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       # taz.de -- Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris: Out of the blue
       
       > Nach dem Rückzug von Joe Biden setzen die Demokraten ganz auf Kamala
       > Harris. Und die macht innerhalb weniger Tage eine erstaunliche Wandlung
       > durch.
       
   IMG Bild: Indianapolis, 24.Juli: US-Vizepräsidentin Kamala Harris während einer Rede
       
       Sie hat nicht lange gewartet, um ihren Gegner ins Visier zu nehmen. Joe
       Bidens Rückzug war keine 24 Stunden her, da griff Kamala Harris Donald
       Trump schon frontal an: „Bevor ich Vizepräsidentin wurde, war ich
       Staatsanwältin in Kalifornien. Ich habe Gesetzesbrecher jeglicher Art
       verfolgt. Sexualstraftäter, die Frauen missbrauchen, Betrüger, die
       Konsumenten ausplündern, Leute, die Regeln zu ihrem eigenen Nutzen
       verdrehen. Hört also gut hin, wenn ich sage: Ich kenne Typen wie Donald
       Trump!“
       
       Im Hauptquartier der Präsidentschaftskampagne der Demokratischen Partei in
       Delaware brach Jubel aus – genau so wie 24 Stunden später, als Harris diese
       Sätze vor Anhänger:innen in Milwaukee wiederholte.
       
       Dort, wo noch wenige Tage zuvor die Republikaner ihre Krönungsmesse für
       Trump abgehalten hatten, versprach Harris am Dienstag, sie wolle als
       Präsidentin „den Blick nach vorn“ richten. „Wir werden nicht zurückgehen“,
       rief sie. Nicht zurück in eine dunkle Vergangenheit, in die Trump das Land
       führen wolle.
       
       Sie wolle den Menschen ermöglichen, ihr Leben zu verbessern – auch dank
       bezahlbarer Gesundheitsversorgung für alle. Kinder sollten nicht in Armut
       aufwachsen müssen. Und die Mittelschicht wolle sie stärken, anders als
       Donald Trump und sein Project 2025 mit den geplanten Sozialkürzungen und
       Steuergeschenken für Superreiche. „Wir wollen Sturmgewehre verbieten, sie
       verbieten Bücher“, rief Harris am Donnerstag dann vor einer
       Lehrergewerkschaft in Houston.
       
       ## Welle der Begeisterung
       
       Nach dieser Woche gibt es keine ernsthaften Zweifel mehr, dass Harris die
       neue Kandidatin der Demokraten für die Präsidentschaftswahl am 5. November
       sein wird. Am 7. August soll sie in einer Onlineabstimmung offiziell
       gekürt werden, also noch vor dem Parteitag der Demokraten in Chicago, der
       vom 19. bis 22. August stattfindet.
       
       Eine Welle der Begeisterung und kreativen Energie hat seit Bidens
       Rückzugsankündigung große Teile der demokratischen Wählerschaft erfasst.
       Harris hat sie schlagartig aus einer apathischen Lähmung erlöst.
       
       Die Fronten für die kommenden Wochen zeichnen sich nun ab: die
       Strafverfolgerin gegen den verurteilten Gesetzesbrecher. Die Tochter von
       Einwanderern aus Indien und Jamaika gegen den Verfechter eines weißen,
       evangelikalen, männlich dominierten Amerikas. Die Verteidigerin des Rechts
       von Frauen auf Selbstbestimmung gegen den Mann, der den Supreme Court auf
       rechts gedreht hat. Die fröhlich lachende 59-Jährige gegen den missmutigen
       78-Jährigen. Plötzlich ist Trump der einzige alte Mann im Ring, der gern
       Unsinn redet.
       
       Es läuft jetzt wieder für die Präsidentschaftskampagne der Demokraten.
       George Clooney? Check. Pop-Superstar Beyoncé? Stellt mit „Freedom“ einen
       ihrer Hits als Kamala-Hymne zur Verfügung. Mehrere Gewerkschaftsverbände,
       die über 15 Millionen Beschäftigte vertreten, stützen ihre Kandidatur.
       44.000 schwarze Frauen wählten sich am Sonntagabend in eine
       Telefonkonferenz der Kampagne „Win with Black Women“ ein. Die Kampagne
       „March for our Lives“, die 2018 Hunderttausende für strengere Waffengesetze
       mobilisierte, will für ihre Wahl werben.
       
       Auch die Parteigrößen haben sich im Laufe der Woche nach und nach hinter
       sie gestellt. Am Freitag sprachen sich nach einigem Abwarten dann auch
       [1][Barack und Michelle Obama für die Wahl von Kamala Harris] aus.
       
       78.000 Freiwillige haben sich in nur zwei Tagen verpflichtet, den Wahlkampf
       aktiv zu unterstützen. Die Kasse ist nun prall gefüllt: Innerhalb von 24
       Stunden sammelte Harris die historische Rekordsumme von 81 Millionen Dollar
       ein. Sie sei, so ihre Kampagne auf X, ein „Femininomenon“. Andere sprechen
       vom „Kamalanomenon“.
       
       Es wirkt, als würden hier die erfolgreichsten Elemente der Wahlkämpfe von
       Hillary Clinton und Barack Obama neu verschmolzen: die Betonung, wie
       wichtig die Rolle der Frauen in der Gesellschaft ist, und die
       Aufbruchstimmung – nicht nur unter Schwarzen –, die 2008 Obamas Wahlkampf
       auslöste. Befeuert wird das von dem anhaltenden Ärger über Verbote von
       Schwangerschaftsabbrüchen.
       
       Die Trump-Kampagne scheint von dem Wechsel bei den Demokraten kalt erwischt
       worden zu sein und greift zum Mittel der Verteufelung. Vize-Kandidat J. D.
       Vance nannte Harris „eine Million Mal schlimmer als Biden“, Trump
       beschimpfte sie als „dumm wie ein Stein“ und als „verrückt“. Man spürte die
       Angst im MAGA-Lager, die auch Rassismus zutage treten lässt: Ein
       republikanischer Abgeordneter sagte, Harris sei ein „DEI hire“, also nur
       wegen der Vorschriften für Diversität, Gleichheit und Inklusivität in ihr
       Amt gelangt.
       
       Kamala Harris stiegt unterdessen zum Internetphänomen auf, das vor allem
       junge Menschen erreicht: Die Popmusikerin Charli XCX hatte am Montag
       getwittert „kamala IS brat“ und [2][damit einen Trend losgetreten]. „brat“
       heißt das derzeit erfolgreiche Album von Charli XCX. Sie erläuterte, der
       Begriff „brat“ stehe für ein Mädchen, „das ein wenig chaotisch ist, gerne
       feiert und vielleicht manchmal dumme Sachen sagt“.
       
       Viele junge Wählerinnen werden sich als „brat“ wiedererkennen. Und was auf
       Tiktok trendet, bewegt die Generation Z mehr, als was die New York Times
       kommentiert. Die Charakterisierung passt ja irgendwie auch zu Kamala
       Harris. Sie hat viele Gesichter, sie kann sich von einer fröhlich tanzenden
       Menge anstecken lassen – und hat manchmal Sachen gesagt, die sie später
       lieber zurückgenommen hätte. In dieser Woche hat sie aber klar
       ausgesprochen, worauf es für sie ankommt: Sie will Präsidentin werden, um
       eine Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus und einen gesellschaftlichen
       Backlash zu verhindern.
       
       Man reibt sich ungläubig die Augen, wie sich das öffentliche Bild von
       Harris in wenigen Tagen um 180 Grad gedreht hat – von der blassen und
       unpopulären Vizepräsidentin zur Hoffnungsträgerin. Ihre Beliebtheitswerte
       lagen zuletzt noch hinter denen Bidens, unter 40 Prozent. Die Republikaner
       warfen ihr immer wieder vor, sie sei von Biden beauftragt worden, die
       drängende Frage der Migration anzupacken, und sei daran kläglich
       gescheitert.
       
       In Wirklichkeit sollte sie lediglich mit den zentralamerikanischen Staaten
       ausloten, welche Hilfe die USA geben könnten, um die Menschen jener Länder
       vor der Wanderung nach Norden abzuhalten. Dass sie ihnen im Juli 2021 bei
       einer Pressekonferenz in Guatemala nur den Rat gab: „Kommt nicht. Kommt
       nicht“, hat ihrem Ansehen nicht geholfen.
       
       Und dann waren da noch die groben Fehler ihrer ersten
       Präsidentschaftskampagne. Die begann im Januar 2019 mit einem bejubelten
       Auftritt im kalifornischen Oakland und wurde von ihr im Dezember beendet –
       noch vor den ersten Vorwahlen in Iowa. Als offiziellen Grund nannte Harris,
       dass der Kampagne das Geld ausging. Aber auch die potenziellen
       Wähler:innen hatten sich von ihr abgewandt.
       
       Dazu war ihr Team heillos zerstritten: Kelly Mehlenbacher, eine von Harris’
       engsten Mitstreiterinnen, hatte im November hingeworfen und in einem Brief
       erklärt: „Schweren Herzens erkläre ich meinen Rücktritt … Dies ist meine
       dritte Präsidentschaftskampagne, und ich habe noch keine Organisation
       erlebt, die ihre Belegschaft so schlecht behandelt.“ Die vielfältigen
       Talente im Team würden durch Unentschlossenheit vergeudet, weil es keine
       „Anführer gibt, die anführen wollen“.
       
       Weiter schrieb Mehlenbacher im November 2019, sie glaube immer noch, dass
       Harris die aussichtsreichste Kandidatin für die Wahl im November 2020 sei,
       aber sie habe das Vertrauen in die Kampagne und ihre Führung verloren.
       Damit war unter anderem Kamalas Schwester Maya gemeint, die die Kampagne
       leitete.
       
       Die New York Times analysierte damals, es habe falsche Entscheidungen
       gegeben, auf welche Bundesstaaten und welche Themen man sich konzentrieren
       solle. Und Kamala Harris selbst sei in Streitfragen zwischen dem linken und
       dem moderaten Flügel der Demokraten einen Schlingerkurs gefahren, der am
       Ende alle verärgert habe.
       
       ## Wichtigste Mitarbeiterinnen hörten auf
       
       Die Probleme gingen nach ihrer Vereidigung als Vizepräsidentin im Januar
       2021 weiter. Sie hatte Mühe, ihre Rolle zu finden, ihr Stab machte dafür
       auch Bidens Entourage verantwortlich. Missverständnisse führten zu Frust,
       schlechter Stimmung und bald auch zu Rücktritten. Ihre Stabschefin, ihre
       Pressesprecherin und ihre wichtigste Redenschreiberin blieben nicht mal ein
       Jahr. Inzwischen scheint sich mit dreieinhalb Jahren Erfahrung einiges
       verbessert zu haben.
       
       „Ihr alle werdet entscheiden können, ob wir in einem Land der Freiheit, des
       Mitgefühls und der Herrschaft der Gesetze oder in einem Land der Furcht und
       des Hasses leben“, hatte Harris bei ihrer Rede in Milwaukee am Dienstag
       kämpferisch betont.
       
       Die Energie dieser ersten Tage aufrechtzuerhalten wird eine existenzielle
       Voraussetzung für eine erfolgreiche Kampagne sein. Vielleicht bekommt
       Kamala Harris ja dafür auch noch die Unterstützung einer Frau, die noch
       viel mehr Fans hat als Harris selbst – [3][Taylor Swift].
       
       27 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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