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       # taz.de -- Queere Menschen in Litauen: „Wir sind wütend“
       
       > Litauen ist eines der queerfeindlichsten Länder Europas. Doch immer mehr
       > Menschen gehen gerade auf die Straße, um für ihre Rechte zu
       > demonstrieren.
       
   IMG Bild: In dieser Teilnehmendengröße nicht selbstverständlich: die litauische Pride am 8. Juni 2024
       
       Zuerst sieht man die Gegner der Vielfalt. Auf dem Kathedralenplatz im
       Zentrum von Vilnius halten sie Kreuze und Ikonen in den Händen, schwenken
       die litauische Nationalflagge oder Plakate. „Wir beten für eure
       Konversion“, steht drauf, „Schützt die Kinder“ oder „Stoppt die Zerstörung
       Litauens“.
       
       Doch nur ein paar Meter weiter, hinter dem Denkmal für den Großfürsten
       Gediminas, bietet sich an diesem Samstag im Juni ein anderes Bild. Tausende
       sind gekommen, um bei der diesjährigen Pride-Parade für die Sichtbarkeit
       und die Rechte queerer Menschen zu demonstrieren. Unzählige
       Regenbogenfahnen sind zu sehen, die Stimmung ist gut. Mehrere Wagen stehen
       bereit, um durch die Innenstadt zu fahren, sogar der Bürgermeister kommt
       kurz vorbei, um die Teilnehmenden zu begrüßen.
       
       In Litauen ist das keine Selbstverständlichkeit. Der liberale Ruf des
       Baltikums täuscht in diesem Fall, das Land gehört zu den queerfeindlichsten
       in Europa. Anders als in [1][Estland] und [2][Lettland] haben homosexuelle
       Paare hier kein Recht auf Heirat oder eingetragene Lebenspartnerschaft. Ein
       Gesetz, das die Thematisierung von Homosexualität gegenüber Minderjährigen
       verbietet, kam zwar bisher nur selten zum Einsatz, aber im Gesetzbuch steht
       es noch immer.
       
       In Umfragen zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Homosexualität und trans
       Personen belegt Litauen regelmäßig EU-weit einen der letzten Plätze. Im
       Jahr 2023 hielt fast die Hälfte der Bevölkerung Homosexualität für eine
       „unsittliche Ideologie“, nur 22 Prozent sprachen sich für LGBTQ-Rechte aus.
       Gerade mal ein Viertel der Bürger*innen gibt an, dass sie ihr Kind
       unterstützen würden, wenn sie erfahren würden, dass es trans ist.
       
       Und doch hat sich in den letzten Jahren etwas getan: Die erste Pride in
       Vilnius im Jahr 2010 musste noch vor Gericht erkämpft werden, die
       Stadtverwaltung wollte sie verbieten. Etwa 350 Personen versammelten sich
       damals in einem abgesperrten Areal abseits des Zentrums, ihnen standen
       mehrere Tausend Gegendemonstrant*innen gegenüber.
       
       Vierzehn Jahre später sind es 17.000 queere Menschen und Allys, die vorbei
       an der Stanislaus-Kathedrale und dem Parlamentsgebäude mitten durch die
       Innenstadt ziehen. Die Gegenproteste von weniger als hundert Personen gehen
       unter in diesem Meer an Regenbogenfahnen. Die Parade endet im Vingispark,
       wo bis spät abends Dragqueens und litauische Popstars auftreten. Vor der
       Bühne wird ausgelassen getanzt, weiter hinten sitzen Gruppen beisammen und
       picknicken, Kinder und Hunde rennen über die Wiese. An diesem Tag könnte
       man glatt vergessen, dass für queere Menschen in Litauen Diskriminierung
       und Anfeindungen noch immer zum Alltag gehören.
       
       ## Ein einsamer Kämpfer im Parlament
       
       Einer, der seit Jahren dafür kämpft, dass sich die queere Community nicht
       nur einmal im Jahr sicher in der Öffentlichkeit fühlen kann, ist Tomas
       Vytautas Raskevičius. Der einzig offen schwule Abgeordnete im litauischen
       Parlament tanzt während der Pride-Parade mit ausladenden Engelsflügeln in
       Regenbogenfarben auf dem Wagen seiner Partei.
       
       Ein Kontrast zur Atmosphäre im Parlamentsgebäude, wo einem auf den Gängen
       vor allem gesetztere Herren in dunklen Anzügen begegnen. Die Engelsflügel
       trägt Raskevičius hier zwar nicht, aber ein wenig Regenbogendeko darf in
       seinem Abgeordnetenbüro nicht fehlen. Dass in diesem Jahr so viele Menschen
       an der Pride teilgenommen haben, findet der 35-Jährige „absolut großartig“.
       Die große öffentliche Sichtbarkeit queerer Menschen und ihrer
       Unterstützer*innen sei „eine sehr, sehr starke politische Botschaft“.
       
       Bevor Raskevičius in die Politik ging, war er Aktivist und stand als Anwalt
       Mitgliedern der LGBTQ-Community vor Gericht zur Seite. Das sei erfüllend
       gewesen, sagt Raskevičius. „Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich zwar
       Einzelnen helfen kann, aber dann steht am nächsten Tag eine andere Person
       mit genau denselben Problemen in meinem Büro. Und dann dachte ich, okay,
       das löst nicht wirklich die Wurzel des Problems.“
       
       Er nahm sich vor, LGBTQ-Rechte auf die politische Agenda zu setzen. Im Jahr
       2020 wurde er für die liberale Freiheitspartei ins Parlament gewählt und
       trat mit dem Versprechen an, dass bald ein Gesetz zur zivilen
       Lebenspartnerschaft verabschiedet würde. Doch obwohl seine Partei zur
       Regierungskoalition gehört, ist das bis heute nicht geschehen. „Wir hatten
       zwar diese sehr progressive Regierung gebildet, aber dann sind all die
       schlimmen Dinge passiert: Covid, die Instrumentalisierung von Migration,
       der Krieg in der Ukraine. Es gab eine sehr große Mobilisierung der
       konservativen Elemente in der Gesellschaft und alles lief schief“, blickt
       Raskevičius zurück.
       
       ## Wahlkampf mit dem Schlagwort der „traditionellen Familie“
       
       Im Mai 2021 gingen mehr als 10.000 Leute in einem „Familienmarsch“ gegen
       das geplante Gesetz auf die Straße. In einer Online-Petition wurde
       gefordert, Raskevičius aufgrund seiner Homosexualität den Vorsitz im
       Menschenrechtsausschuss des Parlaments zu entziehen.
       
       Seitdem haben sich die Wogen zwar wieder etwas geglättet, aber es gibt
       weiterhin nur wenige Politiker*innen, die sich offen für LGBTQ-Rechte
       einsetzen. Was die Verabschiedung des Partnerschaftsgesetzes angeht, ist
       Raskevičius trotzdem optimistisch. Schon zweimal hat das Parlament dem
       Gesetzesentwurf zugestimmt, es fehlt nur noch die dritte Abstimmung. Doch
       falls der Präsident ein Veto einlegen sollte, muss ein viertes Mal
       abgestimmt werden – und im Herbst stehen schon die nächsten Wahlen an. Dass
       das Parlament anschließend queerfreundlicher sein wird, ist
       unwahrscheinlich.
       
       In Litauen ist zwar kein so deutlicher Rechtsruck spürbar wie etwa in
       Deutschland, doch LGBTQ-Themen haben in den letzten Jahren eine starke
       Politisierung erfahren. Im Europawahlkampf warben mehrere Parteien mit dem
       Schlagwort der „traditionellen Familie“ um Stimmen, Homosexualität wurde
       als Bedrohung für Familie, Tradition und Nation dargestellt. Der für seine
       extreme Queerfeindlichkeit berüchtigte Politiker Petras Gražulis stürmte
       bei der ersten Pride die Absperrungen und musste von der Polizei
       weggetragen werden. Nun wurde er als einer von elf litauischen Abgeordneten
       ins EU-Parlament gewählt.
       
       ## Der Katholizismus in Litauen ist aggressiv
       
       „Die Opposition muss etwas finden, worauf sie sich einigen kann, und das
       ist Homophobie. Das stärkt sie leider, denn mit homophober Propaganda kann
       man immer noch Stimmen gewinnen, vor allem im weniger gebildeten Teil der
       Gesellschaft“, meint Monika Antanaitytė von der Lithuanian Gay League
       (LGL), der einzigen NGO in Litauen, die sich ausschließlich für die Rechte
       queerer Menschen einsetzt – und innerhalb der Community wegen ihrer
       Monopolstellung umstritten ist. „Leider sind unsere Gegner viel weniger
       gespalten als wir. Sie konsolidieren sich immer mehr und sammeln
       Ressourcen“, so Antanaitytė. In queerfeindlichen Medien wie Respublika und
       auf Social Media wird Stimmung gegen queere Menschen gemacht.
       
       Warum gerade in Litauen Queerfeindlichkeit so weit verbreitet ist, dafür
       gibt es verschiedene Gründe. Zum einen wirken homofeindliche Narrative aus
       der Zeit der sowjetischen Okkupation noch heute nach. Zum anderen ist die
       katholische Kirche sehr stark. Der Katholizismus nimmt im ohnehin eher
       konservativen Litauen „eine sehr aggressive Form an“, erläutert
       Antanaitytė. „Die Kirche genießt viele Privilegien.“
       
       Das hat auch damit zu tun, dass die Kirche ähnlich wie in Polen als
       wichtiger Akteur der Befreiung von der sowjetischen Herrschaft gesehen
       wird. Laut Tomas Raskevičius kommt noch etwas hinzu: „Ich denke, der
       Hauptgrund ist, dass im Laufe der Geschichte, und ich meine nicht nur in
       der sowjetischen Geschichte, sondern auch in der mittleren Neuzeit oder im
       Mittelalter, das Überleben unserer Nation, wenn man so will, auf einer
       geschlossenen Gemeinschaft beruhte.“ So habe sich Litauen zu Sowjetzeiten
       stärker gegen die Ansiedlung von Russ*innen gewehrt als Estland und
       Lettland. Das Thema LGBTQ werde nun „als Öffnung für Unterschiede und
       Individualität wahrgenommen“ und damit als Gefahr für die geschlossene
       Gemeinschaft.
       
       Homosexualität und queere Identitäten werden in rechten Narrativen oft als
       Bedrohung der Nation von außen dargestellt, als eine bewusste feindliche
       Beeinflussung mit dem Ziel, das Kollektiv zu schwächen. In der russischen
       Propaganda wird seit Jahren die Behauptung, LGBTQ sei eine westliche
       Ideologie und Bedrohung der „traditionellen Werte“, breitgetreten – und von
       Rechten in anderen Ländern aufgegriffen, auch in Litauen.
       
       Zugleich ist die überwältigende Mehrheit der Litauer*innen proeuropäisch
       eingestellt. Russland wird als ehemalige Kolonialmacht und aktuelle
       Bedrohung gesehen, die Litauer*innen haben Angst vor einem Einmarsch wie
       in der Ukraine. Queerfeindlichkeit in Litauen hat entsprechend zwar oft
       ähnliche Inhalte [3][wie die russische Propaganda] – ist aber gleichzeitig
       antirussisch. Auf einem Plakat von Protestierenden gegen die Pride-Parade
       in Vilnius steht folgende Parole: „Zerstört nicht Litauen, [4][wie Putin es
       will].“
       
       ## Manche Aktivist*innen fordern politischere Prides
       
       Die Lithuanian Gay League, die die diesjährige Pride organisiert hat, will
       einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens schaffen, um der
       Queerfeindlichkeit im Land zu begegnen. Für die Parade wählte die
       Organisation deshalb mit „Choose Love“ einen positiven Slogan, der
       möglichst wenig Anstoß erregen und Unterstützer*innen nicht mit
       Radikalität verschrecken sollte. „Die Botschaft mag positiv sein, aber ich
       denke, sie passt eher zu einer Feier am Valentinstag oder einer Einladung
       in die Kirche“, schrieb die Genderforscherin Rasa Navickaitė in einem
       kritischen Text auf Facebook.
       
       In ihren Augen ist das Motto zu offen gewählt, denn „schließlich denken die
       Gruppen, die vor der Kathedrale mit ‚Sodom und Gomorrha‘-Plakaten
       protestieren, wahrscheinlich auch, dass sie ‚Liebe wählen‘.“ Navickaitės
       Post wird in den Tagen nach der Pride häufig geteilt.
       
       Viele in der Community hätten sich ein politischeres Motto und konkrete
       Forderungen gewünscht, wie in den letzten Jahren, als linke Gruppen
       nichtkommerzielle Pride-Paraden in Vilnius organisierten. „Ich glaube, man
       kann etwas ändern, indem man ein bisschen radikaler ist, die Regierung ein
       bisschen mehr unter Druck setzt. Wenn wir ein paar spezifische Forderungen
       stellen, dann werden natürlich viele Homophobe und Transphobe sagen: Oh,
       was soll das denn? So entsteht ein Gespräch. Auch wenn es kein sehr
       positives Gespräch ist, erfahren zumindest mehr Leute davon“, sagt der
       Künstler und trans Aktivist Saša Kochan, der zu den Organisator*innen
       der politischeren Prides gehörte.
       
       Am Abend der diesjährigen Pride findet südlich des Zentrums in einem Keller
       eine Party statt, die den Stimmen Raum gibt, die zwischen den professionell
       gestalteten, mit Werbebotschaften großer Firmen bedruckten Wagen und den
       Konzertauftritten bekannter Stars nicht zu Wort kamen. In zwei Räumen läuft
       Techno, in einem langen Gang dazwischen sind Plakate mit politischen
       Forderungen angebracht, auf einem Banner steht „Assimiliation is not
       Liberation“. Beim Open Mic können sich alle, die wollen, zu Wort melden.
       Einige erzählen ihre Coming-out-Geschichten oder tragen erotische Gedichte
       vor. Andere fordern eine politische Pride oder erklären ihre Solidarität
       mit Palästina. „Wir sind nicht nur fröhlich, wir sind wütend“, bringt eine
       Person es auf den Punkt.
       
       Jedes Jahr findet die Party hier statt, die Einnahmen gehen an queere
       Graswurzelinitiativen. Die Aktivistin Viktorija Kolbešnikova gehört zu den
       Mitinitiator*innen. Los ging es 2016 zur Baltic Pride. Auf dem Frontbanner
       stand damals der Slogan „We are People, not Propaganda“ – eine Reaktion auf
       die queerfeindliche Behauptung, bei der Sichtbarkeit queerer Identitäten
       handele es sich um Propaganda, die einen schädlichen Einfluss auf die
       Gesellschaft habe.
       
       Kolbešnikova und anderen gefiel das nicht: „Wir dachten: Was soll der
       Scheiß? Warum sollen wir uns immer entschuldigen, immer erklären, dass wir
       auch Menschen sind? Wir mochten diesen rechtfertigenden Ton nicht.“ Für den
       Titel der nichtkommerziellen Partyreihe beschloss man also kurzerhand, sich
       den Begriff „Propaganda“ anzueignen und ein eigenes, radikaleres
       Verständnis von Pride zu feiern: „We are propaganda.“
       
       ## Für trans Menschen ist es noch mal schwerer
       
       Eine der Initiativen, die die Partyreihe mit ihren Einnahmen unterstützt,
       ist „Trans Autonomija“, bei der sich Saša Kochan engagiert. Das Projekt
       entstand 2021 aus einer Gruppe linker Aktivist*innen, die bereits einige
       queere Veranstaltungen in Vilnius auf die Beine gestellt hatten. Trans
       Autonomija setzt sich für die Rechte von trans Personen ein und dient
       gleichzeitig als Plattform für die gegenseitige Unterstützung und die
       Vernetzung der Community.
       
       „Wir haben immer noch keine offiziellen Gesetze zu Trans-Rechten. Nur ein
       paar Papiere vom Ministerium, die keine wirklichen Gesetze sind und
       jederzeit wieder aufgehoben werden können“, sagt Saša. Um seine Dokumente
       ändern zu lassen, muss man vor Gericht gehen, und für medizinische
       Transitionen gibt es keine klaren Regelungen. Um eine Hormontherapie zu
       beginnen, ist die Diagnose eines Psychiaters erforderlich – und man muss
       oft viel selbst bezahlen. Dass die Community zusammenhält und sich mit
       Infos versorgt, zum Beispiel darüber, welche Ärzt*innen vertrauenswürdig
       sind, ist deshalb besonders wichtig.
       
       Trans Personen haben in Litauen nicht nur mit fehlender rechtlicher
       Anerkennung, sondern auch mit Vorurteilen, Unwissen und Hass zu kämpfen.
       Kochan erzählt von seinen Erfahrungen in der Öffentlichkeit: „Ich bemerke
       immer, wie die Leute mich anschauen, besonders außerhalb des Stadtzentrums.
       Sie fragen sich: Wer ist denn das? Normalerweise trage ich Kopfhörer, aber
       wenn nicht, dann höre ich sie über mich reden.“
       
       ## Keine Frage, die nur die liberale Elite in Vilnius betrifft
       
       In der Hauptstadt könne man sich als Person, die nicht genderkonform
       aussieht, noch relativ sicher fühlen, außerhalb wird es schwieriger. In den
       ländlichen Regionen trifft sich die trans Community vor allem online. Einer
       der wenigen Safe Spaces außerhalb von Vilnius ist das Emma Social Center in
       Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, die um einiges konservativer ist
       als die Hauptstadt.
       
       Das selbst organisierte Zentrum in Kaunas, das nach der hier geborenen
       Anarchistin Emma Goldman benannt ist, eröffnete im Jahr 2016 im ersten
       Stock eines blauen Holzhauses nicht weit entfernt von der zentralen
       Fußgängerzone. Es gibt hier eine Bibliothek, eine Küche und ausreichend
       Platz für Veranstaltungen wie Diskussionsrunden, Filmvorführungen oder
       Partys.
       
       In Kaunas gibt es keine queeren Bars oder Clubs, hier ist einer der wenigen
       Orte, wo sich die Community treffen kann, erzählt Viktorija Kolbešnikova,
       die auch im Emma Social Center aktiv ist. Doch das Zentrum ist ein
       bedrohter Safe Space. Kolbešnikova deutet auf die Regenbogenflagge in einem
       der Fenster: „Als wir sie aufgehängt haben, flog ein Stein durch das
       Fenster.“ Es war nicht der einzige Angriff. Es gab mehrere Attacken mit
       Schmierereien und Ähnlichem, aber auch eine selbstgebastelte Bombe, die in
       den Hof geworfen wurde. Verletzt wurde zum Glück niemand, aber die
       Botschaft ist klar.
       
       Die Angreifer sind Neonazis, Kolbešnikova verfolgt ihre Aktivitäten online:
       „Es ist offensichtlich, dass das Hauptproblem, das sie mit diesem Ort
       haben, queere Themen sind. Es kommen ganz verschiedene Gruppen hierher,
       aber die LGBT-Frage ist die heißeste für sie, nicht die Bücher von Karl
       Marx in der Bibliothek.“
       
       Obwohl in Kaunas die Lage für queere Personen sehr viel angespannter ist
       als in Vilnius, hat Kolbešnikova zusammen mit Gleichgesinnten 2021 eine
       Pride-Parade in Kaunas organisiert – die erste und bisher einzige in der
       Stadt. Ähnlich wie früher in Vilnius versuchte die Stadtverwaltung, die
       Veranstaltung zu verbieten.
       
       Der Gegenprotest war stark, die Polizei musste mit Gewalt gegen
       queerfeindliche Protestierende vorgehen, die die Paradenroute blockierten.
       Trotz der Angriffe habe die Pride in Kaunas ein wichtiges Zeichen gesetzt,
       meint Kolbešnikova. „Unser Slogan war ‚Wir sind überall‘, wir hatten die
       Botschaft, dass LGBTQ-Personen überall leben. Es ist keine Frage, die nur
       die liberale Elite in Vilnius betrifft.“
       
       ## Politische Maßnahmen für finanzielle Sicherheit und Bildung sind nötig
       
       Doch in Dörfern und kleinen Städten gibt es in der Regel keine
       Community-Strukturen, keine Safe Spaces und die meisten LGBTQ-Personen
       haben Angst, sich zu outen, weil sie mit Ablehnung in der Familie, im
       Freundeskreis und am Arbeitsplatz rechnen. Was die Zukunft angeht, ist
       Viktorija Kolbešnikova deshalb nicht sehr zuversichtlich. Das
       Partnerschaftsgesetz werde sicher in den nächsten ein, zwei Jahren
       verabschiedet. „Aber ich weiß nicht, ob das eine große Veränderung
       bedeutet. Denn wenn Leute in Vilnius öffentlich heiraten können, heißt das
       nicht, dass Leute in Rokiškis sich das auch trauen.“
       
       Der Abgeordnete Tomas Vytautas Raskevičius ist da optimistischer. „Solange
       uns Russland nicht angreift, wird alles gut“, meint er. Veränderungen
       brauchten Zeit, aber sein Job sei es, dafür zu sorgen, dass sie so schnell
       wie möglich geschehen.
       
       „Die Menschen müssen sich in ihrem täglichen Leben gut fühlen, damit sich
       ihre Wut nicht auf andere richtet“, meint Kolbešnikova. Dafür seien
       politische Maßnahmen nötig, die für finanzielle Sicherheit und Bildung
       sorgten.
       
       Rasa Navickaitė schrieb in ihrem kritischen Post zur Pride-Parade in
       Vilnius: „Wir haben noch einen langen, langen Weg vor uns, mit Sicherheit
       länger als von der Kathedrale bis zum Vingispark.“
       
       Dieser Text ist entstanden im Rahmen von „[5][Perspectives]“, einem
       Programm für unabhängigen, transeuropäischen Journalismus, kofinanziert von
       der EU, koordiniert vom Goethe-Institut.
       
       3 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ehe-fuer-alle-in-Estland/!5939074
   DIR [2] /Neuer-Praesident-in-Lettland/!5938046
   DIR [3] /Homophobie-in-Russland/!5772531
   DIR [4] /Nausda-bleibt-Praesident/!6010238
   DIR [5] https://www.goethe.de/prj/per/en/index.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Norma Schneider
       
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