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       # taz.de -- Legalisierung von Homosexualität: Gleichgestellt und doch nicht gleich
       
       > Vor 30 Jahren wurde der „Schwulenparagraf“ 175 abgeschafft. Klaus
       > Schirdewahn war noch von ihm betroffen. Heute setzt er sich für ältere
       > Schwule ein.
       
   IMG Bild: Berlin, 26. Juni 1993: Am Christopher Street Day protestieren Tausende Menschen unter dem Motto „Grenzenlos gegen Ausgrenzung“
       
       Die diesjährige CSD-Saison in Deutschland steht unter einem besonderen
       Zeichen. Seit 30 Jahren wird Homosexualität in Deutschland nicht mehr
       kriminalisiert. Am 11. Juni 1994 wurde unter der Führung der damaligen
       Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) der
       Paragraf 175 endgültig abgeschafft. „Das ist heute ein historischer Tag“,
       erklärte die Ministerin, als das „Symbol der Unmenschlichkeit“ im Bundestag
       mit großer Mehrheit abgeschafft wurde. Eine 123-jährige Geschichte
       juristischer Verfolgung ging damit zu Ende.
       
       Übernommen aus dem Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, trat 1871
       unter der Nummer 175 der Paragraf in Kraft, der „widernatürliche Unzucht“
       zwischen Männern kriminalisierte – und zwar im gesamten Kaiserreich.
       Versuche von linken Politikern oder Wissenschaftlern wie Magnus Hirschfeld,
       das Gesetz zu streichen, scheiterten mehrfach, auch in der Weimarer
       Republik. 1935 wurde das Gesetz von den Nazis verschärft – fast
       hunderttausend Männer wurden wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen
       verurteilt, viele wurden in Konzentrationslagern ermordet.
       
       Anders als in der DDR galt in der Bundesrepublik der Paragraf in seiner
       verschärften Form auch nach dem Krieg weiter. Erst 1969 wurde Sex zwischen
       Männern über 21 Jahren und erst ab 1973 für Männer über 18 Jahren
       straffrei. Die „einfache Homosexualität“ wurde legalisiert, der Paragraf
       175 blieb aber bestehen.
       
       Demnach war Sex zwischen männlichen Erwachsenen und Jugendlichen von 14 bis
       18 Jahren, anders als bei Heterosexuellen, weiterhin verboten. Nach der
       Wiedervereinigung kam es zusätzlich zu einer absurden Situation: Im Osten
       Berlins war eine Beziehung zwischen einem 17-Jährigen und einem 21-Jährigen
       legal, während diese einige Straßen entfernt im Westen verfolgt werden
       konnte. Selbst im Jahr 1994 wurden 44 Männer in Westdeutschland wegen des
       Paragrafen verurteilt.
       
       ## Verhaftet und zur Therapie gezwungen
       
       Klaus Schirdewahn ist einer von mehr als 50.000 Männern, die in der
       Bundesrepublik noch mit der Naziversion des Gesetzes verurteilt wurden.
       1964 kam der damals 17-jährige Lehrling mit einem 21-jährigen Mann auf
       einer öffentlichen Toilette in Ludwigshafen zusammen. Die Polizei, die
       schwule Treffpunkte systematisch überwachte, verhaftete die beiden. Der
       volljährige Sexpartner kam ein Jahr ins Gefängnis. Schirdewahn musste als
       Minderjähriger in eine sogenannte Konversionstherapie.
       
       „Das habe ich dann zwei Jahre lang jede Woche mitgemacht“, erinnert sich
       der 77-Jährige heute. „Ich habe mir eingeredet, es wäre besser, wenn ich
       normal werde. Daran habe ich wirklich geglaubt.“ Mit den Sitzungen durfte
       er erst aufhören, als er sich mit einer Frau verlobte. Kurz nach der Heirat
       merkte er, dass das Gerede von Heilung „völliger Quatsch“ war.
       
       Er versuchte dennoch immer wieder, an seiner Ehe festzuhalten, bekam auch
       eine Tochter. Aber irgendwann wollte er dieses „erzwungene Doppelleben“
       nicht mehr. „Das war auch für meine damalige Frau nicht einfach“, erzählt
       er rückblickend mit bewegter Stimme.
       
       Seit mehr als 40 Jahren lebt der mittlerweile pensionierte technische
       Zeichner in Mannheim gemeinsam mit seinem Lebenspartner. Trotz der großen
       Liebe und der nach und nach steigenden gesellschaftlichen Akzeptanz zeigte
       er seine sexuelle Identität bis vor wenigen Jahren nicht in der
       Öffentlichkeit. Ähnlich wie viele schwule Altersgenossen: „Wir sind von der
       damaligen Zeit mit der staatlichen Repression noch sehr geprägt und neigen
       dazu, uns zu verstecken.“ An einem CSD teilzunehmen oder sogar in ein
       schwules Zentrum zu gehen sei für viele unvorstellbar.
       
       Als 1994 der diskriminierende Paragraf endlich gestrichen wurde, war das
       für Schirdewahn nicht mehr als eine positive Randnotiz – sein diskret
       geführtes Leben ging unverändert weiter.
       
       Mit der damaligen Reform des Sexualstrafrechts kam zunächst auch keine
       Rehabilitierung und Entschädigung für die Betroffenen. Erst 2017, nach
       langjährigem Widerstand aus den Reihen der FDP und der CDU, wurde das
       entsprechende Gesetz verabschiedet. Die Zahl derjenigen, die nach 1945
       verurteilt wurden und noch am Leben waren, wurde auf 5.000 geschätzt. Bis
       heute sind jedoch [1][lediglich 357 Anträge] eingegangen, 264 wurden
       positiv beschieden. Einer davon ist der Antrag von Klaus Schirdewahn.
       
       Einfach war der Prozess nicht. Schwule Organisationen halfen ihm, aber die
       Staatsanwaltschaft habe wegen fehlender Dokumente Schwierigkeiten gemacht.
       Zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes hat er 3.000 Euro bekommen.
       „Damit habe ich für mich und meinen Mann eine Woche Urlaub auf Sylt
       bezahlt, ein richtiges Luxuserlebnis!“. Weitere 1.000 Euro bekam er als
       Entschädigung für die Zwangstherapie.
       
       Heute nimmt der Aktivismus einen wichtigen Platz in seinem Leben ein. Nach
       der Frühpensionierung begann er die Mannheimer Gruppe Gay & Grey zu
       leiten. Die schwulen Senioren reisen zusammen, treffen sich zum
       Kaffeeklatsch oder auch zu Gesprächsrunden, wo ernstere Themen wie Pflege
       oder Bestattung diskutiert werden.
       
       Dafür, dass das Personal in Altersheimen für queere Belange sensibilisiert
       wird, setzt er sich in einer städtischen Arbeitsgruppe ein. „Einige sagen,
       bei ihnen im Heim gebe es überhaupt keine Schwulen – als ob Leute aus der
       Generation das an die große Glocke hängen würden.“ Zudem geht er als
       Zeitzeuge in Schulen. [2][Letztes Jahr sprach er] sogar in der Gedenkstunde
       für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag.
       
       Schirdewahn ist überzeugt, dass man weiterkämpfen muss. Die gesetzlichen
       Errungenschaften waren zwar wichtig, aber die Bildungsarbeit zur sexuellen
       Vielfalt bleibt für ihn zentrale Aufgabe. Leider wird sie immer wieder von
       bestimmten Parteien und religiösen Gruppen abgelehnt, denn Homophobie ist
       auch heute noch präsent.
       
       Dabei sollte man aber auch mit den eigenen Vorurteilen kritisch umgehen.
       Als Beispiel erzählt er von einer Taxifahrt, die er kürzlich auf dem Weg zu
       einem Fernsehinterview in Berlin hatte. Als der Fahrer sich als
       Palästinenser herausstellte, habe er sich gedacht: „Oh Gott, da darf ich
       auf keinen Fall sagen, wozu ich zum Sprechen eingeladen bin.“ Aber als er
       die Angst überwunden gehabt habe, sei es zu einem wunderbaren Gespräch über
       Religion, Politik und Sexualität gekommen. „Danach war ich sehr platt, denn
       ich habe einen tollen Menschen kennengelernt. Man hat einfach diese
       Stereotype im Kopf, die gar nicht stimmen.“
       
       Die Gefahr, dass rechte Kräfte die Gesellschaft spalten und die
       Gesetzeslage für queere Menschen sich wieder verschlechtert, unterschätzt
       er nicht. Deshalb sprach er vor zwei Wochen zum Mannheimer CSD auf der
       Bühne und erinnerte das Publikum an das 30-jährige Jubiläum der Abschaffung
       des Paragrafen 175. Zugleich warnte er vor Versuchen, die LGBT-Community
       auszugrenzen oder gar in Teilen zu verbieten. „Wir sehen das doch in den
       Ländern um uns herum.“ Feiern kann man trotzdem alles, was erreicht wurde.
       Für Schirdewahn mit der Geschichte seiner Emanzipation, die zwar spät, aber
       nicht zu spät kam, stimmt das jedenfalls.
       
       27 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ehemaliges-Verbot-sexueller-Handlungen/!6019648
   DIR [2] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw04-gedenkstunde-rede-klaus-schirdewahn-931388
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yossi Bartal
       
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