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       # taz.de -- Repression in Tunesien: Erinnerungen an Ben Ali werden wach
       
       > Im Herbst wählt Tunesien. Doch Staatschef Saied scheint kein Interesse an
       > freien Präsidentschaftswahl zu haben. Hinzu kommt eine Verhaftungswelle.
       
   IMG Bild: Sitzt in Tunesien hinter Gittern: Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine (hier 2021)
       
       Ramallah taz | Anfang Oktober wählt Tunesien einen neuen Präsidenten. Doch
       die Verhaftungswelle der letzten Monate hat die größte Errungenschaft der
       Revolution von 2011 zerstört; [1][das Ende der Meinungsfreiheit] erinnert
       viele Tunesier an die Zeit von Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali.
       Am Montag nun verkündete die staatliche Wahlkommission: Lediglich 3 von 14
       Kandidaten dürfen bei der Wahl antreten. Neben dem amtierenden Präsidenten
       Kais Saied sind das Ayachi Zammel, ein unbekannter Aktivist der
       Zivilgesellschaft sowie der Gewerkschafter Zouhair Maghzaoui, der als
       Mitstreiter Saieds gilt.
       
       Die abgelehnten Kandidaten hatten laut Kommission unvollständige Unterlagen
       eingereicht oder andere Anforderungen nicht erfüllt. Mehrere Kandidaten
       beschwerten sich jedoch, bei der Anmeldeprozedur behindert worden zu sein.
       Fünf Bewerber mussten das Verfahren aus dem Gefängnis heraus organisieren.
       Die meisten Anführer der moderat islamistischen Partei Ennahda sitzen wegen
       angeblicher Verschwörung oder der Annahme von Geldern aus dem Ausland
       hinter Gittern. Ennahda-Mitglied und Ex-Gesundheitsminister Abdelatif Mekki
       wurde ebenso wie dem Medienunternehmer Nizar Chaari lebenslang untersagt,
       für Wahlen zu kandidieren. Beiden wird vorgeworfen, einen Staatsstreich
       gegen Saied geplant zu haben.
       
       Dieser hatte bis zum Jahr 2019 als Juraprofessor an der Universität Tunis
       gelehrt, bis er überraschend als Quereinsteiger in das Präsidentenamt
       gewählt wurde. Viele seiner aus den verarmten Regionen Tunesiens stammenden
       Anhänger verstanden zwar nur einen Teil seiner Reden – Saied spricht das in
       Tunesien eher unübliche Hocharabisch –, doch seine Kritik an der
       grassierenden Korruption und an den nach dem Arabischen Frühling
       entstandenen Parteien war ihnen Versprechen genug.
       
       In weiten Teilen Tunesiens hatte das Ende der Diktatur zwar
       Meinungsfreiheit, aber auch eine dramatische Verteuerung der
       Lebensmittelpreise gebracht. „Auch jetzt noch werden 70 Prozent der
       Wirtschaft von einem Dutzend Familien kontrolliert“, sagt ein
       Radiomoderator aus Tunis. Saied sei für sein Versprechen gewählt worden,
       die Islamisten und die Wirtschaftsmonopole zu brechen. „Aber dann entdeckte
       er, dass sich Korruption und Vetternwirtschaft in allen Bereichen der
       Gesellschaft breitgemacht haben“, so der Journalist. Nun glaube er, einen
       Kampf gegen buchstäblich alle politisch aktiven Tunesier führen zu müssen.
       
       ## Aktivistin als Störfaktor
       
       Noch vor einem Jahr hätte der Mann seinen Namen öffentlich gemacht, nun
       möchte er aus Angst vor der Staatsanwaltschaft anonym bleiben. Anlässlich
       des diesjährigen Jubiläums seines Staatsstreichs von 2022 begnadete Saied
       über 1.700 Tunesier, die aufgrund kritischer Kommentare, auch in sozialen
       Medien, hinter Gittern saßen.
       
       Doch gerade hoch angesehene Aktivist:innen wie Sihem Bensredine sitzen
       noch im Gefängnis. Die gelernte Journalistin war während der
       Kandidatenauswahl im Juli verhaftet worden. Seit 2023 darf sie Tunesien
       nicht verlassen. Öffentlich ist nur wenig über die Anschuldigungen gegen
       die Menschenrechtsaktivistin bekannt. Der Geldwäschevorwurf der
       Staatsanwaltschaft führt in oppositionellen Kreisen meist nur zu
       Kopfschütteln.
       
       Viele vermuten eher den langjährigen Einsatz der 73-Jährigen für die
       Aufarbeitung der Ben-Ali-Diktatur als Grund des Verfahrens. Bis 2011 war
       sie in der Liga für Menschenrechte aktiv, seitdem trat sie als Vorsitzende
       der Wahrheitskommission mit dem Aufdecken vieler Verbrechen und
       willkürlicher Verhaftungen dem noch immer nicht reformierten
       Innenministerium auf die Füße.
       
       In dem auf der Avenue Habib Bourguiba im Herzen von Tunis liegenden Gebäude
       wurden früher Hetzkampagnen gegen Bensredine organisiert. Nach der Flucht
       ins Ausland kehrte sie nach der Revolution zurück, um die Justizreform
       anzustoßen. Doch infolge der islamistischen Terrorwelle von 2015 und der
       Migrationskrise wurde das Innenministerium eher zu [2][einem Partner
       Europas] – und Sihem Bensredine ein Störfaktor.
       
       13 Aug 2024
       
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