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       # taz.de -- Neues Album der Band Kunstkopf: Roulette im Walzwerk
       
       > Kunstkopf nannte sich eine Band ost- und westdeutsche Musiker in den
       > Neunzigern. Nun erschien ihr zweites Album „7 Stücke“.
       
   IMG Bild: Die Band Kunstkopf im Jahr 1995
       
       „Wir waren Nonkonformisten zwischen Underground und experimenteller Musik“,
       erinnert sich Manfred Machlitt. Und Patrick Laschet sagt: „Wir wollten
       zeigen, dass elektroakustische Musik von Stromkreisen kommt, die anders
       geschlossen werden.“ Dirk Specht meint: „New Age war uns ein Gräuel,
       ausgestelltes Virtuosentum spielte keine Rolle.“ Die drei Musiker sprechen
       über das 1995 aus der Taufe gehobene Ost-West-Quartett Kunstkopf. [1][Das
       vierte Bandmitglied war Taymur Streng (1962–2022)].
       
       Ihm ist das kürzlich erschienene, 1998 entstandene zweite Album der Band
       auch gewidmet. Der Komponist und Bibliothekar Streng kam aus der Punkszene
       Ostberlins, deren DDR-Erfahrung Hymnen der Absage generierte. Mitglied der
       Darkwaveband Neun Tage zu sein, mit der Bandplattform Ornament & Verbrechen
       in seinem Mahlsdorfer DIY-Studio aufzunehmen und am Ferienkurs für
       zeitgenössische Musik in Gera teilzunehmen, das schloss sich für Streng
       nicht aus. Manfred Machlitt arbeitete damals an der Akademie der Künste der
       DDR und hatte sich in bewusstem Kontrast früher schon in die Künstlerszene
       Prenzlauer Bergs begeben.
       
       Der westdeutsche Flügel von Kunstkopf war aus Aachen nach Berlin gekommen.
       Patrick Laschet und Dirk Specht hatten noch in Westdeutschland das
       Kassettenlabel Cafardage gegründet und bis 1992 eine Reihe limitierter
       Miniaturtapes mit ausgesuchten Beigaben wie einer Silberfischchen-Köderbox
       oder einem Büchlein, welches bei Nichtgefallen gesprengt werden konnte,
       herausgebracht.
       
       Die neunziger Jahre, eine „Zeit, in der alles pulsierte“, wie sich Machlitt
       erinnert, machten es möglich, dass Laschet und Specht mit ihrer Band
       Vierzig Sekunden ohne Gewicht im Ostberliner Studio für Elektroakustische
       Musik ein Doppelalbum aufnehmen konnten. Gegründet hatte das Studio
       DDR-Komponist Georg Katzer, in dem er 1986 an der Akademie der Künste gegen
       kulturpolitische Engstirnigkeit erfolgreich einen Freiraum erstritten
       hatte.
       
       Machlitt veranstaltete dort die Reihe „Kontakte“, ein Forum für
       elektronische Musik. Specht erinnert sich noch heute daran. Bereits dort
       kam es zu einer Begegnung mit Taymur Streng. Die Musik von Kunstkopf
       bezeugt einen verfremdenden Umgang mit Instrumentarium und Material. An
       einer Stelle klingt sie nach Roulette im Walzwerk; tatsächlich ist es eine
       kleine Stahlkugel, die sich in einer Metallschüssel auf den Saiten eines
       Bechstein-Flügels dreht.
       
       ## Berliner Orte und Räume
       
       Das Klavier war die Werkbank Hanns Eislers. Von dem österreichischen
       Komponisten der DDR-Nationalhymne war das Instrument über den Sänger und
       Spanienkämpfer Ernst Busch in den achtziger Jahren zu Machlitt gewandert.
       In den neunziger Jahren verwendete er es für Aufnahmen in seinem Heimstudio
       in der Jablonskistraße in Berlin-Prenzlauer Berg.
       
       Die Geschichte von Kunstkopf ist auch die Geschichte von Berliner Orten und
       Räumen, die es so nicht mehr gibt. [2][Kunstkopf spielten in provisorischen
       Undergroundclubs und besetzten Häusern] wie der Galerie Mutzek in der
       Invalidenstraße, im Anorak in der Dunckerstraße, im Eimer und im Tacheles
       in Mitte oder in Fabrikräumen in Zwischennutzung wie den Reinbeckhallen.
       Was es auch gab, war der Hauptstadt-Musikwettbewerb Metrobeat, aus dem
       Kunstkopf als prämierte Newcomerband hervorgingen.
       
       Album Nummer zwei ist das stringentere der beiden, meint Specht. An einer
       Stelle wagen Kunstkopf inmitten beherzter Geräuschhaftigkeit einen
       durchgehenden Beat, an anderer einen kantigen Funkrhythmus. Kunstkopf war
       eine Band, die sich gängigen Klassifikationen entzog. „Mittlerweile sind
       die Genregrenzen offen“, sagt Specht. Eine neues Werk aus dem Jahrzehnt der
       unerhörten Möglichkeiten will nachgehört werden.
       
       22 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
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