URI: 
       # taz.de -- DSD-Athletinnen im Boxen: Kulturkampf im Ring
       
       > Die Algerierin Imane Khelif boxt sich unter den skeptischen Blicken der
       > Weltöffentlichkeit weiter durchs olympische Turnier.
       
   IMG Bild: Auf dem Weg zu Gold: Imane Khelif (r.) gewinnt klar gegen die Ungarin Anna Hamori
       
       Paris taz | Es war ein Boxkampf wie ihn Olympische Spiele schon lange nicht
       mehr erlebt haben, ein Showdown, der an die Blütezeit des Profiboxens der
       Männer erinnert hat. Schon auf dem Weg zur Arena Paris Nord war zu spüren,
       dass da ein besonderer Kampf anstand. Eine Gruppe von Frauen hielt ein
       Pappschild hoch. „Suche dringend Tickets!“, war darauf zu lesen.
       
       Was für ein Champions-League-Finale im Fußball normal sein mag, hat es bei
       einem Viertelfinale im Frauenboxen bei Olympia noch nicht gegeben. Viel
       mehr als die 8.000 Menschen, die es in die Halle geschafft hatten, wollten
       dabei sein beim Kampf zwischen der Algerierin Imane Khelif und Anna Hamori
       aus Ungarn.
       
       An anderen Kampftagen hält sich der Ansturm der Pressevertretenden in der
       Halle, die ein wenig abgelegen in der Einflugschneise des Flughafens
       Charles de Gaulle liegt, in engen Grenzen. Am späten Samstagnachmittag
       waren Hunderte gekommen. Es hatte den Anschein, als erwarte alle Welt, dass
       der Kulturkampf, der sich an den vorangegangenen Tagen um die Teilnahme von
       Khelif am olympischen Boxturnier entzündet hatte, im Ring entschieden wird.
       
       ## Fanatischer digitaler Mob
       
       Nachdem Meldungen die Runde gemacht hatten, denen zufolge Khelif und die
       taiwanesische Boxerin Lin Yu‑ting nach einem Geschlechtertest bei der
       Box-WM 2023 aus dem Wettbewerb genommen worden waren, geriet die olympische
       Welt gehörig aus den Fugen. Männer würden da antreten, um Frauen zu
       vermöbeln und ähnliche schnelle Urteile geisterten durchs Netz. Vor allem
       die Algerierin Khelif wurde von einem fanatischen digitalen Mob zum Mann
       erklärt.
       
       Als dann noch die Italienerin Angela Carini nach zwei harten Schlägen
       Khelifs ihren Kampf aufgegeben und mit Tränen im Gesicht den Ring verlassen
       hat, schaukelte sich der Skandal hoch in politische Sphären. Und [1][das
       Internationale Olympische Komitee wurde gefragt], warum es die zwei
       Athletinnen zugelassen hat.
       
       Die Antwort, die Thomas Bach bei der Halbzeitpressekonferenz des IOC im
       Medienzentrum der Spiele von Paris gegeben hat, war verblüffend einfach.
       „Sie sind als Frauen geboren worden, als Frauen aufgewachsen, haben einen
       Pass, der sie als Frauen ausweist und haben viele Jahre lang als Frauen an
       Wettkämpfen teilgenommen“, sagte er und zeigte sich entsetzt über die
       Eigendynamik, die das Thema in den sozialen Medien entwickelt hat.
       
       Kurz später brauchte er diese Plattformen, um einen saudummen Fehler
       korrigieren zu lassen, der ihm bei der Pressekonferenz unterlaufen war. Da
       hatte er davon gesprochen, dass es sich nicht um einen „Fall von DSD“
       handle. Die Abkürzung steht für Disorders of Sex Development und wird
       verwendet, wenn bei einer Person sowohl männliche als auch weibliche
       Merkmale festgestellt werden können.
       
       ## „Kein Transgender-Fall“
       
       Später ließ er sich via X korrigieren. „Was er eigentlich sagen wollte:
       [2][Das ist kein Transgender-Fall“, postete das IOC]. Dessen Chef brachte
       beim Versuch, die Dinge zu ordnen, einiges durcheinander. Eines steht für
       ihn jedoch fest. Khelif und Lin sind Frauen, die jedes Recht hätten, an
       Frauenwettbewerben teilzunehmen.
       
       Einen solchen lieferten sich dann Khelif und ihre ungarische Gegnerin Anna
       Hamori am späten Samstagnachmittag im Ring. Hunderte Fans hatten sich in
       algerische Fahnen gehüllt und machten gehörig Stimmung für ihre Landsfrau.
       So laut ist es in Paris sonst nur, wenn eine Französin antritt.
       
       Schnell war klar, dass Hamori, die bei einem großen Turnier noch nie so
       weit gekommen war wie in dieser Woche bei Olympia, keine Chance hatte gegen
       die Algerierin, die kräftig austeilte und nur wenig einstecken musste und
       an deren Sieg es bei den Kampfrichtern keinen Zweifel geben konnte. Nach
       dem Kampf war sie alles andere als verbittert. „Vielen Dank erst mal an
       alle. Ich bin so stolz auf mich“, sagte sie. Und dass es ein großer Kampf
       gewesen sei, in dem sie alles gegeben habe.
       
       Vor dem Kampf hatte sie in ihrer Instagramstory Bilder gepostet, die sie
       als zarte Frau und ihre Gegnerin als wahres Monster zeigten. Dazu war zu
       lesen: „Wenn sie oder er ein Mann sein sollte, wird mein Sieg nur umso
       größer sein.“ Als der Post gelöscht wurde, machten Gerüchte die Runde, das
       IOC habe die Sportlerin unter Druck gesetzt. In der Tat sei es zu einem
       Telefonat zwischen dem IOC und dem ungarischen Team gekommen, berichtete
       IOC-Mediendirektor Christian Klaue nach dem Kampf am Ring. Während da
       gekämpft wird, läuft im Hintergrund die Sportdiplomatie.
       
       Von einem Protest des ungarischen Verbands, von dem noch am Vorabend
       berichtet worden war, ist schnell nicht mehr die Rede gewesen. Und nachdem
       sich die Italienerin Carini nach ihrer Niederlage geweigert hatte, Khelif
       die Hand zu geben, machten nun Aussagen von ihr die Runde, nach der sie
       Khelif bei einem Wiedersehen umarmen würde. Thomas Bach zitierte diese
       Aussagen auf seiner Pressekonferenz und zeichnete so das Bild einer
       harmonischen Frauenboxwelt.
       
       Und doch blieb eine Frage im Raum. Die Gendertests, die der Internationale
       Boxverband durchgeführt haben will, warum haben sie keinen Einfluss auf das
       Startrecht der beiden betroffenen Athletinnen? [3][Klar, die IBA ist nicht
       mehr für das olympische Boxen verantwortlich]. Aber hätte das IOC, das die
       Olympiawettbewerbe selbst organisiert, der Sache nicht nachgehen müssen?
       „Es gab keinen Grund, die Regeln im laufenden Wettbewerb zu ändern“,
       erläuterte IOC-Sprecher Klaue. Und auf eine Sportlerin zuzugehen und sie
       ohne triftigen Grund zu einem Geschlechtstest zu zwingen, sei schlicht
       „diskriminierend“.
       
       Die IBA-Tests sind für das IOC kein solcher triftiger Grund. Niemand kenne
       das Testverfahren und die Ergebnisse schon gar nicht. Überhaupt die IBA,
       die ist ja wegen ihrer mafiösen Strukturen, umstrittener
       Kampfrichterentscheidungen und finanzieller Intransparenz vom IOC verbannt
       worden. Dass mit Umar Kremlew noch dazu ein Russe an der Spitze der IBA
       steht, macht den Verband nicht glaubwürdiger.
       
       Ohne die IBA direkt der Verbreitung von Fake News zu bezichtigen, kam Klaue
       auf die Desinformationskampagnen aus Russland zu sprechen, die das Ziel
       hätten, das IOC zu zersetzen. Die spektakulärste dabei war eine Serie von
       Deepfake-Videos, die daherkam wie eine Netflix-Produktion und in denen ein
       KI-generierter Tom Cruise die Hauptrolle in einem wahren Horrorplot spielt,
       bei dem die Olympischen Spiele in Gewalt und Terror versinken.
       
       Als darüber nach dem Kampf gesprochen wurde, war Khelif längst in der
       Garderobe. Die Journalisten stürzten sich in der Mixed Zone auf sie. Um ein
       Haar wäre sie von einer TV-Kamera im Gesicht getroffen worden. Sie blieb
       stehen, blickte stolz in die Runde und verließ schweigend die Arena. Ihr
       Ziel ist Gold. „Das wäre so wichtig“, sagte nach dem Kampf Hassiba
       Boulmerka. Sie weiß, welche gesellschaftliche Bedeutung ein Olympiasieg auf
       die algerische Gesellschaft haben kann.
       
       1992 in Barcelona gewann sie Leichtathletikgold über 1.500 Meter und damit
       die erste Olympiamedaille für Algerien überhaupt. Sie wurde zur Ikone im
       Kampf gegen Islamismus und für Frauenrechte. Wie bei Khelif ging es auch
       bei ihr um mehr als nur Sport.
       
       4 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://olympics.com/ioc/news/ioc-releases-framework-on-fairness-inclusion-and-non-discrimination-on-the-basis-of-gender-identity-and-sex-variations
   DIR [2] /Intersexualitaet-im-Spitzensport/!5457222
   DIR [3] https://www.iba.sport/news/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Rüttenauer
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
   DIR Boxen
   DIR Intersexualität
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR GNS
   DIR Social-Auswahl
   DIR Imane Khelif
   DIR Kolumne Russisch Brot
   DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
   DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
   DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
   DIR Wochenvorschau
   DIR Imane Khelif
   DIR Kolumne Front Sportif
   DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
   DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Glückwünsche für den Präsidenten: Sportskanone Putin
       
       Der russische Sport ist weitgehend abgemeldet in der Welt. Der
       Verantwortliche dafür wird dennoch gefeiert – und wie!
       
   DIR Bilanz der Olympischen Spiele in Paris: Sonne und Skandale
       
       Die Sommerspiele waren faszinierend: Geopolitische Konflikte konnten
       überspielt werden, Kulturkämpfe über den Frauensport nicht.
       
   DIR Boxerin Imane Khelif: Der beargwöhnte Fight
       
       Die intersexuelle Boxerin Imane Khelif hat Olympiagold gewonnen. Ihr
       glatter Durchmarsch durchs Turniers befeuert eine ohnehin schon unsachliche
       Debatte.
       
   DIR Imane Khelif steht im Olympia-Finale: Im Olymp der Extremen
       
       Die algerische Boxerin siegt im Halbfinale. Die Debatte um ihr Geschlecht
       geht weiter. Dabei sind extreme Körper Voraussetzung für Erfolg im Sport.
       
   DIR Die Wochenvorschau für Berlin: Wünsch-dir-was im Sternenparadies
       
       Wenn die Realität nervt, ist es höchste Zeit in Brandenburg Sternschnuppen
       zu bestaunen. Oder auf der Hanfparade einen zu rauchen.
       
   DIR Pro und Contra: Quadratur des Kreises
       
       Handelt das IOC im Fall der vermutlich intersexuellen Boxerin Imane Khelif
       aus Algerien korrekt?
       
   DIR Radeln in der Olympiastadt: Remco Rüttenauer fährt bei Rot
       
       Unser Olympia-Reporter leiht sich ein Rad aus und passt sich in Windeseile
       dem Verkehr in Paris an.
       
   DIR Kitesurfer bei Olympia: „Wir haben klare Vorfahrtsregeln“
       
       Der Kitesurfer Jannis Maus stürmt mit 80 Sachen über die Wellen und
       vielleicht auch aufs olympische Podium. Ein Gespräch über die Formel 1 des
       Wassersports.
       
   DIR Zukunft des Boxsports: Angst vor dem Olympia-Aus
       
       Beim Boxen geht es drunter und drüber. Es wird über Kampfrichter, die
       Zulassungsfrage bei den Frauen und den suspendierten Fachverband
       gesprochen.