URI: 
       # taz.de -- Handball bei Olympia: Stimmt. Scheiße. Sport ist Ibsen
       
       > Das DHB-Team um Alfreð Gíslason konnte in Paris zeigen, was diesen Sport
       > so einzigartig macht. Und was Fußball längst verloren hat.
       
   IMG Bild: Überzahl, Unterzahl? Hauptsache Augenhöhe. Bundestrainer Gíslason bei einer Spielunterbrechung
       
       Mein persönlicher Olympiamoment war, als [1][Alfreð Gíslason] zu Beginn
       einer Auszeit sagte: „Wir spielen Überzahl, okay?“ und Juri Knorr (der im
       Gegensatz zu Gíslason im übrigen gar nicht knorrig wirkt, sondern strebsam
       und nett) dann antwortete: „Wir sind Unterzahl“ und Gíslason dann hoch zur
       Anzeigetafel nicht etwa lugte, sondern spähte, um dann, nach drei Sekunden,
       die seine alten Augen brauchten, um sich zu justieren, zu sagen: „Stimmt.
       Scheiße.“
       
       Und besonders schön finde ich das „Stimmt“.
       
       Dahinter stehen zwei Geschichten. Die eine ist jene, wie sich diese
       Mannschaft überhaupt für [2][Olympia] qualifiziert hat und dann auch der
       Weg, den sie genommen hat, um ins Finale zu kommen. [3][Handball] ist eine
       jener Sportarten, in denen immer alles am seidenen Faden hängt, eine
       Sportart, in der der Konjunktiv zwei zu seinem Recht kommt: Es könnte auch
       ständig anders gekommen sein. Früher war diese Art der Spannung dem
       [4][Fußball] vorbehalten, als einer der ganz wenigen Sportarten, in denen
       auch hoffnungslos unterlegene Mannschaften gegen sehr viel bessere
       Gegner*innen gewinnen können.
       
       Die verschiedenen Fußballverbände haben in ihrem Willen, aus zwei, drei
       Handvoll Clubs jeweils eigene weltweit scheinende Marken zu machen, dieses
       chaotische Moment vollständig drangegeben (weswegen Fußballfans inzwischen
       lieber über die Performance ihrer Manager diskutieren als über den Zauber,
       der von irgendeinem Spieler ausgeht). Der Kapitalismus neoliberaler
       Spielart hat den Fußball furchtbar profanisiert.
       
       Im Handball ist es so: Schwächere Mannschaften verlieren auf jeden Fall,
       wenn aber Mannschaften ungefähr gleich stark sind, entscheiden so
       kryptische Merkmale wie die Tagesform. Auch eine Tagesform ist ein
       komplexes Gebilde, aber immerhin wurde das Thema „Spielglück“ noch nicht
       völlig aus dem Spielgeschehen entfernt. Dass die deutsche
       Nationalmannschaft überhaupt bei Olympia antrat, ja antreten durfte,
       verdankt sie einem denkbar knappen Sieg gegen Österreich. Dieser ganze Hype
       hing an zwei, drei Würfen; zwei, drei Reflexen. Mehr nicht.
       
       Es stimmt, dass diese Mannschaft sich a posteriori den Platz bei Olympia
       verdient hat, auch die Medaille verdient hat; sie hat sich gegen eine Menge
       Mannschaften durchgesetzt, die sie in den vergangenen Jahren immer wieder
       vor unlösbare Probleme stellten, und das mit einem relativ jungen Team, das
       seine Prime vermutlich erst noch vor sich haben wird (wenn es Glück hat).
       Der fantastische Sieg gegen Frankreich im Viertelfinale, der bis eine
       Zehntelsekunde vor Abpfiff völlig unwahrscheinlich schien, war genau so ein
       Moment, den Handballfreund*innen so sehr schätzen: Die Peripetie eines
       Spiels kann wenige Momente vor dem Schlussakt zuschlagen. Sport ist
       modernes Drama. Handball ist Ibsen.
       
       Das ist das eine: Diese Mannschaft hat deswegen überzeugt, weil sie gar
       nicht überzeugend war. Sie hat ihre Spiele nicht runtergespielt, sondern
       musste immer wieder strampeln, sich immer wieder neu erfinden. Und das ist
       die zweite Geschichte dieser Silbermedaille: Alfreð Gíslason hat das aufs
       Prächtigste gemanagt.
       
       Aus einer Mannschaft, die vom Potenzial vielleicht Viertelfinale war, hat
       er einen Finalteilnehmer gemacht, nicht, indem er sie tyrannisierte oder
       bestimmte, was Sache ist, sondern indem er sie führte, mit Nachsicht und
       Präsenz, Strenge und Güte. Wer Gíslason vor 15 Jahren erlebte, kann das
       kaum glauben: Damals war er ein dumpfer Diktator, besoffen von all den
       Titeln, die er holte, getragen von den besten Handballern der Welt, die man
       ihm zur Verfügung stellte. Inzwischen ist er viel weicher geworden, ohne
       altersmilde zu sein, und auch das ist eine dieser schönen Geschichten, die
       Olympia geschrieben hat.
       
       Gewonnen hat freilich am Ende Dänemark, es hätte aber jede Mannschaft
       gewonnen, die Mathias Gidsel in ihren Reihen hat. Schade, scheiße, aber
       stimmt schon so.
       
       14 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Handballtrainer-Alfred-Gislason/!5827838
   DIR [2] /Schwerpunkt-Olympische-Spiele-2024/!t5058793
   DIR [3] /Handball/!t5021992
   DIR [4] /Fussball/!t5006538
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frédéric Valin
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Helden der Bewegung
   DIR Handball
   DIR Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
   DIR Social-Auswahl
   DIR Handball-WM
   DIR Handball
   DIR Kolumne Olympyada-yada-yada
   DIR Kolumne Helden der Bewegung
   DIR Kolumne Helden der Bewegung
   DIR Kolumne Helden der Bewegung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Team Deutschland vor der Handball-WM: Eine gewisse Reife
       
       Fünf Jahre ist Alfreð Gíslason schon Handball-Bundestrainer. Seine Arbeit
       ist so solide, dass Team Deutschland als Mitfavorit in die Handball-WM
       geht.
       
   DIR Handball-Spektakel in Berlin: Tag des offenen Tores
       
       Die Füchse Berlin beweisen gegen Paris St. Germain ihr
       Champions-League-Tauglichkeit und verlieren die torreiche Partie doch knapp
       mit 38:40.
       
   DIR Medaillenspiegel Olympische Spiele: Das Goldlöckchenmodell
       
       Normalerweise führt den Medaillenspiegel an, wer am meisten Goldmedaillen
       hat. Eine andere Betrachtung ist möglicherweise fairer.
       
   DIR Schach-Legenden im Vergleich: Der Beste am Brett
       
       Wer ist der größte Schachspieler? Carlsen, Fischer oder Kasparov? Es ist
       Viswanathan Anand.
       
   DIR Leverkusens Meistertrainer Xabi Alonso: Angriff im Zentrum
       
       Bayer-Coach Xabi Alonso hat fast alles richtig gemacht und wird von fast
       allen gemocht. Wie ist ihm das gelungen?
       
   DIR Fußball und Haltung: Lob für die Laptoptrainer-Antifa
       
       Ralf Rangnick war mal ein besserer Brauseverkäufer. Heute ist er
       Österreichs Teamchef und macht Ansagen gegen Homophobie und den drohenden
       Rechtsruck.