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       # taz.de -- Abtreibungsrecht in Polen: Tusks Liberalisierung scheitert
       
       > Donald Tusk ist mit der Reform des Abtreibungsrechts nicht durchs
       > Parlament gekommen. Nach der Sommerpause plant Polens Premier einen neuen
       > Vorstoß.
       
   IMG Bild: Polen 2024: Konservative Männer protestieren mit Plakaten im Parlament gegen Frauenrechte
       
       Warschau taz | „Wir sind schwer enttäuscht“, sagt die Abgeordnete Anita
       Kucharska-Diedzic von der Neuen Linken im Sejm, dem polnischen
       Abgeordnetenhaus. Kurz zuvor war das monatelang vorbereitete
       Gesetzesprojekt zur Abmilderung des restriktiven Abtreibungsrechts in Polen
       an vier Stimmen gescheitert. Donald Tusk, der Premier Polens und Chef der
       seit Dezember 2023 regierenden Mitte-Links-Koalition, hatte all seine
       Autorität in die Waage geworfen, um das Gesetz durchzubringen.
       
       Als nach der Abstimmung im Sejm die Anzeigetafel das Ergebnis anzeigte,
       versteinerte sich sein Gesicht schlagartig. Denn für das Gesetz hatten nur
       215 Abgeordnete aus dem Regierungslager gestimmt, gegen das Gesetz hingegen
       218 Abgeordnete – darunter 198 Oppositionelle von der
       nationalpopulistischen Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der rechtsextremen
       Konföderation, aber auch 20 Abgeordnete der konservativen Bauernpartei
       (PSL) aus der Regierungskoalition. Zudem stimmten sieben
       Koalitions-Abgeordnete erst gar nicht mit ab.
       
       Dass die PSL für die schwere Schlappe der Mitte-Links-Regierung von Tusk
       verantwortlich zeichnet, quittiert PSL-Staatssekretär Milosz Motyka mit
       einem Achselzucken: „Die Standing Ovation der PiS-Opposition für das
       Pro-Life-Abstimmungsergebnis im Sejm hat für mich keinerlei Bedeutung. Wir
       von der PSL sind uns treu geblieben und haben ehrlich gegenüber uns selbst
       und unseren Wählern abgestimmt“.
       
       Zwei Tage zuvor hatte bereits Andrzej Duda, der PiS-nahe Staatspräsident
       Polens, sein Veto angekündigt. „Für mich ist das Mord“, kommentierte er auf
       dem Nato-Gipfel in Washington die geplante Liberalisierung des polnischen
       Abtreibungsrechts. Die international schwache Position Polens geht vor
       allem auf sein Konto, da Dudas Blockadehaltung gegenüber fast allen
       Vorhaben der Mitte-Links-Koalition ein nachhaltiges Regieren unmöglich
       macht.
       
       Polens Abtreibungsrecht gehört zu den schärfsten Gesetzgebungen in ganz
       Europa. Polinnen können, sobald sie schwanger sind, nicht mehr über ihren
       Körper entscheiden. Schwangerschaftsabbrüche sind in nur ganz seltenen
       Fällen legal – bei einer Vergewaltigung, bei Inzest und bei Gefahr für
       Leben und Gesundheit der Mutter. Eine weitere Abtreibungsindikation hatte
       Polens Verfassungsgericht auf Antrag von PiS-Abgeordneten 2020 gekippt.
       
       Seitdem müssen Polinnen Schwangerschaften mit schwerst missgebildeten und
       nicht überlebensfähigen Föten austragen. Seitdem [1][sterben allerdings
       auch immer mehr Frauen], da Ärzte und Hebammen Angst vor einer dreijährigen
       Haftstrafe haben, wenn sie eine Risikoschwangerschaft beenden. [2][Statt
       das Leben der Frau zu retten], wie es das Gesetz vorsieht, warten sie
       zunächst auf den Tod des Ungeborenen im Leib der werdenden Mutter.
       
       Nach einigen spektakulären Todesfällen, für die weder Politiker,
       Verfassungsrechtler, noch Ärzte zur Verantwortung gezogen wurden, ziehen es
       heute viele Polinnen vor, ihre Schwangerschaft im Ausland überwachen zu
       lassen, wo sie im Notfall auf Hilfe rechnen können. Ungewollte
       Schwangerschaften werden in Polen heute zumeist pharmakologisch
       unterbrochen oder durch Reisen ins benachbarte Ausland.
       
       In den acht Jahren der PiS-Regierung von 2015 bis 2023 hatten
       hunderttausende Polinnen immer wieder in sogenannten „schwarzen Märschen“
       [3][gegen das restriktive Abtreibungsrecht protestiert]. Umfragen zufolge
       sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung für eine Liberalisierung des
       Abtreibungsrechts aus – und so wurde dies zum [4][wichtigsten
       Wahlversprechen der Neuen Linken] und zu einem der wichtigsten der
       liberalkonservativen Bürgerplattform von Donald Tusk.
       
       Doch als der Koalitionsvertrag unterschrieben wurde, fehlte dort das
       Abtreibungsrecht. Der Dritte Weg, ein Parteienbündnis aus der
       christdemokratischen Partei Polska 2050 und der konservativen Bauernpartei
       PSL, pochte auf das „gute katholische Gewissen“ seiner Politiker in dieser
       „Weltanschauungsfrage“. Die Neue Linke hingegen brachte nach dem Wahlsieg
       der Koalition gleich als erste Gruppierung zwei Gesetzesprojekte zur
       Wiederherstellung der Frauenrechte ein. Im Laufe der nächsten Monate legte
       jede Partei ein anderes Gesetzesprojekt vor.
       
       Abgestimmt wurde am Freitag über das Projekt der Bürgerkoalition, an dem
       die Linken im Sejm-Ausschuss entscheidend mitgearbeitet hatten. Es sah eine
       legale Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche vor und Straffreiheit
       für die HelferInnen, die die Abtreibungspille besorgten, die Reise zu einer
       Klinik im Ausland organisierten oder einfach nur psychischen Beistand
       leisteten.
       
       „Das Abstimmungsergebnis ist frustrierend. Wir waren so kurz vor dem
       Erfolg. Nur vier Stimmen fehlten“, sagt Anita Kucharska-Diedzic von der
       Neuen Linken. „Doch nach der Sommerpause werden wir das Gesetz dem Sejm
       erneut vorlegen. Es geht hier um die Rechte der Frauen und nicht um
       irgendwelche politischen Mini-Interessen der Bauern-Politiker.“ Premier
       Donald Tusk seinerseits kündigte bereits harte Konsequenzen gegen
       Stimmverweigerer aus der eigenen Partei an.
       
       13 Jul 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Lesser
       
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