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       # taz.de -- Balkonliebe und Sommersehnsucht: 70 Milben und eine Menge Blumen
       
       > Im Sommer verlässt unsere Autorin ihren Balkon fast nie. Hier wuchern die
       > Pflanzen, hier krabbeln die Insekten und die Nachbarschaft wird lebendig.
       
   IMG Bild: Unsere Autorin auf ihrem Balkon
       
       Siebzig Balkone und keine einzige Blume, so beginnt ein Gedicht von
       Baldomero Fernández Moreno, das viele Generationen in Argentinien noch
       auswendig aus der Schule kennen. Schon damals, als Kind, habe ich mich
       gefragt, ob er die Balkone wirklich gezählt hatte.
       
       Wer nachgezählt hat, ist der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland.
       58 Millionen Balkone gebe es im ganzen Land, behauptet er. Und im
       Statistik-Portal Statista kann man nachlesen: „Im Jahr 2022 gab es im
       Großstadtvergleich vor allem in Berlin und Düsseldorf einen hohen Anteil an
       Wohnungen mit Balkon.“ Aber wie viele Balkone gibt es in meinem Viertel?
       Und in der Welt? Hat jemals jemand Balkone mit dem Zeigefinger abgezählt,
       als wären sie Äpfel in einem Baum?
       
       Mein Balkon gehört jedenfalls nicht zu den siebzig Balkonen von Morenos
       Gedicht. Bei mir wachsen Blumen, Kräuter und Unkraut, alles wild und
       durcheinander, ohne meine Einwilligung, doch mit meiner nachträglichen
       Zustimmung. Gerade duftet es bei mir allerdings nicht nach Blumen, sondern
       nach Knoblauch: Eine Freundin sagte mir, der sei ein effektives Hausmittel
       gegen Spinnmilben, und ich habe ein Präparat nach ihrem Rezept eingesetzt.
       
       Die Milben besuchen mich jeden Sommer wieder. Sie machen sich breit, die
       Pflanzen werden krank und ich deshalb melancholisch. Der Oleander, den ich
       seit Jahren pflegte, hat es irgendwann nicht mehr überlebt.
       
       Zusätzlich marschierten eines Tages die Wanzen wie kleine schwarze Panzer
       in den Avocadobaum ein. Ich bin keine Insektenexpertin, „Wanzen“ warf mir
       Google bei meiner Bildersuche als Ergebnis aus. Ich las auf dem Liegestuhl,
       als sie anfingen, über meinen Arm zu krabbeln. Ich hatte sie davor noch nie
       gesehen.
       
       ## Zuschauen, wie es dunkel wird
       
       Ich mag Knoblauch, es stört mich nicht, dass mein Balkon danach riecht.
       Nur: Spinnen und Wanzen scheint der Geruch auch nicht zu behelligen. Und
       dann sind da noch die Tauben, ein Pärchen, das immer Blumentöpfe umwirft
       und Chaos stiftet. Doch nicht einmal die Tiere, für die ich noch keine
       Lösung fand, schaffen es, mir die Freude zu nehmen, [1][die mir mein Balkon
       während der warmen Monate bereitet]!
       
       Seit den ersten sonnigen und wärmeren Tagen wohne ich praktisch auf ihm.
       Ich esse und arbeite auf dem Balkon, ich telefoniere und nehme an
       Onlinemeetings teil. An manchen Abenden sitze ich draußen und versuche den
       Moment zu erwischen, in dem der Himmel von Blau zu Schwarz wechselt, und
       falls ich nachts mal nicht schlafen kann, dann gehe ich ebenfalls raus.
       
       Wenn ich auf meinem Balkon bin, beobachte ich und werde beobachtet: Während
       ich arbeite, frühstücke, ein Buch lese, meine Freundin küsse oder von ihr
       die Haare geschnitten bekomme. Ich höre, wie jemand das Geschirr spült, wie
       jemand anderes beim Sex stöhnt, eine Kaffeemaschine, und das Lied „Take
       this Waltz“ von Leonard Cohen (das kommt von meinem Nachbar von oben, er
       hört nur Cohen).
       
       Ich liebe die Tatsache, dass alle Fenster und Balkontüren geöffnet sind und
       man dank dessen [2][in fremde Leben blicken darf]. So fühle ich mich etwas
       weniger einsam, wenn die Einsamkeit mich überfällt.
       
       Fast schlimmer, als keinen Balkon zu haben, finde ich die Aussage: „Ich
       habe einen Balkon, aber ich nutze ihn nicht.“ Ebenfalls traurig sind
       Balkone, die zur Deponie werden, voller Aschenbecher, Pfandflaschen und
       Gegenstände, die in der Wohnung keinen Platz mehr finden. Doch am
       traurigsten erscheinen mir gerade die Balkone am neuen Luxuswohnhaus bei
       mir gegenüber: Nicht siebzig, nicht einmal sieben, sondern nur fünf sind
       es. Fünf sterile Orte, an denen es keine einzige Blume gibt.
       
       3 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Luciana Ferrando
       
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