URI: 
       # taz.de -- Möbel aus Kunststoff in der DDR: Das Garten-Ei war auch ein Luxus-Ei
       
       > Transfergeschichte zwischen West und Ost: Die Schau „Pure Visionen“ in
       > Eisenhüttenstadt erzählt, wie ein Kunststoff die DDR-Wohnwelt mit Farbe
       > flutete.
       
   IMG Bild: Deckel auf und reingesetzt ins „Garten-Ei“ aus Polyurethan, entworfen von Peter Ghyczy aus der BRD, hergestellt in der DDR
       
       Die DDR war auch Pop. Das mag man kaum glauben angesichts grauer
       Hausfassaden, fahler Funktionärs-Outfits und des Mangels an einem der Bravo
       ebenbürtigen Printprodukt über den popkulturellen Musikmarkt. Grellbunte
       Möbel in runden oder Wabenformen, die sogar würdig des Einsatzes in
       MTV-Videos gewesen wären, gab es aber doch, sowohl in Privathaushalten als
       auch in der Gastronomie. All das sogar von der SED-Spitze gefördert und von
       der schillernden Abteilung Kommerzielle Koordinierung des späteren
       Stasi-Obersts Alexander Schalck-Golodkowski auf den Weg gebracht.
       
       Kultobjekte aus DDR-Produktion, etwa das „Garten-Ei“ oder der
       „Känguru-Stuhl“, sind gerade im Museum Utopie und Alltag in
       Eisenhüttenstadt zu sehen, das mit der Ausstellung „Pure Visionen“ auf die
       ebenso farbige Geschichte der quietschbunten Möbel eingeht. Beim
       „Garten-Ei“ handelt es sich um eine stark abgeflachte Kugel von etwa 70 cm
       Durchmesser. Ihre Oberseite kann geöffnet und um 90 Grad als Rückenlehne
       aufgeklappt werden. Es gab Ausführungen in Rot, Rosa, Orange, Weiß und
       Blau. Im Inneren des Plaste-Eis befinden sich Polster, die das bodennahe
       Sitzen bequem machen.
       
       Die Hülle ist aus Polyurethan. Dieser Kunststoff wurde bereits 1937 in den
       Laboren der I.G. Farben hergestellt; wenige Jahre später wurde die Firma
       durch das [1][in NS-Konzentrationslagern zum Massenmord eingesetzte Giftgas
       Zyklon B] berüchtigt.
       
       Polyurethan, abgekürzt PUR, wurde dann ab den 1950er Jahren zu einer feinen
       Sache. Dank seiner Härte und Wetterbeständigkeit wurde PUR beim Häuserbau
       wie in der Möbelindustrie eingesetzt. Früh waren auch Ästhetikspezialisten
       begeistert von dem Werkstoff. Horst Redeker vom Ostberliner Institut für
       Angewandte Kunst lobte schon 1959 im Buch „Chemie gibt Schönheit“ die
       tollen Formen, die aus Erdölprodukten hergestellt werden können. Das Buch
       ist in der Sonderausstellung zu sehen, wie auch andere gedruckte Zeugnisse
       der Chemie-Euphorie mit Titeln wie „Schöpfung ohne Grenzen“ und „Chemie ist
       Trumpf“.
       
       ## Chemie-Optimismus beidseitig des Eisernen Vorhangs
       
       Der Chemie-Optimismus war bekanntlich nicht auf die sozialistische
       Alltagswelt beschränkt. In den USA lösten ab 1952 die Tupperware-Partys
       Begeisterung für Plastikbehälter im Haushalt aus. In Sachen PUR-Möbel
       jedoch avancierte die DDR im kurzen Zeitfenster der 1970er Jahre sogar zum
       größten Produzenten der Welt. Tische, Stühle und ganze Schrankwandfronten
       wurden aus dem Material hergestellt und eifrig auf den Wohnweltseiten von
       Magazinen wie der NBI beworben. Interieurskizzen aus der Zeit mit echtem
       Retro-Charme sind in der Ausstellung auf Wandgröße hochgezogen.
       
       Schön an „Pure Visionen“ ist auch, dass die Ausstellung nicht nur das
       Chemieprogramm der einstigen DDR feiert. Denn die Industrie im real
       existierenden Sozialismus hatte zunächst Probleme, die Formen für die
       schrillen Objekte herzustellen. Deshalb wurden Experten in die
       Bundesrepublik geschickt.
       
       Mehrere Karten bilden in der Ausstellung ihr Netzwerk ab. Östlicherseits
       gab es das Synthesewerk Schwarzheide (heute BASF, das auch als einziger
       privatwirtschaftlicher Förderer der Schau auftritt) und das Petrolchemische
       Kombinat Schwedt. Sie stellten ab den frühen 1970er Jahren
       Polyurethan-Möbel her. Westlicherseits hatten Firmen wie
       I.G.-Farben-Nachfolger Bayer und mittelständische Unternehmen wie
       Elastogran und Horn die frühe Expertise. Vermittelnde Instanz war der in
       Ost-West-Beziehungen allgegenwärtige Stasi-Ableger Kommerzielle
       Koordinierung.
       
       Die Zusammenarbeit beim „Garten-Ei“ verlief so: Der deutsch-ungarische
       Designer Peter Ghyczy – als Jugendlicher übrigens nach Niederschlagung des
       Volksaufstands in Ungarn in die Bundesrepublik geflüchtet – entwarf für die
       Firma Elastogran das Ei. Die Serienproduktion erwies sich im Westen aber
       als zu teuer. Und so wurde es per Lizenzvergabe im Billiglohnland DDR
       hergestellt. Zunächst nur für den westdeutschen, später auch für den
       DDR-Markt. Dort wurde es zum Preis von 430 Mark verkauft. Das mutet billig
       an im Vergleich zu heutigen Preisen auf Ebay, oft jenseits der 1.000 Euro.
       1975 allerdings lag der Durchschnittslohn in der DDR laut statista.com bei
       889 Mark im Monat. Das „Garten-Ei“ war durchaus ein Luxus-Ei.
       
       ## Der „Känguru-Stuhl“ aus Schwedt
       
       Auch der ursprüngliche Entwurf des „Känguru-Stuhls“ kam von einem Designer
       aus dem Westen. Erich Moeckl entwickelte ihn angelehnt an den damals schon
       als Klassiker des [2][Popdesigns geltenden Panton-Stuhl des Dänen Verner
       Panton] – ein Freischwinger aus einem Guss. Moeckls untere Auflagefläche
       war durch eine diagonale Strebe mit der Sitzfläche verbunden, die
       Silhouette erinnert so an ein kniendes Känguru.
       
       Der Entwurf wurde vom DDR-Designer Siegfried Mehl für die Serienproduktion
       in Schwedt angepasst. Den Känguru-Stuhl fand man dann schnell auf den
       Terrassen von Cafés und den Ferienanlagen des Freien Deutschen
       Gewerkschaftsbundes. Mehl entwickelte auch eigenständige Serien von
       PUR-Möbeln. Den Sessel „Karat“ etwa, auf dessen breiter Sitzfläche –
       gepolstert oder ungepolstert – man geradezu versinken konnte. Nach der
       Wende war Mehl übrigens als Grafiker in den Uckermärkischen Landesbühnen
       Schwedt tätig.
       
       Polyurethan hat allerdings toxische Eigenschaften. Eine der Komponenten ist
       in der Herstellung hochgiftig. Bei Bränden entstehen Blausäureverbindungen.
       Es zu recyclen ist bis heute schwierig. Gegenwärtig wird Polyurethan
       weniger für quietschbunte Möbel, sondern vor allem als Dämmstoff in der
       Bauindustrie eingesetzt. Chemie bringt nicht nur Schönheit, wie es 1959
       hieß. Sie kann auch für gewaltige Probleme sorgen. Auch das spricht die
       Ausstellung in Eisenhüttenstadt an. Und [3][ohne sowjetisches Erdöl, das
       per Pipeline] seit 1963 direkt in Schwedt ankam, hätte es die Visionen aus
       dem PUR-Stoff ohnehin nicht gegeben.
       
       14 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /NS-Prozess-gegen-Sekretaerin/!5900495
   DIR [2] /Angestrengter-wohnen/!5171943
   DIR [3] /Filmemacher-Steyerl-und-Radynski/!6016739
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tom Mustroph
       
       ## TAGS
       
   DIR DDR
   DIR Design
   DIR Plastik
   DIR Ausstellung
   DIR BRD
   DIR Stasi
   DIR Wirtschaft
   DIR wochentaz
   DIR Social-Auswahl
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Ausstellung
   DIR Design
   DIR Küche
   DIR Plastik
   DIR Brandenburg
   DIR Fernsehfilm
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ausstellung „Fremde Freunde“: Verordnete Freundschaft
       
       Völkerfreundschaft wurde in der DDR hochgehalten. Was daran Ideal und was
       Wirklichkeit war, zeigt eine Ausstellung in Eisenhüttenstadt.
       
   DIR Berliner Ausstellung von Andrea Pichl: Erich Mielkes Frühstücksplan
       
       Andrea Pichl erzählt im Hamburger Bahnhof vom Waren- und Geldtransfer
       zwischen DDR und BRD. Ihre „Wertewirtschaft“ ist auch ein Kommentar zu
       Beuys.
       
   DIR Design für Kinder: Wo ist der latest Shit?
       
       Das Berliner Bröhan-Museum untersucht „Design für Kinder“ seit der Zeit der
       Reformbewegung. Die Ausstellung weist jedoch einige Leerstellen auf.
       
   DIR Tupperware und Frauen: Die Welt, so eng wie eine Tupperparty
       
       Von wegen lebenslange Garantie! Die drohende Tupperware-Insolvenz
       irritiert. Denn die Dosen stehen für haltbar gemachte Ungleichbehandlung
       der Frau.
       
   DIR Kunstausstellung über Plastik: Seine Vielfalt birgt auch Gefahren
       
       Zwischen Faszination und Erschrecken zeigt die „Plastic World“ in der
       Frankfurter Kunsthalle Schirn das Material. Manchmal auch nur als Schleim.
       
   DIR Podcast über Eisenhüttenstadt: Sie ist ein Modell
       
       Für einen Podcast kehrt der Performer Friedrich Liechtenstein in seine alte
       Heimat zurück. Das wirft ein neues Licht auf diesen utopischen Ort.
       
   DIR Aussteiger-WG-Film „Die Kommune“: Schöner wohnen mit Arte
       
       Filme über WGs sind mittlerweile fast ein eigenes Genre. Arte zeigt nun
       einen aus Dänemark. Der lohnt sich – besonders wegen des Mobiliars.