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       # taz.de -- Weltbild der Waldorfschule: Ein besserer Mensch sein?
       
       > Auf der Waldorfschule lernt man Stricken, aber ist mit Sozialem
       > überfordert. Wie unserer Autorin eine Weltanschauung übergestülpt wurde.
       
   IMG Bild: Hühner und Gänse in der Freien Waldorfschule Dinslaken
       
       Dankbar und stolz war ich, ein Waldorfkind zu sein. Ich war etwas
       Besonderes. Hatte die besseren Eltern, denen ich so wichtig war, dass sie
       mich auf die Waldorfschule schickten. Ich hatte das schönere Lernumfeld.
       Ich hatte die motivierteren Lehrkräfte, die für deutlich weniger Geld auch
       noch die Selbstverwaltung machten.
       
       Ich lernte die vermeintlich richtigeren und wichtigeren Sachen. Sowohl
       inhaltlich als auch praktisch. Kein sinnloses Auswendiglernen für [1][Noten
       wie an den „Staatsschulen“]. Wir lernten die Welt „ganzheitlich“ zu
       betrachten – und sprachen völlig gleichgeschaltet hunderte Gedichte im
       Chor. Und ich war nur mit Kindern umgeben, für die dasselbe galt. Von
       meinem 6. bis zu meinem 19. Lebensjahr war ich Teil einer sich isolierenden
       „Schulgemeinschaft“, und Waldorfkind sein wurde zu meiner Identität.
       
       Die Erwartung an uns war hoch, wenn auch nicht explizit ausgesprochen: Wir
       sollten die besseren Menschen werden. Letztens las ich im ersten
       Waldorflehrplan von etwa 1925: „Die Waldorfschulpädagogik beruht auf einer
       geistgemäßen Erkenntnis des Menschen, und sie wird Menschen in die Welt
       hinausschicken, die verstehen werden, was es heißt, wahrhaft ‚Mensch‘ zu
       sein und den heiligen Angelegenheiten der Menschheit zu dienen.“
       
       Ich bin mit dieser Haltung in die Welt gegangen – und konnte eigentlich nur
       daran scheitern. Außerhalb der Waldorfwelt war ich lost. Mir fehlte eine
       solide Allgemeinbildung – trotz selektivem Bingelearning für die acht
       Abifächer. Mir fehlte popkulturelle Bildung und der gesellschaftliche
       Diskurs meiner Zeit. Und nichts Besonderes mehr zu sein war irgendwie
       auch kränkend. Ich hatte zwar gute Noten, aber im Sozialen war ich
       überfordert.
       
       Die Waldorfwelt ist sehr kontrollierend: Vom Spielzeug über die Kleidung
       bis zum Gefühlsausdruck gab es „gut“ und „unerwünscht“. Mit hohen
       moralischen Werten und einer Weltwahrnehmung, in der es „uns“ und „die“
       gab, der Staat kalt und beschränkend ist und die Wissenschaft engstirnig.
       Und nun wollte ich „da draußen“ mit all diesen „anderen“ Menschen weiterhin
       ein besonders „gutes“ Leben zustande bringen.
       
       ## Fehlende Selbstkontrolle
       
       Als ob ich es all denen schuldig wäre, die aufopferungsvoll so viel in mich
       investiert haben.
       
       Und während ich von mir erwartete, besonders kompetent und menschlich
       gereift zu sein, schlitterte ich von einem Burn-out in den nächsten und
       war noch nicht mal fähig, einen gesunden Umgang mit dem Fernseher zu
       finden, der mir plötzlich frei zur Verfügung stand.
       
       Zudem fehlte mir die hohe Intensität meiner Waldorfzeit. Damals war nichts
       profan. Alles, was wir taten, war mit Bedeutsamkeit aufgeladen. Verglichen
       damit war mein Studium stumpf, und Gedanken von Sinnlosigkeit machten sich
       breit. Ich fühlte mich falsch und ich sehnte mich zurück „nach Hause“. Ich
       überlegte ernsthaft Waldorflehrerin zu werden. Ich war körperlich raus aus
       der Waldorfwelt, aber mental und emotional war ich noch tief drin.
       
       Ich kann Socken stricken, über hundert Kanons singen und Lemniskaten
       rückwärts laufen, aber ich habe als Jugendliche meine eigene Identität
       nicht ausreichend entwickeln können. [2][Waldorf ist eine Weltanschauung,
       für die ich mich nie bewusst entschieden] habe und die dennoch unbemerkt
       mein Sein und mein Leben über Jahrzehnte bestimmt hat.
       
       12 Aug 2024
       
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