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       # taz.de -- Sammlung Prinzhorn in Heidelberg: Fluch und Gegenfluch
       
       > In Heidelberg gewährt eine Ausstellung Einblick in die Kunst von
       > „Menschen mit Psychiatrieerfahrung“. Lange bekam diese kaum Beachtung.
       
   IMG Bild: Hinterließ ihre Werke der Sammlung Prinzhorn: Cornelia Hartkopf „Abendländische Psyche“, Inv.-Nr. 8551/9 (Ausschnitt)
       
       Das ungewöhnliche Setting des Museums Sammlung Prinzhorn lässt sich
       bereits vor dem Betreten allein auf der olfaktorischen Ebene wahrnehmen:
       Gelegen auf dem Gelände des Alt-Klinikums Heidelberg, befindet sich die
       Sammlung in einem weiterhin für die Dermatologie genutzten Seitenflügel.
       Die charakteristischen Düfte eines Krankenhauses, dominiert von
       Desinfektions- und Reinigungsmitteln, stehen im Flur.
       
       Die Sammlung selbst wartet hinter einer dieser unscheinbaren, dennoch
       typischen Klinik-Glastüren, die den Eingang zum bereits 1890 errichteten
       Hörsaalgebäude gewährt. Man könnte meinen, dass der Kunst unter diesen
       Bedingungen, die so gar nichts mit den großen Repräsentationsbauten von
       Museen gemein haben, weniger Wert beigemessen wird. Doch in Heidelberg
       scheint eher ein ausgeprägter Stolz darüber zu herrschen, dass die Stadt
       eine der bedeutendsten Sammlungen für Kunst von Menschen mit
       Psychiatrieerfahrungen beheimatet.
       
       Da fällt auch nicht weiter ins Gewicht, dass die sprachliche Konstruktion
       „Kunst von Menschen mit Psychiatrieerfahrung“ holprig ist. Auf dem
       Kunstmarkt macht man es sich leichter, subsumiert die in der Sammlung
       Prinzhorn präsentierten Künstler*innen meist [1][unter dem Label
       „Outsider Art“.] Der 1972 durch den englischen Kunsthistoriker Roger
       Cardinal eingeführte und bis heute populäre Begriff führt all jene
       Künstler*innen zusammen, die aus unterschiedlichen Gründen zu
       „Außenseiter“ degradiert werden: Behinderungen oder Beeinträchtigungen,
       Wohnungslosigkeit, Lernschwierigkeiten und eben psychische Erkrankungen –
       es ist eine hoch disparate Gruppe, die da zusammengeschmissen wird.
       
       Dass man sich in Heidelberg auf die spezifische „Psychiatrieerfahrung“
       stützt, hat mit der Genese der Sammlung zu tun. Die wurde bereits um 1900
       vom ehemaligen Direktor der Psychiatrie, Emil Kraepelin, ins Leben gerufen
       und später durch den Assistenzarzt Hans Prinzhorn ausgeweitet. [2][Jener
       Prinzhorn, der heute der Sammlung seinen Namen leiht,] beschrieb als Erster
       die von den Patient*innen erstellten Bilder, Stoffstücke und Plastiken
       aus wissenschaftlicher Perspektive. Er fasste diese Erkenntnisse in dem
       Buch „Die Bildnerei der Geisteskranken“ zusammen, was zwar kaum Anerkennung
       bei seinen medizinischen Kolleg*innen fand, dafür umso stärker bei
       Surrealist*innen, Dadas und anderen Avantgardisten resonierte.
       
       ## Auch die Nazis interessierten sich für die „Fälle“
       
       In den Folgejahren interessierte man sich immer wieder für die „Fälle“, wie
       Hans Prinzhorn seine Künstler*innen beschrieb – darunter die Nazis, mit
       deren faschistischer Ideologie Prinzhorn kurz vor seinem Tod 1933 sogar
       noch in öffentlichen Schriften sympathisierte. Er muss ihren
       Vernichtungswillen verkannt haben: Die Nazis hielten die von ihm erforschte
       Kunst für degeneriert und pervers. Viele der Psychiatrie-Künstler*innen
       wurden in der [3][„Euthanasie“-Aktion T4 ermordet].
       
       Die Sammlung ist nach 1945 fast in Vergessenheit geraten, die Kunstwerke
       lagerten lange auf dem Dachboden der Klinik, ehe die Ärztin Inge Jarchow
       eine wissenschaftliche Aufarbeitung forcierte. Die mündete 2001 in dem
       heutigen Museum. Seit 2002 wird das Prinzhorn-Museum von dem
       Kunsthistoriker und Psychologen Thomas Röske geleitet, der in der
       Zwischenzeit das weltweite Renommee und das enorme Wachstum des Bestands
       verantwortete. Die Sammlung bietet heute weit mehr als nur Kunst des frühen
       20. Jahrhunderts, wie eine aktuelle, höchst sehenswerte Schau, aufzeigt:
       „Neues aus der Sammlung (1835–2024)“.
       
       Kuratorin Ingrid von Beyme gewährt einen abwechslungsreichen, obwohl nur
       kleinen Einblick in das mittlerweile 40.000 Werke umfassende Konvolut.
       Betritt man den kubischen alten Hörsaal, ist man schon auf Kollisionskurs
       mit zentral gestellten Wänden, die die ältesten Exponate aus dem frühen 19.
       Jahrhundert zeigen. Das in Bleistift gefertigte romantische Frauenportrait
       „Hony soit qui mal y pense“ (1897) einer Blanche Warburg, von der man
       abgesehen von einer wahnhaften Episode wenig weiß, hängt unweit von den
       surrealistischen Illusionen des Patienten Josef Reis. Die sind alle vor dem
       Jahr 1920 entstanden. Nur skizzenhaft führte er mit dem Bleistift seine
       Pareidolie „Zum Festplatz Weinhalle Festplatz“ (sic!) aus, man meint ein
       Gesicht aus der Anordnung von Gegenständen zu erkennen.
       
       Warum Warburg und Reis diese Blätter hinterließen und warum Ärzt*innen
       diese aufgehoben haben, kann nicht abschließend geklärt werden. Die Frage
       nach der künstlerischen Motivation steht ohnehin im Raum: Während die
       Papierarbeiten aus der Heil- und Pflegeanstalt Gugging in Niederösterreich
       vor allem nach Aufforderung produziert wurden – der behandelnde Psychiater
       Leo Navratil hatte bereits 1954 seine Patient*innen DIN-A6-Zettel
       beschriften und bemalen lassen, um sich „ein Bild“ machen zu können –, sind
       die karikaturesken Aquatinta-Drucke auf Bütten von Rolf Hausberg deutlich
       Ausdruck eines (selbst-)bewussten Künstlers.
       
       ## Zwischen Kunst und Selbsttherapie
       
       Einige der Werke in der Ausstellung sind exzellent: Cornelia Hartkopfs
       Linolschnitt „Ground Zero oder Meine Angst in der Kölner U-Bahn“ zeigt ein
       symbolistisches Formenarsenal, das um eine zentrale Frauenfigur
       einstürzende Häuserblöcke platziert und hiermit an den Einsturz des Kölner
       Stadtarchivs gemahnt. Hartkopf hat ihre Werke selbst der Sammlung Prinzhorn
       überlassen.
       
       Andere – vor allem die historischen – Fundstücke werfen die Frage auf, ob
       die bekritzelten Schnipsel in einer künstlerischen Motivation entstanden
       oder doch bloß einen (selbst-)therapeutischen Wert besaßen. Es ist die
       zentrale Frage der Ausstellung: Sicher sind alle ausgestellten Werke auch
       Kunstwerke, aber sind sie von Künstler*innen geschaffen worden?
       
       „Neues aus der Sammlung (1835–2024). Entdeckungen und Erwerbungen“:
       Sammlung Prinzhorn, Heidelberg, bis 15. September 2024
       
       15 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
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