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       # taz.de -- Überfüllter Knast: Bremen will Jugendliche verlegen
       
       > Die Bremer JVA ist ausgelastet. Nun sollen Ersatzfreiheitsstrafen
       > ausgesetzt und der Jugendstrafvollzug nach Niedersachsen verlegt werden.
       
   IMG Bild: Sieht trist aus und ist dazu noch überfüllt: Die Justizvollzugsanstalt in Bremen
       
       Hamburg taz | Die Bremer Justizvollzugsanstalt (JVA) ist voll. 717 Plätze
       haben das Gefängnis in Bremen und die Außenstelle in Bremerhaven insgesamt.
       Im Juni waren dort aber bis zu 723 Personen inhaftiert, Einzelzellen
       mussten doppelt belegt werden. Grund dafür könnten unter anderem vermehrte
       Haftstrafen im Zuge des sogenannten Encrochat-Verfahrens sein. Um wieder
       Kapazitäten zu schaffen, plant die Justizsenatorin verschiedene Maßnahmen,
       die sowohl bei der Opposition, als auch bei Interessensverbänden und
       ExpertInnen auf Kritik stoßen.
       
       Wie aus einer Antwort der Bremer Justizsenatorin Claudia Schilling (SPD)
       auf eine Anfrage der CDU hervorgeht, soll der Jugendstrafvollzug nach
       Hameln in Niedersachsen verlegt werden. Zudem werden Ersatzfreiheitsstrafen
       vorerst ausgesetzt. Die Sanierung der Hafthäuser sowie ein Containerbau
       sollen 60 zusätzliche Plätze bringen.
       
       Die Idee, [1][den Jugendstrafvollzug nach Hameln zu verlegen], liegt nicht
       zum ersten Mal auf dem Tisch. Pläne dafür gab es bereits 2003. Die dortige
       Jugendvollzugsanstalt ist die einzige geschlossene Einrichtung für
       Jugendliche in Niedersachsen und mit 661 Haftplätzen die größte ihrer Art
       in Deutschland. Seit dem vergangenen Sommer verhandelt die Bremer
       Justizsenatorin mit Niedersachsen über die mögliche Verlegung. Ein Argument
       dafür ist, dass es in Hameln deutlich mehr Angebote für Jugendliche gebe.
       
       Der Bremer Landesverband der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und
       Jugendgerichtshilfen hatte die Idee bereits 2003 kritisiert. Martin Somlev
       vom Verband findet es immer noch falsch, dass Jugendliche weit entfernt von
       ihrem Heimatort untergebracht werden.
       
       Dass die Justizbehörde die geplante Verlegung der Jugendlichen nach Hameln
       mit dem besseren Angebot dort begründet, findet Somlev zwar verständlich.
       Aber „eine wohnortnahe Unterbringung ist aus vielen Gründen wichtig, zum
       Beispiel damit Besuche durch FreundInnen und Familie ohne größeren
       finanziellen und zeitlichen Aufwand möglich sind“, sagt er. Weite Wege
       bedeuteten im Zweifel einen Abbruch sozialer Beziehungen.
       
       Außerdem würde dadurch die jahrzehntelange gut funktionierende
       Zusammenarbeit mit den freien Trägern der Sozial- und Jugendhilfe in Bremen
       erschwert. Nicht zuletzt müssten zur Vorbereitung der Haftentlassung
       Fachleute aus Bremen nach Hameln fahren, um den Prozess der Entlassung zu
       begleiten.
       
       Zwar seien laut Somlev auch Jugendliche aus dem noch weiter entfernten
       Ostfriesland in Hameln inhaftiert, sinnvoll sei eine Verlegung dennoch
       nicht, das Geld, das Bremen für die Unterbringung an Niedersachsen zahlen
       muss, solle besser in den Ausbau des Angebots in Bremen investiert werden.
       
       Christoph Nix, der bis vor kurzem Professor für Jugendstrafrecht an der Uni
       Bremen war, geht in seiner Kritik an den Plänen noch einen Schritt weiter.
       Er bemängelt, dass eine grundsätzliche Reform des Strafvollzugs kein Thema
       mehr sei. [2][Minderjährige weit entfernt vom Wohnort unterzubringen],
       verstoße gegen Artikel 2 und 6 des Grundgesetzes, so Nix. „Die Familie
       steht unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, Jugendliche weit
       entfernt von den Eltern unterzubringen, ist deshalb äußerst fragwürdig“,
       sagt er.
       
       Das Bundesverfassungsgericht habe in einem Urteil deutlich gemacht, „dass
       die Bedingungen in der Haft den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichen
       werden müssen. Der Abbruch sozialer Beziehungen durch eine große Distanz
       zum Wohnort widerspricht dieser Forderung und dem
       Resozialisierungsprinzip“, so Nix.
       
       Die Opposition hingegen kritisiert eine andere geplante Maßnahme: In Bremen
       soll vorerst bis Mitte Oktober niemand inhaftiert werden, der aufgrund
       nicht bezahlter Bußgelder oder Geldstrafen ersatzweise ins Gefängnis
       müsste. Das betrifft beispielsweise Personen, die ihre Strafe wegen Fahrens
       ohne Ticket nicht bezahlen wollen oder können. Den Straftatbestand für das
       Fahren ohne Ticket gibt es seit 1935, eingeführt durch die
       Nationalsozialisten. In Bremen verbüßen derzeit 46 Personen eine solche
       Ersatzfreiheitsstrafe.
       
       [3][Debatten über die grundsätzliche Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe]
       gibt es schon lange, einerseits weil der Erfolg für die Resozialisierung
       fraglich ist, andererseits sind die Kosten für den Staat hoch. Für Marcel
       Schröder von der FDP ist die Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafen in
       Bremen „ein schwerer Schlag für unser Rechtssystem“. Sie schade dem
       Vertrauen der BürgerInnen in den Rechtsstaat und habe „eine gefährliche
       Signalwirkung“.
       
       Die zeitweise Überauslastung der Gefängnisse ist ein bundesweites Phänomen.
       In Schleswig-Holstein etwa wurde die Staatsanwaltschaft bereits im April
       gebeten, [4][Ersatzfreiheitsstrafen wegen hoher Belegungszahlen] im
       geschlossenen Männervollzug für einen Monat auszusetzen.
       
       22 Jul 2024
       
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