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       # taz.de -- Westernfilm „The Dead Don't Hurt“: Allein in der Machowelt
       
       > Viggo Mortensens Western „The Dead Don't Hurt“ ist ein erfrischender
       > Blick aufs Genre. Er erzählt von zwei Liebenden in einer brutalen Welt.
       
   IMG Bild: In diesem Western ist sie die Hauptfigur: Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps)
       
       Es fängt gleich mit mehreren Toten an. Noch ist die Leinwand schwarz, nur
       ein röchelndes Atmen zu hören. Der sonnendurchflutete Laubwald, durch den
       ein Ritter mit Rüstung und Fahne reitet, erweist sich als letztes inneres
       Bild einer Frau auf dem Sterbebett, deren starrgeweitete Augen sanft von
       der Hand des trauernden Gatten geschlossen werden. Schnitt. Ein bewaffneter
       Mann tritt aus dem Saloon eines Westernkaffs.
       
       Drinnen hat Weston Jeffries (Solly McLeod) gerade jemanden erschossen,
       einen zweiten tötet er auf offener Straße, bevor er auf sein Pferd steigt
       und langsam davonreitet. Während hier der Tote im Staub liegen bleibt,
       begräbt Holger Olsen (Viggo Mortensen) seine verstorbene Frau neben der
       Holzhütte irgendwo im Niemandsland Nevadas. Stoisch lässt er sich den
       Schmerz nicht anmerken. Wegen des kleinen Jungen, der neben ihm am Grab
       kauert. Und weil er in seinem Leben schon genug Tod gesehen hat.
       
       „The Dead Don’t Hurt“ heißt sie dann auch, die zweite Regiearbeit des
       Schauspielers [1][Viggo Mortensen], der als Darsteller wortkarger
       Antihelden in Western wie „Appaloosa“ und zuletzt „Eureka“ eng mit dem
       Genre verbunden ist und hier seine ganz eigene Interpretation liefert.
       
       Nach dem verlustreichen Beginn meidet er weitere Schießereien und
       Pferdejagden weitgehend, fokussiert sich auf das Epische und Mythische und
       spielt dabei geschickt mit Konventionen, indem er eine weibliche Figur ins
       Zentrum des traditionell männerdominierten Genres rückt.
       
       ## Sie begegnen sich 1860
       
       1860, kurz vor Beginn des Bürgerkriegs, begegnen sich in San Francisco die
       Frankokanadierin Vivienne Le Coudy (die in Berlin lebende Luxemburgerin
       Vicky Krieps, „Corsage“) und der dänische Einwanderer Olsen. Vivienne ist
       da noch mit einem reichen Kunsthändler verbandelt, doch der zupackende
       Zimmerer Holger gefällt ihr gleich. Und so folgt sie ihm bald ins
       abgelegene Tal in Nevada, wo er ein kleines Blockhaus gebaut hat.
       
       In der Liebe bewahren sie sich ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit,
       die das Paar immer wieder neu verhandeln. Vivienne will selbst Geld
       verdienen und nimmt eine Stelle im Dorfsaloon an, zunächst gegen Holgers
       Willen. Im respektvollen Ausloten entsteht so langsam ein gemeinsames
       Leben, das jäh unterbrochen wird, als der Bürgerkrieg ausbricht und Holger
       spontan beschließt, für die Union an die Front zu ziehen.
       
       Auf sich gestellt, kämpft sich Vivienne als alleinstehende Frau tapfer
       durch, auch gegen die willkürliche Machowelt im Dorf unter Bürgermeister
       Rudolph Schiller (Danny Huston). Der sexualisierten Gewalt des brutalen
       Ranchers Weston Jeffries ist sie jedoch schutzlos ausgeliefert. Als Holger
       nach Jahren wiederkehrt, findet er seine Frau mit einem Sohn vor, den nicht
       er gezeugt hat.
       
       Sie versuchen von vorne anzufangen, nun als Familie, trotz aller
       [2][Traumata]. Während er von seinen Kriegserfahrungen schweigt, schwört
       Holger Rache für das Leid, das seiner Frau widerfuhr.
       
       ## Weder Nabelschau noch Egotrip
       
       Wie das Familiendrama „Falling“ ist auch der Nachfolger ein durch und durch
       eigenes Werk, bei dem Mortensen neben Regie und Hauptrolle erneut Drehbuch,
       Musik und Produktion übernommen hat. So unterschiedlich die Filme sind,
       handeln beide von Sterben und Abschiednehmen, Trauer und Trauma und sind
       von Mortensens 2015 verschiedener Mutter Grace Gamble Atkinson inspiriert,
       der er seinen Zweitling gewidmet hat.
       
       Dabei ist „The Dead Don’t Hurt“ weder Nabelschau noch Egotrip, sondern eine
       kluge Reflexion über Schuld und Verantwortung, die Mortensen in epischen
       Bildern und mit Zeitsprüngen, Rückblenden und Visionen verschachtelt
       erzählt.
       
       Die ikonischen, bisweilen fast zu schön kadrierten Einstellungen des
       dänischen Kameramanns Marcel Zyskind verweisen immer wieder auf klassische
       Motive und Vorbilder, die von Pioniergeist und Freiheitsdrang erzählen, vom
       mühsamen Abringen einer Existenz in rauer Wildnis, und sie zugleich
       hinterfragen.
       
       Als Sohn einer US-Amerikanerin und eines Dänen ist Mortensen in mehreren
       Kulturen aufgewachsen, in Argentinien und den USA, lebt heute meist in
       Madrid.
       
       Abgesehen von [3][Jacques Audiard und seinem mit europäischem Blick
       inszenierten „The Sisters Brothers“] abgesehen, versteht Mortensen wie kaum
       ein anderer, dass der Western als uramerikanisches Filmgenre von
       Migrationserfahrungen erzählt, und lässt seine Figuren entsprechend in
       einem multikulturellen Gewirr aus Sprachen und Akzenten sprechen.
       
       Am Ende wird sein Holger Olsen zwar nicht der edle Ritter, von dem Vivienne
       vielleicht ohnehin nie geträumt hat, doch er hat zumindest begriffen, dass
       eine Zukunft nur lebenswert ist, wenn er sich ihr mit Güte und Haltung
       stellt und versucht, die Traumata der Gewalt nicht auf die nächste
       Generation zu übertragen.
       
       Was nützt der Schmerz um die Toten, wenn uns die Erinnerung an sie nicht
       etwas für unser Leben lehrt? Damit ist Mortensen seine ganz eigene, sehr
       zeitgemäße Neuinterpretation des Western gelungen, die auch Menschen
       gefallen dürfte, die mit dem Genre sonst eher wenig anfangen können.
       
       8 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Abeltshauser
       
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