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       # taz.de -- Neues Buch über Aufstieg der NSDAP: Der Feind steht rechts
       
       > Volker Ullrich schreibt in seinem Buch von ungenutzten Chancen, das
       > „Dritte Reich“ zu verhindern. Heute zeigen sich Analogien zur Gewalt von
       > rechts.
       
   IMG Bild: Hätte man ihnen die gute Laune vermiesen können? Nazis Goebbels und Frick bei einer Veranstaltung in Berlin
       
       Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Weimarer Republik war bis
       vor wenigen Jahren eine Angelegenheit, bei der man sich fern der Gegenwart
       wähnen konnte. Gewiss, auf Weimar folgte der Nationalsozialismus, aber
       dennoch schien es sich um eine abgeschlossene Geschichte zu handeln, weit
       weg von der Gegenwart.
       
       Heute ertappt man sich selbst bei der Lektüre von [1][Volker Ullrichs]
       „Schicksalsstunden einer Demokratie“ ein ums andere Mal bei Vergleichen mit
       der Gegenwart. Obwohl Ullrich keinerlei Gleichsetzungen zwischen NSDAP und
       der neuen Rechten in der Bundesrepublik vornimmt, gerät dem Leser geradezu
       zwangsläufig [2][ein Björn Höcke] in den Sinn, wenn in dem Kapitel „Modell
       Thüringen“ von der ersten Koalition unter Einschluss der Nazipartei die
       Rede ist.
       
       Wilhelm Frick hieß der Mann, der 1930 zum ersten Naziminister ernannt
       wurde, ein verurteilter Hochverräter. Von „Brandmauern“ gegenüber den
       Rechtsradikalen war damals nicht die Rede, im Gegenteil. So behauptete die
       bürgerliche DVP, man stünde „weltanschaulich und politisch näher“ an der
       NSDAP als an der Sozialdemokratie, schreibt Ullrich. So etwas hat 90 Jahre
       später nicht einmal [3][FDP-Mann Thomas Kemmerich] behauptet, als er sich
       mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ.
       
       Die Thüringer Koalition von 1930 ist nur ein Beispiel für das Thema, das
       sich zwangsläufig durch Ullrichs Buch über die Weimarer Republik zieht: die
       Auseinandersetzung mit den Rechtsradikalen, genauer gesagt mit der
       Tatsache, dass die Demokraten in dieser Republik immer wieder den Schwanz
       vor Antisemiten, Rassisten, Monarchisten und Verächtern des neuen Staats
       einzogen. Das begann schon kurz nach der Geburt der ersten deutschen
       Republik, als sich die Sozialdemokraten in ihrer Furcht vor einem
       kommunistischen Umsturz auf die Reichswehr stützten und zugleich
       durchgreifende Reformen wie eine Sozialisierung von Schlüsselindustrien
       oder eine Agrarreform liegen ließen.
       
       Das setzte sich fort mit dem Kapp-Putsch und dem Mord an Walther Rathenau,
       als Rechtsradikale darum bemüht waren, die Macht zu erobern, und von der
       Reichsregierung, namentlich aber vom Militär und der Justiz nur eine lahme
       bis nicht vorhandene Gegenwehr erfolgte. Das kulminierte 1925 mit der Wahl
       von Paul von Hindenburg, eines Monarchisten, zum Reichspräsidenten. „Der
       Feind steht rechts“ rief Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) nach dem
       [4][Mord an Rathenau] aus.
       
       Die Konsequenzen blieben aus. Die Demokraten – trotz der wachsenden
       Beliebtheit von rechts- wie linksradikalen Parteien lange mit deutlicher
       Mehrheit ausgestattet – zeichnete ein allzu langmütiges Verhältnis
       gegenüber ihren Gegnern aus, die wiederum jede Schwäche gnadenlos
       ausnutzten.
       
       ## Ein aufhaltsames Scheitern
       
       Der ehemalige Zeit-Redakteur Volker Ullrich hat keine Gesamtgeschichte der
       Weimarer Republik geschrieben, er nimmt klugerweise die Brechpunkte einer
       15-jährigen Geschichte in den Fokus, jene Entwicklungsschritte also, die
       dafür sorgten, dass der Staat und die Gesellschaft immer weiter nach rechts
       gezogen wurden.
       
       Eine Zwangsläufigkeit der Entwicklung, wie von manchen Linken gerne bemüht,
       sieht Ullrich dabei nicht. „Alternativlos war diese Entwicklung nicht“,
       schreibt Ullrich. „Im Kampf um die Weimarer Demokratie hing es bei allen
       strukturellen Belastungen immer wieder von einzelnen Entscheidungen in
       konkreten Situationen ab, wie sich die Geschichte entwickeln würde.“ Im
       Untertitel des Buchs ist treffend vom „aufhaltsamen Scheitern der Weimarer
       Republik“ die Rede.
       
       Ja, was wäre gewesen, wenn die SPD 1918/19 die Großagrarier enteignet und
       die Reichswehr entmachtet hätte? Welche Folge hätte es gehabt, wenn
       Heinrich Brüning als Reichskanzler nicht hätte abdanken müssen, mit
       Neuwahlen zum Reichstag 1934? Ullrich spekuliert nicht groß über solche
       Fragen. Sie kommen ganz von selbst.
       
       ## Analogien zur wachsenden Gewalt von rechts
       
       Immer dann, wenn der Autor konkrete Ereignisse anhand von
       Zeitzeugenberichten beschreibt, wird seine Argumentation besonders stark.
       Dabei stützt er sich auf Tagebücher und Erinnerungen bekannter Zeitgenossen
       wie des Publizisten Harry Graf Kessler oder Theodor Wolff, der Kreisauerin
       Dorothy von Moltke oder des Romanisten Victor Klemperer.
       
       Bisweilen geraten Personen zu Zeugen der Geschichte, die man nicht erwartet
       hätte. Franz Kafka darf sich zum Mord an Rathenau äußern und [5][Klaus
       Mann,] dessen autobiografische Erinnerungen nicht immer als authentisch
       gelten, zu seiner angeblichen Begegnung mit Hitler im Jahr 1932.
       
       Im Vergleich zur rechtsradikalen Bedrohung kommen die Versuche von Seiten
       der KPD, den Staat in ihrem Sinne zu revolutionieren (sprich zu einer
       Diktatur umzuwandeln), relativ kurz. Aber angesichts der vereinten Kräfte
       der Antidemokraten, die Republik abzuschaffen, wirken die Versuche der
       Linken, mittels miserabel geplanter kurzfristiger Aufstände die Macht zu
       erringen, geradezu lächerlich – wiewohl die KPD mit ihrer
       Sozialfaschismusthese, die nicht die NSDAP, sondern die SPD als Hauptgegner
       ausmachte, am Untergang der Republik kräftig mitgewirkt hat.
       
       Auch wenn das Ende von Weimar damals nicht mit dem Aufstieg rechtsradikaler
       Populisten heute gleichgesetzt werden kann: Bei den Mechanismen von
       Grenzüberschreitungen und Gewalt von rechts außen ergeben sich Analogien.
       Und deshalb ist Volker Ullrichs Werk eben doch nicht nur ein
       Geschichtsbuch.
       
       24 Aug 2024
       
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