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       # taz.de -- Jugendtheaterfestival in Madrid: Das Europa, in dem wir leben wollen
       
       > Beim europäischen Jugendtheaterfestival „For/With/By“ in Madrid sind
       > aufschlussreiche neue Theaterarbeiten zum Thema Erinnerungskultur zu
       > sehen.
       
   IMG Bild: Gemeinsam die Geschichte aufzuarbeiten, war der Anspruch des europäischen Jugendtheaterfestivals „For/With/By“ in Madrid
       
       Das Teatro de La Abadía in Madrid ist bis auf den letzten Platz gefüllt.
       Junge Menschen aus Frankreich, Schweden, Großbritannien, aus Griechenland,
       Deutschland, Ukraine und aus Spanien sind hier zusammengekommen. David
       Peralto, der das Festival über die Jugendtheaterstiftung La Joven
       mitorganisiert, betont seine Freude darüber vor jeder Vorstellung: „Mit
       diesem europäischen Festival unterstützen wir das offene, diverse Europa,
       in dem wir leben möchten!“
       
       „For/By/With“ heißt das Festival – und der Name ist Programm. Nicht nur
       für, sondern vor allem von und mit jungen Leuten wird hier Theater gezeigt.
       Zum ersten Mal ist im Festival ein Schwerpunkt über Erinnerungskultur
       integriert, der drei Inszenierungen aus Berlin, Thessaloniki und Madrid
       versammelt.
       
       Das ist wichtig, denn das offene Europa, das der Stiftungspräsident David
       Peralto feiert, wird in den meisten Ländern von rechtsextremen,
       rechtspopulistischen oder postfaschistischen Kräften bekämpft. Deshalb hat
       die deutsche Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ) den
       Erinnerungsschwerpunkt finanziert. Das Mittel gegen Geschichtsfälschung und
       Geschichtsleugnung? „Eine Aufklärung durch Wissensvermittlung – nicht nur
       kognitiv, sondern auch emotional, wie das Theater es kann“, sagt Sonja
       Begalke von der EVZ.
       
       Gerade in Spanien mit seinen geschätzt 4.000 Massengräbern und vermuteten
       100.000 Vermissten aus der Franco-Diktatur, wollen die Postfaschisten die
       Aufarbeitung der Geschichte verhindern und [1][führen dazu einen radikalen
       Kulturkampf.] 
       
       ## Wenn die Postfaschisten regieren
       
       Antonia Blau, Leiterin des Goethe-Instituts in Madrid, das das Projekt
       unterstützt, beschreibt, was sich verändert, [2][wenn die postfaschistische
       Vox-Partei in den regionalen Parlamenten das Kulturreferat] erhält: „In
       Valencia wurden Bücher aus öffentlichen Bibliotheken verbannt, die nicht
       auf Spanisch geschrieben sind, sondern auf Ladino. Es ist nicht leicht in
       Spanien, Orte zu finden, wo Themen der Erinnerungskultur behandelt werden
       können. Es braucht dafür Mut von den spanischen Partnern und finanzielle
       Unabhängigkeit.“ (Anm. d. Red.: Ladino ist die romanische Sprache der
       sephardischen Juden, die Elemente aus dem Hebräischen, Aramäischen,
       Arabischen und Türkischen besitzt.)
       
       Dass das spanische Stück des erfolgreichen Dramatikers Paco Gámez, das aus
       dem Projekt entstanden ist, ganz offen den Spanischen Bürgerkrieg und seine
       Nachwirkungen verhandelt, ist deshalb durchaus riskant. Doch Gámez wählt
       nicht den offensichtlichen Weg, ausschließlich die Rechtsextremisten zu
       kritisieren.
       
       Neben den zahlreicheren Gräueltaten der spanischen, deutschen und
       italienischen Faschisten adressiert er auch die Verbrechen der
       Antifaschisten zu Francos Zeit. Sein Stück mit dem Titel „Lagunas y niebla“
       – ein Wortspiel, das sowohl „Tümpel und Nebel“ also auch „Blackouts und
       Nebel“ bedeuten kann – beruht auf Workshops mit Jugendlichen, die beweisen,
       dass sie sich durchaus mit der Vergangenheit in ihren Familien
       beschäftigen.
       
       Auf der Bühne wird daraus ein hochtouriger, komplexer Abend, der berühren
       kann. Etwa, als zwei Schauspielerinnen Alberto Plas’ Antikriegslied „Bomben
       über Madrid“ singen und dabei auch die Bomben über Kiew und Gaza beklagen.
       Währenddessen wird Pablo Picassos „Guernica“-Massakerbild projiziert, das
       nur wenige Kilometer entfernt im Museum Reina Sofía hängt.
       
       ## Spanischer Kulturkampf
       
       Gerade weil der Abend so unterschiedliche Perspektiven auf den Bürgerkrieg
       wagt, erreicht er eine breite Bevölkerung – und wird selbst von der
       postfaschistischen Partei Vox nicht bekämpft, wie das im spanischen
       Kulturkampf auch in Theatern zuletzt häufiger vorgekommen ist. Vor dem
       Teatro de La Abadía sind die Vox-Anhänger:innen bereits aufmarschiert und
       haben die Absetzung eines Stücks gefordert, das ihnen politisch zu links
       erschien.
       
       Juan Mayorga, bekannter Dramatiker und Intendant des Theaters, ist ruhig
       geblieben, hat sich nicht politisch geäußert – aber das Stück trotzdem drei
       Wochen lang vor ausverkauftem Haus gezeigt. Fragt man ihn, ob er nicht
       befürchte, in absehbarer Zeit die staatlichen Subventionen zu verlieren,
       springt er auf, hebt den kleinen Rucksack neben seinem Schreibtisch in die
       Höhe und sagt: „Ich kann jederzeit gehen.“ Ob er dann nur das Theater
       verlassen würde oder gleich das Land, lässt er offen.
       
       Nach der Aufführung der Berliner Schaubühne am nächsten Abend liegen sich
       junge Menschen vor dem Theater weinend in den Armen. [3][Die Inszenierung
       „Postkarten aus dem Osten“ über die Ukraine] hat sie schwer mitgenommen.
       Raouf, ein Besucher aus Frankreich, sagt: „Während der Show wurde uns
       schlagartig klar: Das könnte auch unser Haus sein, dass hier zerbombt wird.
       Kiew könnte Paris sein. Von einem Tag auf den anderen kann sich das Leben
       schlagartig ändern.“
       
       Die Inszenierung, die in Berlin schon im Januar Premiere feierte, zeigt
       vier Freund:innen bei einem Abendessen in der deutschen Hauptstadt: Zwei
       kommen aus der Ukraine, zwei aus Deutschland. Sie streiten sich über
       Verantwortung im Krieg, über Waffenlieferungen – aber auch über die
       Kollaboration der Ukraine mit Nazideutschland damals. Ein Thema, das Putin
       bekanntlich als Rechtfertigung für seinen Vernichtungsfeldzug
       instrumentalisiert – daher ist es in der Ukraine ein Tabu.
       
       ## Nicht den anderen überlassen
       
       Martín Valdés-Stauber, Dramaturg an der Schaubühne, hatte die Idee für den
       Erinnerungsschwerpunkt, hat alle Akteur:innen zusammengebracht, das
       Projekt künstlerisch geleitet – und das Stück „Postkarten aus dem Osten“
       mitgeschrieben: „Es war klar, dass dieses Thema sehr unangenehm werden
       würde. Wir müssen aber selbst über diese Dinge sprechen, wir dürfen nicht
       warten, bis andere damit Propaganda machen.“
       
       Das dritte Stück des Erinnerungsschwerpunkts, „96 %“ von Prodromos
       Tsinikoris, stellt nicht nur die eine oder andere unangenehme Frage,
       sondern ist von vorne bis hinten unbequem. Es verhandelt den heute noch
       immer starken Antisemitismus in Thessaloniki.
       
       Im Zweiten Weltkrieg haben die Nazis hier fast alle, nämlich 96 Prozent der
       sephardischen Juden, ermordet. Man mag es kaum glauben, was man auf der
       Bühne hört: Schlendert man an der Uferpromenade in Thessaloniki entlang, so
       hat das Team recherchiert, geht man auf jüdischen Toten – denn die
       Promenade wurde aus Schutt, Steinen und Gebeinen des jüdischen Friedhofs
       gebaut.
       
       Noch erschütternder ist, was die griechische Dozentin Tatiana Liani aus
       den Workshops zu dieser Produktion mit Jugendlichen berichtet. Als die
       Teilnehmenden gebeten wurden, frank und frei den Satz zu vervollständigen
       „Ein Jude ist …“, schrieben sie zum Beispiel: Ein Jude ist geizig; ein Jude
       hat Christus getötet; aus Juden soll Seife gemacht werden.
       
       ## Aussschließlich antisemitische Beleidigungen
       
       Die Inszenierung hat nicht nur erreicht, dass diese insgesamt 300
       Jugendlichen aus den Workshops mehr als ausschließlich antisemitische
       Beleidigungen für jüdische Menschen kennen. Sondern auch, dass vor dem
       Theater Thessalonikis, wo ebenfalls Marmorplatten vom jüdischen Friedhof
       verbaut worden sind, eine Gedenktafel darauf hinweist. Es sei, so Liani,
       das erste Mahnmal in der Stadt, das die jüdische Gemeinde nicht selbst
       finanzieren musste.
       
       Auch wenn die drei Inszenierungen mitunter zu didaktisch wirken und
       inhaltlich viel zu viel verhandeln wollen, zeigt dieser
       [4][Erinnerungsschwerpunkt doch eindrücklich, dass sich auch der
       Kulturbetrieb] den unangenehmen Fragen der Geschichte stellen muss – bevor
       Rechtsextremisten allzu vereinfachte, verfälschte Antworten liefern.
       
       Davon jedenfalls ist Valdés-Stauber überzeugt: „Wir müssen von anderen
       zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren in Europa lernen, was es
       heißt, auf eine Gegenseite zu reagieren, die einen Kulturkampf und eine
       Instrumentalisierung der Vergangenheit herbeiführen möchte. Das ist sicher
       eine der wichtigsten Herausforderungen im Umgang mit rechtsextremen Kräften
       wie der AfD.“
       
       17 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Behrendt
       
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