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       # taz.de -- Zeitenwende in Deutschland und Japan: Lasst endlich das „Scholzing“
       
       > Japan und Deutschland galten militärisch lange als zurückhaltend. Nun
       > sollten sie dringend überlegen, wie sie die „Zeitenwende“ nachhaltig
       > finanzieren.
       
   IMG Bild: Fumio Kishida, Ministerpräsident von Japan, mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin
       
       „Natürlich funktioniert der nicht. Der ist von der Bundeswehr.“ Das sagte
       ein Journalist zu mir, als ich erwähnte, dass der Stift der Bundeswehr, den
       ich bei der Berichterstattung benutzte, nicht schrieb. Mit dem Einmarsch
       Russlands in der Ukraine vor zweieinhalb Jahren [1][verkündete
       Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD eine „Zeitenwende“], aber viele
       Menschen scheinen mit den Fortschritten unzufrieden.
       
       Ich hielt mich ab Juni für zwei Monate in Deutschland auf und hatte den
       Eindruck, dass nur wenige Menschen über die japanische Version der
       Zeitenwende Bescheid wussten. Doch betrachtet man die Bemühungen Japans,
       das wie Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg eine zurückhaltende
       Verteidigungspolitik verfolgt hatte, ermöglicht das vielleicht einen
       tieferen Einblick in die aktuelle Situation in Deutschland.
       
       Japans Zeitenwende begann mit [2][Shinzo Abe] von der konservativen
       Liberaldemokratischen Partei (LDP), die von 2012 bis 2020 an der Regierung
       war. Japan beschließt seinen Verteidigungsetat alle fünf Jahre und hat das
       Fünfjahresbudget ab dem Haushaltsjahr 2023 im Vergleich zu den vorherigen
       fünf Jahren um das 1,5-fache auf rund 43 Billionen Yen (etwa 250 Milliarden
       Euro) erhöht.
       
       Grund dafür ist die Bedrohung Japans, die seit der Ende 2022 überarbeiteten
       Nationalen Sicherheitsstrategie als „so ernst und komplex wie nie zuvor
       seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ beschrieben wird. Das ist gut, Japan
       muss seine Verteidigungsfähigkeit stärken. Doch es braucht eine bessere
       Strategie, dies zu finanzieren.
       
       ## Japan ist von mehreren Seiten bedroht
       
       Der chinesische Präsident Xi Jinping macht keinen Hehl mehr aus seinen
       Ambitionen, Taiwan zu vereinnahmen. Als die damalige Sprecherin des
       US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, Taiwan im Jahr 2022 besuchte,
       reagierte China mit Militärübungen rund um Taiwan, bei denen ballistische
       Raketen über dem Ozean in Japans ausschließlicher Wirtschaftszone
       einschlugen. Wissen Sie, wie nah Taiwan und Japan beieinander liegen? So
       nah wie Dresden und Leipzig: 110 Kilometer. Von der westlichsten Insel
       Japans, Yonaguni, ist Taiwan an klaren Tagen sogar zu sehen.
       
       Der frühere Premierminister Abe erklärte wiederholt, dass „eine
       Eventualität in Taiwan eine Eventualität in Japan ist“. Sollte China also
       eine militärische Invasion in Taiwan starten, wären Auswirkungen auf Japan
       unvermeidlich. China beansprucht auch die japanischen Senkaku-Inseln in der
       Nähe von Taiwan.
       
       Nordkoreas Abschüsse von ballistischen Raketen in Richtung Japanisches Meer
       überraschen uns nicht mehr. Dennoch sind die Alarmsignale, die ertönen,
       wenn Raketen über Japan fliegen, erschreckend. Es gibt auch Spekulationen,
       dass Nordkorea einen siebten Atomtest durchführen könnte.
       
       Auch die Beziehungen zu einem anderen Nachbarland, Russland, haben sich
       seit dessen Einmarsch in die Ukraine verschlechtert. Russische
       Militärschiffe und -flugzeuge führen gemeinsame Übungen mit dem
       chinesischen Militär rund um Japan durch. Die japanische Regierung bereitet
       sich auf eine „komplexe Eventualität“ vor, bei der diese Nachbarn
       gleichzeitig militärisch aktiv werden.
       
       Angesichts dieser Umstände haben die Bemühungen um eine Stärkung der
       japanischen Verteidigungskapazitäten eine gewisse Unterstützung erfahren.
       In einer von der konservativen Zeitung Yomiuri Shimbun im Februar und März
       dieses Jahres durchgeführten Umfrage sprachen sich 71 Prozent für eine
       Stärkung der Verteidigungskapazitäten und 53 Prozent für eine Erhöhung des
       Verteidigungsetats aus.
       
       ## Angst vor Steuererhöhungen
       
       Ende 2022 beschloss die Regierung Steuererhöhungen von jährlich mehr als 1
       Billion Yen, also circa 6,2 Milliarden Euro, sowie weitere Mittel für
       Verteidigung durch Kürzungen an anderer Stelle. Allerdings ist der
       Widerstand gegen Steuererhöhungen, die die Bürger direkt betreffen, groß:
       69 Prozent lehnten sie in der gleichen Umfrage ab.
       
       In Japan wird über Steuern in der Regel am Ende des Jahres diskutiert, aber
       Ende 2023 wurde die Entscheidung über den Zeitpunkt des Inkrafttretens der
       Erhöhung verschoben. Kürzlich kamen Korruptionsfälle im
       Verteidigungsministerium ans Licht, bei denen es um Zuwendungen und
       Bewirtungen durch die Rüstungsindustrie ging, was die Befürchtung aufkommen
       ließ, dass die Entscheidung, ab wann Steuererhöhungen in Kraft treten,
       erneut verschoben werden könnte.
       
       Die finanzielle Sicherung der Zeitenwende ist sowohl für Japan als auch für
       Deutschland eine Herausforderung. Allerdings gibt es in Japan keine
       Beschränkungen wie die Schuldenbremse, [3][auf die die deutsche FDP von
       Finanzminister Christian Lindner besteht]. Die Staatsverschuldung im
       Verhältnis zum BIP liegt in Japan bei etwa 260 Prozent – im Vergleich zu
       Deutschlands rund 65 Prozent ist das extrem hoch. Einige argumentieren,
       dass die Ausgabe von Staatsanleihen kein Problem darstelle, da sie auf die
       Landeswährung ausgestellt seien und die Zinssätze niedrig blieben.
       
       Einige forderten, dass die Regierung Anleihen ausgeben sollte, um den
       erhöhten Verteidigungshaushalt zu finanzieren. Doch Premierminister Fumio
       Kishida von der LDP beschloss, die Steuern zu erhöhen. Bei der Bevölkerung
       warb er um Verständnis: „Wir, die in der Gegenwart leben, sollten dies als
       unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen angehen.“
       
       In Deutschland hörte ich dann vom Begriff „Scholzing“. Er entstand im
       Kontext und als Kritik an der Ukraine-Politik des Bundeskanzlers. Gemeint
       ist damit: Gute Absichten zu kommunizieren, um dann aber alle möglichen
       Gründe zu finden und zu nutzen, die Umsetzung zu verzögern oder zu
       verhindern. Sowohl Japan als auch Deutschland sollten das Scholzing
       unterlassen und stattdessen die Gespräche über eine nachhaltige
       Finanzierung ihrer Zeitenwende dringend beschleunigen.
       
       8 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Yusuke Umezaki
       
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