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       # taz.de -- Fragen der Integrität: Mit dem SUV zur Klimakonferenz
       
       > Wie umgehen mit Leuten, die im Privaten nicht ihren Überzeugungen
       > entsprechend leben? Der Ethikrat erinnert an den Wert des eigentlichen
       > Ziels.
       
   IMG Bild: Die SUV-Weltordnung
       
       Kürzlich ging ich abends noch einmal spazieren, als mir der Vorsitzende
       [1][des Ethikrats] mit einem Handkarren entgegenkam. Der Ethikrat, das sind
       drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in
       Fragen praktischer Ethik geben. Auf dem Handkarren lagen müder Löwenzahn
       und Klee. „Guten Abend“, sagte ich. „Haben Sie jetzt Kaninchen?“
       
       „Nein, haben wir nicht, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende nachsichtig.
       „Wir befassen uns mit der Mensch-Pflanze-Beziehung“, fügte er an und wies
       auf ein Schild über dem Laden, vor dem wir standen: „Zum fröhlichen
       Schierling“, stand darauf, und: „philosophische Begegnungen mit der
       Pflanze“.
       
       „Sind Sie ein Blumenladen?“, fragte ich. „Selbstverständlich nicht“, sagte
       der Vorsitzende. „Wir ermöglichen Begegnung von Mensch und Pflanze in einem
       voraussetzungsfreien Raum. Es muss ein Anliegen der gegenwärtigen
       Philosophie sein, [2][die Perspektive des Menschen auf die Schöpfung] neu
       zu justieren.“ – „Oh ja“, sagte ich und sah durch die Schaufensterscheibe
       auf fünf große Vasen mit großblättrigen Zweigen darin. „Die Feige des
       Empedokles, 18 Euro pro Stück“, stand auf einem Aufsteller daneben.
       
       ## Voraussetzungsfreie Begegnung – mit Pflanzen
       
       „Gibt es eine kommerzielle Seite bei dieser Begegnung?“, fragte ich, und
       dann, übergangslos, weil mir der letzte Streit mit meinem Freund einfiel:
       „Kann ich Ihnen noch eine Frage vorlegen?“ – „Natürlich“, sagte der
       Ratsvorsitzende und hob einige Büschel aus dem Karren. „Ob Sie mir beim
       Entladen helfen könnten?“ – „Sicher“, sagte ich und nahm ein Bündel.
       „Kürzlich kam mein Freund von [3][einer Klimakonferenz] zurück, zu dem
       weite Teile entweder per Flugzeug oder SUV angereist waren. Ich finde das
       in hohem Maß unüberzeugend. In der Praxis gebe ich wenig auf die Ideen von
       Leuten, die nicht bereit sind, im Privaten ihren Überzeugungen entsprechend
       zu leben.“
       
       Ich gab dem Ratsvorsitzenden ein weißes Pflanzenbündel, das übel roch. „Das
       ist Schierling“, sagte er wohlwollend, „der Laie erkennt ihn daran, dass er
       riecht wie Mäuse-Urin.“ – „Tatsächlich“, sagte ich. „Und wie sehen Sie nun
       die Frage der Konsequenz oder Integrität, wie immer man es nennen mag?
       Finden Sie nicht, dass man nur glaubwürdig Positionen vertreten kann, die
       man durch sein eigenes Verhalten beglaubigt? Mein Freund sagt, dass das
       lediglich die Strahlkraft der Position erhöht, als sei es nicht mehr als
       ein Parameter in der [4][Waschmittelwerbung].“
       
       „Ihr Freund vertritt den utilitaristischen Zugang der angelsächsischen
       Schule“, sagte der Ratsvorsitzende. „Es geht ihm vor allem darum, dass das
       eigentliche Ziel erreicht wird.“ – „Aha!“, rief ich aufgebracht, weil es
       mich an allzu viele häusliche Debatten erinnerte. „Wollen Sie damit sagen,
       dass es voll in Ordnung ist, wenn man [5][Kurzstrecke fliegt] und
       gleichzeitig beklagt, dass es immer noch nicht verboten ist?“
       
       ## Den Lüsten widerstehen
       
       Ich zog ein Buch aus meiner Tasche, das ich für Begegnungen mit dem
       Ethikrat immer bei mir trug. „Hier“, sagte ich und versuchte, beiläufig zu
       klingen. „Musonius sagt: Wie könnte denn jemand eine ernste sittliche
       Persönlichkeit werden, wenn er nur wüsste, dass man sich von den Lüsten
       nicht hinreißen lassen darf und dabei doch völlig ungeübt wäre, ihnen zu
       widerstehen?“
       
       „Danke, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende, „Musonius ist uns geläufig.
       Wir befassen uns gerade mit seinen Ideen von irrationalen Regungen.“ – „Die
       da wären?“, fragte ich, aber ich hätte es mir denken können: „Zorn,
       Missgunst …“, begann der Ratsvorsitzende. „Ich muss jetzt gehen“, sagte ich
       und drehte mich zur Tür. Dabei stieß ich eine Vase voller Empedokles̕scher
       Feigen um. Noch bin ich keine ernste sittliche Persönlichkeit.
       
       25 Jul 2024
       
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