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       # taz.de -- Die Wahrheit: Der äußere Schweinehund
       
       > Die Olympischen Spiele in Paris kommentiert ein sehr spezieller deutscher
       > Seelenkundler, der über Sportler und den Medaillenspiegel wettert.
       
   IMG Bild: Selbst schwebend zarte Sportler schinden sich wie Ochsen
       
       Es lässt sich mit Fug darüber diskutieren, ob die Abschaffung des
       Leistungsprinzips bei Bundesjugendspielen und in den Fußballjugendklassen
       eine dolle Idee gewesen ist oder nicht eher der Durchsetzung einer dem
       Gedanken des Sports abträglichen Ideologie des ständigen „Wohlfühlens“ und
       der „Empfindsamkeit“ dient, wie Rüdiger Suchsland jüngst auf „Telepolis“
       schrieb, einer Website übrigens, auf der Orthografie und Grammatik nicht
       stattfinden.
       
       Suchsland moniert, „die Motivation, sich zu messen“, sei „etwas, das Kinder
       und Jugendliche üben müssen und das man nicht noch mehr aufweichen sollte“.
       Da geht jeder d’accord, der zum Beispiel in den Schulferien sich mit seinem
       Bruder tagelang epische Softballtenniskämpfe lieferte.
       
       Doch Suchsland plagt eine zwanghafte Fixierung. Sein Fetisch ist der
       „Medaillenspiegel“, sogar der „ewige Medaillenspiegel“. „Die Gesamtzahl der
       Medaillen geht kontinuierlich zurück“, klagt er, der deutschen Medaillen
       wohlgemerkt, und er stellt sich eine dringliche, ja vermutlich
       kriegsentscheidende Frage: „Ist das bislang schlechte Abschneiden der
       deutschen Sportler bei den Olympischen Spielen in Paris ein Symptom für die
       Misere eines ganzen Landes, für eine Lage aus Handlungsblockade und
       falscher Selbstzufriedenheit, der Unfähigkeit zum Umdenken und Verändern?
       Ein Symptom des Burnouts der deutschen Gesellschaft?“
       
       Was eine „Lage aus Handlungsblockade und falscher Selbstzufriedenheit“ sein
       soll, das fragen Sie bitte Ihren Deutschlehrer oder Stilberater, während
       wir gern wüssten, was Suchsland denn seit einer guten Woche guckt.
       
       ## Überall Verlierer
       
       „Wir sehen einen Tischtennisspieler, der vier Matchbälle hintereinander
       vergeigt und nach 3:1-Satzführung noch 3:4 verliert.“ Nicht zu fassen!
       Skandal! Ein deutscher Sportler verliert! Und was ist mit einem anderen
       deutschen Tischtennisspieler, dem Dimitrij Ovtcharov, der nach einem
       0:3-Rückstand ungeheure Nervenstärke unter Beweis stellt, ausgleicht und in
       einem titanischen Fight dem französischen Jahrhunderttalent Félix Lebrun
       schließlich unglücklich mit 3:4 unterliegt? Gehört die Heulsuse aus dem
       Land geschmissen? Ins Lager?
       
       Beim Reiten spielen die Deutschen „heute keine Rolle mehr“. Aha. Weil in
       der einen Disziplin ein winziger, freilich radikal unverzeihlicher Fehler
       passiert, in der anderen die Entscheidung so knapp wie nie zuvor ausfällt
       und in der nächsten aus Versehen Gold vom Himmel plumpst?
       
       In welchen Fernsehkasten glotzt Suchsland hinein? In einen, in dem „eine
       Herrenmannschaft mehrere Matchbälle gegen sich hinnehmen muss. Und kurz
       danach verlieren sie dann.“
       
       Merkwürdig, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Olympischen Spiele
       sämtliche, für Herrn Suchsland: alle qualifizierten deutschen Herren- und
       Damenvolleyball-, -handball-, -basketball-, -3x3-Basketball-, -fußball- und
       -hockeyteams ins Viertel- oder Halbfinale eingezogen sind, zum Teil mit
       atemberaubenden, mit Weltklassedarbietungen.
       
       „Wie oft die deutschen Athleten stattdessen Vierter oder Fünfter werden und
       wie oft sie dann ihre Zufriedenheit kundtun!“, fährt Suchsland fort. Was
       schaut der Mann? Und: Will er den totalen Triumph? Müssen stets andere,
       subalterne Völker Vierte oder Fünfte werden? Hat der Herr Suchsland einen
       an der Klatsche?
       
       ## Zustand des Landes
       
       Auf jeden Fall tischt Suchsland die neuste Version des seit Jahrzehnten in
       den Feuilletons herumgereichten, an der Kollektivpsychologie eines Wilhelm
       Wundt geschulten Analogiegeranzes auf – wie der Medaillenspiegel, so der
       Zustand des Landes und der Menschen: „Geht es also um den Kopf, ‚die
       Seele‘? … Ist die deutsche Nation einfach müde und erschlafft? Jedenfalls
       scheint sie von einem Burnout erfasst und wirkt zugleich ungemein
       saturiert.“ Das zeige sich „bei den Deutschen“ auch „im Fußball“, wo „diese
       Dominanz, die sie seit Jahrzehnten hatten, plötzlich, eigentlich schon nach
       der WM 1990, spätestens in den letzten zehn Jahren aufgehört hat“.
       
       Eigentlich bereits nach 1990? Vizeeuropameister 1992, EM-Titel 1996,
       Vizeweltmeister 2002, von 2006 bis 2016 immer mindestens im Halbfinale –
       der Mann ist offenbar ballaballa.
       
       „Sie haben ‚gesundheitliche Probleme‘, derentwegen sie ‚ihre Leistung nicht
       abrufen‘ können. Früher nannte man das den ‚inneren Schweinehund‘.“
       
       Was maßt der sich eigentlich an? Hat Suchsland einen Hieb? Einen Judokampf
       verfolgt? Einen Kanuslalom? Die bis zum letzten zehrenden Tennismatches von
       Angelique Kerber und Alexander Zverev? Oder überhaupt irgendwas?
       
       Hat er. Er hat einen Hieb. An die Front mit ihm! Und zur Vorbereitung binge
       er all die in Mediatheken vorrätigen Leibesübungsdokumentationen weg, deren
       Leitmotiv ist, dass sich ausnahmslos jeder Leistungssportler schindet wie
       ein Ochse.
       
       Hopp, hopp, auf in die Schlacht, Herr Suchsland!
       
       6 Aug 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Roth
       
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