene Person fällt jedoch hinten
       runter.“ Es gebe keine Strukturen für sie. „So kann es sein, dass die
       Person, die ja nichts gemacht hat, das Gelände verlässt oder das nächste
       Mal zweimal überlegt, ob sie überhaupt wiederkommen möchte.“
       
       Ziel des Awareness-Konzepts ist es, solche Situationen zu verhindern und
       dafür zu sorgen, dass sich [3][alle wohlfühlen]. Beim Fanfest arbeitet
       L’Unità dafür auch mit Volunteers zusammen.
       
       Das Einsatzteam ist auf dem Feld meist in Zweiergrüppchen unterwegs, die an
       Eingängen und auf dem Feld die Augen offenhalten und Präsenz zeigen. Auch
       der Moderator auf der Bühne verweist in seinen Ansagen auf die Arbeit des
       Teams und bittet darum, dass alle aufeinander achtgeben.
       
       Damit das Awareness-Team erreichbar ist, wurden über 270 gelb-lilafarbene
       Plakate mit QR-Codes aufgehängt. Wird er gescannt, ploppt auf dem
       Handybildschirm eine Nachricht auf: „Wir sind gleich bei dir. Bitte warte
       einen Moment, das Team wurde benachrichtigt und meldet sich sofort bei
       dir.“ Man muss keine App installieren, besitzt man eine ausländische Nummer
       oder ist das Handy auf Englisch eingestellt, wechselt die Sprache. Und die
       eigene Telefonnummer bleibt immer verdeckt.
       
       Es funktioniert: Betroffene haben auf diesem Weg nach Hilfe gefragt und
       wurden über den Standort des QR-Codes vom Team gefunden. „Es kam aber auch
       zu einigen Fehlalarmen, weil Menschen aus Neugierde den Code gescannt
       haben“, sagt Nilo. „Das ist aber nicht schlimm.“
       
       ## Von sexuellen Übergriffen bis zu Panikattacken
       
       Häufig melden sich aber nicht Betroffene selbst, sondern andere
       Institutionen aus dem Sicherheitskonzept wie Security oder Sanitäter:innen,
       die auf dem Gelände etwas beobachtet haben. Das ganze Sicherheitsteam auf
       der [4][Fanmeile] ist mit Funkgeräten verbunden, um einander unterstützen
       und ergänzen zu können. „Damit steht und fällt gute Awareness-Arbeit auf
       Großveranstaltungen, man weiß, dass man sich gegenseitig im Rücken hat“,
       sagt Nilo.
       
       Das Awareness-Team hat ganz unterschiedliche Fälle zu betreuen: Von
       sexuellen Übergriffen bis zu Panikattacken, Überkonsum von Drogen oder
       einfach Redebedarf ist alles dabei. In allen Fällen steht die
       Betroffenenperspektive im Zentrum der Arbeit: „Es ist ganz klar, dass
       nichts stattfindet, was die Betroffenen selbst nicht wollen“, sagt Nilo.
       Niemand werde dazu gedrängt eine Anzeige zu stellen. „Wir arbeiten
       parteilich, hören den Betroffenen zu und stellen ihre Aussagen nicht
       infrage. Dadurch, dass sie entscheiden können, was sie tun wollen und was
       nicht, wird ihnen wieder eine gewisse Handlungsmacht zurückgegeben.“
       
       ## „Safer Space“ im Container
       
       Im „Safer Space“ können Betroffene zur Ruhe kommen und von dem Trubel
       Abstand nehmen. Der Container befindet sich am Rand der Fanzone und ist von
       Absperrzäunen umgeben. Vor dem Eingang stehen Tisch und Bänke. Der
       Innenraum ist nicht gerade groß und dient nebenbei als Einsatzzentrale,
       Treffpunkt und Aufenthaltsraum. Neben einem Sofa stehen Getränke und
       Snacks. An einem Tisch sitzt jemand von L’Unità, der das Awareness-Handy
       bedient. Bevor eine betroffene Person den Container erreicht, wird eine
       Nachricht per Funkgerät übermittelt: Alle müssen raus, um sicherzustellen,
       dass dort eine ruhige Atmosphäre herrscht, in der man nicht noch mehr
       Reizen ausgesetzt ist. Bei Bedarf kann dort über das Geschehene gesprochen
       werden. Auch eine Beratung über mögliche Konsequenzen wie eine Anzeige ist
       möglich.
       
       Gerade Fußballspiele von Nationalmannschaften bieten [5][Nährboden für
       aggressives Verhalten], ganz egal ob Deutschland, Spanien oder die Türkei
       spielt. Deshalb sind Awareness-Konzepte gerade bei einer
       Europameisterschaft von besonderer Bedeutung. Nilo sagt, das Konzept sei
       auch in Fußballstadien zunehmend verbreitet. Seit der Coronapandemie hätten
       immer mehr Vereine begonnen, eigene Awareness-Konzepte umzusetzen:
       QR-Codes, Safe Words, mit denen man sich an die Bar wenden kann, oder
       Telefonnummern.
       
       „Beim Fußball ist das Besondere vor allem die Masse an Menschen, verbunden
       mit einer sehr emotionalen Stimmung, gerade bei beliebten Spielen“, sagt
       Nilo. Wenn Deutschland gespielt habe, sei es vermehrt zu Konflikten auf dem
       Heiligengeistfeld gekommen und das Awareness-Team besonders oft gerufen
       worden. Das liege vor allem daran, dass an diesen Tagen besonders viele
       Menschen da waren, bis zu 50.000 finden auf der Fanmeile Platz. Auch das
       Wetter spiele eine Rolle und beeinflusse das Verhalten: An heißen Tagen
       seien Menschen gestresster. Alkohol fördere aggressives Verhalten.
       
       Am vergangenen Freitag, beim Spiel Deutschland–Spanien, gab es einige
       Panikattacken, vor allem bei jüngeren Menschen. Es war so voll, dass die
       Ampel, die die Besucher:innenzahl regelt, in Dunkelorange leuchtete.
       
       ## Handschuhe, Traubenzucker, Spucktüten
       
       An diesem lauen Sommerabend steht die Ampel auf Grün, beim [6][Halbfinale
       Frankreich gegen Spanien] sind keine Massen auf der Fanmeile. Die Stimmung
       ist trotzdem ausgelassen: Menschen schwirren umher, holen sich Eis oder
       kühle Getränke und verfolgen gespannt das Spiel. In voller Lautstärke
       ertönt die Stimme des Kommentators. Beim Ausgleichstor zum 1:1 bebt das
       Feld dann doch.
       
       Das Awareness-Team ist wie immer im Einsatz. Sie haben Handschuhe,
       Traubenzucker, Desinfektionstüten, Spucktüten und Stressbälle in ihren
       Taschen. Die Schicht ist ruhig, die Aufmerksamkeit trotzdem gefragt. Gerade
       an solch einem schwülen Abend seien Fälle durch zu viel Alkoholkonsum zu
       erwarten, sagt ein Teammitglied. Es wird dunkel. „Zeit, in die Ecken zu
       schauen, ob da jemand sitzt“, sagt eine aus der Schicht, die beiden machen
       sich wieder auf den Weg.
       
       ## Es gibt Luft nach oben
       
       Das Awareness-Team hat im Laufe des Turniers viel positives Feedback
       bekommen. Trotzdem gibt es Luft nach oben: „Natürlich wäre es wünschenswert
       und würde eine Inklusion Betroffener fördern, wenn wir möglichst divers
       aufgestellt wären“, sagt Nilo. „Aber man kann auch nicht Menschen, die in
       der Gesellschaft ständig marginalisiert werden, in diese Aufgabenbereiche
       reindrängen.“ Die Arbeit könne retraumatisierend für Menschen sein, die von
       Diskriminierung betroffen sind.
       
       Trotzdem wären Stellenausschreibungen, die sich explizit an marginalisierte
       Gruppen richten, wichtig – allein, um die Notwendigkeit zu verdeutlichen.
       Und Schulungen zu unterschiedlichen Diskriminierungsformen für das gesamte
       Team seien umso wichtiger. Darum bemühe L’Unità sich schon lange.
       
       Für viele Besuchende ist es auch der allererste Kontakt mit einem solchen
       Konzept. „Es ist immer ein schöner Moment, wenn Menschen, die noch nicht
       wissen, wer wir sind, von den Securitys auf uns verwiesen werden“, sagt
       Nilo. „Die allermeisten sind dankbar und freuen sich zu hören, was unsere
       Arbeit ist.“ Am Sonntag werden sie beim Finale ihren letzten Einsatz bei
       der EM haben, klar ist aber: Awareness-Teams werden auch in Zukunft
       gebraucht werden.
       
       12 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.hamburg-tourism.de/sehen-erleben/veranstaltungen/uefa-euro-2024-fan-zone-hamburg/
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   DIR [5] /Hooligans-in-Gelsenkirchen/!6014580
   DIR [6] /Spaniens-Finaleinzug-bei-der-EM/!6019588
       
       ## AUTOREN
       
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