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       # taz.de -- Garnisonkirche in Potsdam: 88 Meter Vergangenheitsbewältigung
       
       > Von Versöhnung wird bei der Garnisonkirche immer geschwafelt. Doch wer
       > mit wem durch ihren Wiederaufbau versöhnt werden soll, kann niemand
       > erklären.
       
   IMG Bild: Pfarrer Jan Kingreen vor der umstrittenen Garnisonkirche in Potsdam
       
       Sind Sie bereit für den Wow-Effekt? Nein, ich rede nicht von den
       fantastischen Taylor-Swift-Fans, die ihr Konzert in Wien einfach selbst
       gemacht haben. Notgedrungen, weil die drei dort geplanten Auftritte
       abgesagt wurden, nachdem aufgeflogen war, dass ein 19-jähriger IS-Anhänger
       einen Selbstmordanschlag geplant hatte.
       
       Aus seiner wahnhaften, misogynen Weltsicht heraus waren die Pop-Konzerte
       [1][ein ideales Anschlagsziel – fröhliche junge Frauen, die gern singen und
       tanzen,] die fast schon legendär solidarisch untereinander sind und deren
       politischstes Anliegen „fuck patriarchy“ ist. Nun, der Islamist ist doppelt
       gescheitert – nicht nur wurde er rechtzeitig festgenommen, viele Swifties
       ließen sich ihr Konzert trotz Enttäuschung nicht ganz nehmen – [2][und
       sangen textsicher einfach selbst auf der Straße]. Ohne es überhaupt zu
       erwähnen, lachten sie dem Terror ins Gesicht.
       
       In your face – das finde ich eh die beste Reaktion auf alle, ich nenne sie
       mal zärtlich „Bullies“, dieser Welt, heißen sie nun Chamenei, Hanijeh,
       Sinwar oder Putin. „Sie brüllten ihr fürchterliches Brüllen und fletschten
       ihre fürchterlichen Zähne und rollten ihre fürchterlichen Augen und zeigten
       ihre fürchterlichen Krallen“, heißt es im aktuellen Lieblingsbuch meiner
       Tochter – „Wo die wilden Kerle wohnen“. Aber nur bis Max, der kleine Junge,
       sagt: „Seid mal still!“ – und in ihre gelben Augen starrt, ohne ein
       einziges Mal zu zwinkern. So geht man mit Monstern um. Wow!
       
       Apropos: Wir wollten ja noch auf den Wow-Effekt – Verzeihung – [3][das
       Wow-Wahrzeichen] zu sprechen kommen. Nein, nicht das, das Terroristen am
       11. September 2001 zum Einsturz brachten. Sondern den Zombie eines von den
       Alliierten getroffenen, von Walter Ulbricht später weggesprengten
       Kirchturms. Die Rede ist natürlich von der Garnisonkirche in Potsdam. Von
       Friedrich Wilhelm I um 1730 erbaut, hatten [4][Hitler und Hindenburg hier
       die Versöhnung Preußens mit den Nazis zelebriert], als sie sich 1933 die
       Hände reichten. Im Reichstag ging’s leider nicht, aus bekannten Gründen.
       Die Militärkirche war aber auch ganz passend.
       
       ## Symbol fragiler Männlichkeit
       
       Die Idee, dieses 88 Meter hohe Symbol fragiler Männlichkeit wieder
       aufzubauen hatte der rechtsradikale Ex-Bundeswehroffizier Max Klaar, der
       sich aber alsbald mit der evangelischen Landeskirche zerstritt. Anhänger
       für den Wiederaufbau gab es da schon genug, allerdings nicht so viele, dass
       die nötigen 41 Millionen Euro allein für den Turm (vom Kirchenschiff nahm
       man darum bald Abstand) zusammengekommen wären. Deshalb erbarmte sich der
       Bund und gab auch noch was dazu.
       
       Jetzt wird das Ding am 22. August eröffnet – nur kurz nach der Eröffnung
       der ersten Potsdamer Synagoge nach dem Zweiten Weltkrieg übrigens. Wenn die
       Neonazis dann erst zu ihrem neuen Wallfahrtsort pilgern, bekommt das nur
       wenige Meter entfernte Zentrum der jüdischen Gemeinden Potsdams bestimmt
       extrafetten Polizeischutz. Extra-Wow.
       
       Vielleicht ist das genau die „Versöhnung“, von der die Garnisonkirchenfans
       immer schwafeln. Wer durch den originalgetreuen, architektonisch
       ungebrochenen Wiederaufbau mit wem genau versöhnt werden soll, konnten sie
       nie ganz erklären.
       
       Man muss das Ganze wohl einfach als Diorama der deutschen Erinnerungskultur
       lesen: „Hier, schaut, endlich wieder jüdisches Leben mitten unter ‚uns‘ –
       aber jetzt lasst ‚uns‘ in Ruhe unserer famosen Geschichte gedenken, wir
       waren schließlich auch Opfer!“ Ja freilich, und zwar Opfer unserer von uns
       selbst geschaffenen Diktatur und ihrer Folgen.
       
       ## Cooler Widerstand gegen Nazikirche
       
       Ich will nicht ungerecht sein, es gab von Anfang an in Potsdam eine der
       coolsten und kreativsten [5][Widerstandsbewegungen gegen den Wiederaufbau]
       der Nazikirche, die man sich überhaupt vorstellen kann. Am Rande des
       Eröffnungsgottesdienstes in der Kapelle am diesjährigen Ostermontag (nur
       für handverlesene Gäste, noch nicht für den Pöbel) etwa organisierten sie
       ein Punkkonzert samt [6][Zerschlagung eines Pappmodells der Kirche].
       
       Punk ist vielleicht das Stichwort der Stunde: dem Ende der Welt einfach ins
       Gesicht lachen – und den Bullies jedweder Couleur sowieso.
       
       10 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Anschlagsplaene-auf-Taylor-Swift-Konzert/!6025580
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=DSztlb6Mw6Y
   DIR [3] https://www.tagesspiegel.de/potsdam/landeshauptstadt/eroffnung-am-22-august-potsdams-garnisonkirche-nennt-sich-jetzt-wow-wahrzeichen-12152741.html
   DIR [4] https://www.politische-bildung-brandenburg.de/lexikon/tag-von-potsdam
   DIR [5] /Garnisonkirche-Potsdam/!5998931
   DIR [6] https://www.tagesspiegel.de/potsdam/landeshauptstadt/potsdamer-garnisonkirchturm-gottesdienst-in-der-kapelle-draussen-protest-11448776.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ariane Lemme
       
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