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       # taz.de -- Venezolaner*innen in Berlin: „Diktaturen fallen nicht durch Wahlen“
       
       > Tausende Venezolaner*innen leben in Berlin. Seit den Wahlen am
       > Sonntag bangen sie um ihre Freunde und Angehörigen vor Ort. Drei
       > Protokolle.
       
   IMG Bild: Venezolanische Fahne während einer Demo der Opposition gegen die offiziellen Wahlergebnisse in Caracas
       
       ## Guillermo Carrasquero, 29, Künstler aus Caracas: „Ich würde so gerne
       mitkämpfen“
       
       Die Straßen meiner Stadt brennen. Die Menschen sind in Aufruhr. Einerseits
       ist es traurig, weil sie Gewalt anwenden und töten, andererseits ist es der
       einzige Weg, gegen [1][die Diktatoren] anzukämpfen. Ich würde jetzt so
       gerne in Caracas sein und mitkämpfen. Es fühlt sich so entkräftend an, in
       Berlin zu sitzen und nichts tun zu können.
       
       Ich kam 2017 nach Berlin. Mein Vater war politischer Stratege für die
       Oppositionspartei. Ich verließ [2][Venezuela], weil ich wusste, dass ich
       mir woanders eine bessere Zukunft aufbauen könnte. Ich landete auf Umwegen
       in Berlin und wusste sofort, dass ich hierbleiben wollte.
       
       Hier hatte ich endlich das Gefühl, eine Stimme zu haben. Aber mit meinem
       venezolanischen Pass konnte ich kein Arbeitsvisum beantragen, also lebte
       ich die ersten Jahre illegal hier und verkaufte meine Kunst auf der Straße.
       Dann erhielt ich die spanische Staatsbürgerschaft und durfte in Berlin
       arbeiten. Heute bin ich Universitätsprofessor, Künstler und Tätowierer.
       
       Ich habe mir hier ein tolles Leben aufgebaut, aber ich denke jeden Tag an
       Venezuela. Egal wie wohl ich mich irgendwo anders fühle, dieses Gefühl von
       Heimat habe ich nur dort. Ich liebe mein Land, deshalb kann ich mir trotz
       allem vorstellen zurückzugehen. Ich fühle mich auch dazu verpflichtet, all
       die Dinge, die ich im Ausland gelernt habe, zurückzubringen. Das nicht zu
       tun fühlt sich manchmal scheinheilig an. Aber es ist auch nicht leicht
       zurückzugehen.
       
       In den letzten zehn Jahren war ich dreimal in Venezuela. Das erste Mal war
       2016, damals wurde ich vom Militär gekidnappt. Ich war mit Freunden
       wandern, wir wurden vom Militär abgefangen und stundenlang in den Bergen
       festgehalten. Wir mussten uns ausziehen und vor gezückter Waffe tanzen. Sie
       raubten uns aus und zwangen uns dazu, Überweisungen zu tätigen, dann
       ließen sie uns gehen. Es war der reinste Psychoterror.
       
       Nach dieser Erfahrung war ich so traumatisiert, dass ich sieben Jahre lang
       nicht nach Hause zurückgekehrt bin. Keine noch so große Liebe zu meinem
       Land ist eine solche Erfahrung wert.
       
       Es wäre so schön gewesen, vergangenen Montag aufzuwachen und sagen zu
       können: Wir haben gewonnen. Sie haben uns die Macht gegeben. Aber ich
       wusste, dass sie die Macht nicht aus der Hand geben würden, unabhängig
       vom Wahlausgang. [3][Maduro lügt die ganze Welt an], niemand unternimmt
       etwas dagegen und es bleibt dasselbe totalitäre System. So geht das seit 25
       Jahren. Es macht einen verdammt traurig.
       
       Nach all dem Schmerz und allem, was wir durchgemacht haben, blicke ich
       zynisch und realistisch auf die Situation. Und trotzdem ist da noch ein
       Funke Hoffnung. Wir haben so sehr gehofft, dass es einen Wandel geben würde
       und wir Teil dieses Wandels sein könnten. Dass wir das Land wieder aufbauen
       und investieren könnten, Unternehmen gründen, neue Ideen entwickeln, neue
       Kunst, neue Musik, neue Kultur. Aber mit der Betrugswahl haben sie uns
       diese Möglichkeit genommen.
       
       Was jetzt passieren wird, weiß keiner. Ich will das Beste hoffen, aber das
       Schlimmste erwarten, um nicht wieder in eine lange Depression zu fallen.
       
       ## Marianna Jimenez (Name geändert), 31, Produktionsdesignerin aus Caracas:
       „Ich fühle mich in Berlin oft nicht verstanden“
       
       Seit Tagen schlafe ich nicht mehr richtig, hänge nur noch am Telefon,
       schaue mir Videos aus Venezuela an und telefoniere mit Freunden und Familie
       zu Hause. Ich mache mir große Sorgen um sie. An die politische Situation in
       Venezuela bin ich gewöhnt, ich habe mein ganzes Leben lang so viel geweint
       deswegen. Aber seit den Protesten bin ich besonders verängstigt, weil die
       Regierung in der Vergangenheit so viele Menschen getötet hat.
       
       Als Venezolaner haben wir jedoch eine unermüdliche Hoffnung. Und dieses Mal
       fühlt es sich tatsächlich anders an. Ich habe das Gefühl, dass die
       Bevölkerung zum ersten Mal aufwacht seit den [4][letzten großen Protesten
       2017]. Die Menschen haben genug. Es hat noch nie landesweit so viele
       Proteste gegeben, auch in Regionen, in denen die Regierung bislang immer
       unterstützt wurde. Es ist so schön zu sehen, wie sich die Menschen
       zusammenschließen, denn die Diktatoren haben uns 25 Jahre lang getrennt.
       Ich glaube, dass dies der Anfang vom Ende sein könnte.
       
       Es ist ein Privileg, in Berlin zu sein, aber ich wäre gerade so gerne dort,
       auch wenn es gefährlich ist. Ich möchte Teil der Freiheitsbewegung der
       Zivilbevölkerung sein. In Berlin kenne ich viele Venezolaner, aber wir sind
       keine Community. Ich glaube, wir tragen alle so große Traumata in uns, dass
       wir uns deshalb nicht so stark mit anderen Venezolanern umgeben wollen. Ich
       wünschte mir aber, dass wir vereint wären, denn ich fühle mich in Berlin
       oft nicht verstanden.
       
       Die letzten Monate haben mir gezeigt, wie scheinheilig unsere ideologische
       Blase in Berlin ist. Ich habe selbst linke Überzeugungen, aber bin sehr
       frustriert, weil ich keine Unterstützung vom linken Europa bekomme. Viele
       meiner Freund*innen setzen sich für [5][Palästina] oder Syrien ein, aber
       wenn es um Venezuela geht, bleiben sie still.
       
       Das ist etwas, das ich mein Leben lang in Europa erlebt habe. Menschen
       betrachten den Konflikt binär: links gegen rechts. Und weil Venezuela
       angeblich ein sozialistischer Staat ist und viele denken, links ist gut,
       sehen sie kein Problem. Aber der Staat ist nicht sozialistisch, er basiert
       auf Lügen. Es geht hier nicht um rechts gegen links, es geht um
       Opposition gegen totalitäre Regierung.
       
       Seit ich Venezuela vor 14 Jahren verlassen habe, musste ich mir immer
       wieder da ein Zuhause aufbauen, wo ich gerade war. Eine Zeit lang war das
       in Spanien, wo ich als Journalistin bei einer Nachrichtenagentur gearbeitet
       habe. Aber sie wollten nicht kritisch über Venezuela Bericht erstatten,
       weil die Leute in Spanien die linke spanische Partei unterstützten. Das hat
       etwas in mir zerbrochen.
       
       Deshalb bin ich 2016 nach Berlin gezogen und in die Kunstbranche
       gewechselt. Als ich ankam, eröffnete sich mir eine neue Welt voller
       Möglichkeiten. Das Gemeinschaftsgefühl in der Stadt war so inspirierend, es
       hat mir mein Herz und meine Seele geöffnet. In Berlin fühle ich mich zu
       Hause, zumindest im Moment.
       
       Aber seit einigen Tagen habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich nach
       Venezuela gehen und etwas aufbauen könnte. Ich habe so viel Hoffnung und
       gleichzeitig so viel Angst, wieder von der Regierung demoralisiert zu
       werden.
       
       ## Orlando Gonzalez (Name geändert), 35: „Ich war mir sicher, dass ich als
       Nächstes sterben würde“
       
       Die letzten Tage waren hart. Ich bin deprimiert, weine ununterbrochen und
       habe nachts Angst. Ich bin ein einziges Gefühlschaos. Die Menschen, die in
       den Straßen kämpfen, sind so wütend. Diese Wut hatte ich früher auch, jetzt
       hat sie sich in Enttäuschung verwandelt.
       
       Am Tag der Wahlen war ich kaum emotional, ich hatte keine Kraft mehr dazu.
       Ich wusste, dass das System so korrupt ist, dass die Machthaber das
       Wahlergebnis ohnehin nicht anerkennen würden. Ich war einfach betäubt. Erst
       als ich sah, wie die Gewalt eskalierte, berührte das mich. Es werden wieder
       viele Menschen sterben; die Regierung wird diese jungen Menschen töten, die
       so verzweifelt sind, dass sie lieber sterben wollen, als so zu leben.
       
       Ich habe viele Freunde bei Protesten verloren, meine Eltern waren bei den
       tödlichsten Demos dabei. Sie haben mir verboten, an politischen Aktionen
       teilzunehmen. Aber ich wollte für die Demokratie kämpfen, ich war
       überzeugt, dass ich bis zum Ende in Venezuela bleiben und ein erfülltes
       Leben führen würde.
       
       Doch es wurde immer gefährlicher und ich sah zu, wie meine Freunde das Land
       verließen, um sich zu retten. In dem Jahr, in dem ich wegging, war so
       häufig eine Person neben mir gestorben, dass ich mir sicher war, dass ich
       im nächsten Monat sterben würde.
       
       Ich war Journalist und arbeitete für eine Zeitung. Das Recht auf freie
       Meinungsäußerung wurde langsam abgeschafft, Zeitungen von der Regierung
       aufgekauft und Leute gefeuert, die eine andere Meinung hatten. Ich wusste,
       dass ich meinen Job verlieren würde, also fing ich an Geld zu sparen und
       Deutsch zu lernen.
       
       Vor 10 Jahren kam ich nach Berlin. Ich bin queer und wurde deswegen zu
       Hause schlecht behandelt und ausgegrenzt. Berlin ist sehr offen, das
       schätze ich sehr. Ich fand einen deutschen Partner, wir heirateten. Erst so
       konnte ich einen legalen Job finden und arbeite heute als Fotograf.
       
       Ich fühle mich nicht schlecht, das Land verlassen zu haben. Ich musste eine
       egoistische Entscheidung treffen, um am Leben zu bleiben. Viele Freunde aus
       Venezuela sind auch nach Berlin gezogen und wir haben hier eine Art Familie
       gegründet. Nach der Wahl haben wir Bier getrunken und venezolanische Musik
       gehört, wir unterstützen uns. Doch in Berlin konfrontieren viele linke
       Menschen Venezolaner. Sie denken, Venezuela ist links und
       propalästinensisch. Aber das ist ein Irrglaube. Die Regierung manipuliert
       linke Ideale und das linke Vokabular, aber ist und bleibt ein totalitäres
       Regime.
       
       Ich bin in Berlin politisch aktiv, um Wissen über Venezuela nach
       Deutschland zu bringen. Ich will darauf aufmerksam machen, dass die
       [6][Fluchtbewegung] aus Venezuela mit Syrien und [7][Afghanistan] eine der
       größten weltweit ist. Aber in der deutschen Bevölkerung gibt es dafür nur
       wenig Empathie. Die Leute stecken einen in eine Schublade und denken, man
       sei privilegiert, dabei ist das Gegenteil der Fall. Ich schicke Geld nach
       Hause, um meine Familie zu unterstützen. Andere denken, ich will ihnen in
       Berlin das Leben stehlen, aber das will ich nicht. Ich will nur leben.
       
       Ich hoffe so sehr, dass sich dieses Mal etwas ändert. Bei den vorherigen
       Protesten waren es vor allem junge Leute, die protestierten. Dieses Mal ist
       der Protest größer und wütender. Alle Teile der Gesellschaft haben die
       Schnauze voll. Venezuela ist eine Diktatur. Und Diktaturen fallen nicht
       durch Wahlen. Das ist die bittere Wahrheit.
       
       31 Jul 2024
       
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