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       # taz.de -- „Nahaufnahme“ von Christopher Rüping: Versteckte Bewerbung
       
       > Gemeinsame Wege finden ist eine Stärke des Theaterregisseurs Christopher
       > Rüping. Auch das Publikum nimmt er so mit. Ein Buch stellt ihn vor.
       
   IMG Bild: Porträt des Regisseurs Christopher Rüping
       
       Robert Wilson, Alain Platel, Sasha Walz, Glenn Gould: Die Künstler*innen,
       an die der Alexander Verlag in seiner Reihe „Nahaufnahme“ heranzoomt,
       gehören zu den Größten ihrer Zunft. Nun ist auch [1][Christopher Rüping]
       dabei, noch nicht mal vierzig, aber längst schon ein Solitär des
       Regietheaters, das bei niemandem so nahbar ist und so warm ausstrahlt wie
       bei ihm.
       
       „Die Energie, die man im Theater aus dem Nichts gewinnt, muss weitergegeben
       werden“, sagt Rüping selbst. Und weil die Hauptquelle seines
       Theaterreaktors die gemeinsame Suche ist, haben die Herausgeber – die
       Dramaturgen Vasco Boenisch und Malte Ubenauf – viele seiner Mitstreiter mit
       ins Boot geholt. Ihre „Nahaufnahme Christopher Rüping“ stellt nicht auf
       einen Regieeinzeltäter scharf, sondern ist voll von multiperspektivischen
       Schnappschüssen.
       
       Der Untertitel „Gespräche, Begegnungen, Material“ unterstreicht das noch.
       Um die vierzig Menschen, von der künstlerischen Kern-„Familie“ bis hin zu
       einem Überraschungsgast aus der Philosophie, kommen darin mit Rüping und
       miteinander ins Gespräch. Über seine kollaborative Arbeitsweise, sein
       Theaterverständnis aus dem Geist des Erzählens und der immer durchschaubar
       bleibenden Fiktion, aber auch über sein Menschenbild und seine
       Reibungspunkte mit der Institution.
       
       ## Revue der Stationen, Vielzahl der Stimmen
       
       Das größte Stimmengewirr herrscht bei einem „Daydrinking“ per Zoom, zu dem
       im Oktober 2023 binnen fünf Stunden 35 Weggefährten des Regisseurs
       aufgelaufen sind: Schauspieler*innen wie Wiebke Mollenhauer, Nils
       Kahnwald, Damien Rebgetz und Viviane de Muynck, Bühnenbildner*innen
       wie Lene Schwind und Jonathan Mertz, Musiker*innen, Dramaturg*innen
       und Intendanten erinnern sich an seine Stationen seit Beginn der 2010er
       Jahre, vor allem an den Münchner Kammerspielen, [2][dem Thalia Theater
       Hamburg] und den Schauspielhäusern in Bochum und Zürich.
       
       Als Materialkorb betrachtet, aus dem man hier und da etwas mit besonders
       viel Glitzer, Formulierungsoriginalität oder Neuigkeitswert herausgreift,
       ist das toll. Wer sich aber bis dahin chronologisch durch den Interviewband
       gelesen hat – das real um 12 Uhr mittags gestartete „Daydrinking“ findet
       sich auch im Buch in der Mitte –, stellt fest, dass frei nach Karl Valentin
       bis dahin das meiste bereits gesagt wurde, nur noch nicht von jedem und
       genau so.
       
       Um einige Grundüberzeugungen und zentrale Inszenierungen wie das
       bahnbrechende [3][Zehnstundenepos „Dionysos Stadt“], die inzwischen ans
       Deutsche Theater Berlin weitergezogene Familienimplosion „Einfach das Ende
       der Welt“ oder der ebenfalls zum Theatertreffen eingeladene, schwer mit
       musikalischem Trost bepackte Dante-Abend „Das neue Leben“ geht es halt
       immer wieder. Und weil die Gesprächspartner permanent wechseln, muss immer
       jemand kurz ausholen und Dinge erklären, die an anderer Stelle bereits
       erklärt worden sind.
       
       „… wie ich in diesem Buch unerträglich oft zu Protokoll gegeben habe …“,
       kommentiert Rüping selbst die bei diesem Verfahren unvermeidliche
       Redundanz. Die Offenheit, mit der er auch eigene Krisen und Versäumnisse
       anspricht, nimmt auch menschlich für ihn ein. Die Publikation macht sich
       dieses Ungeschminkte ebenfalls zu eigen und lässt selbst Sätze wie „Jetzt
       habe ich aus Versehen Joachim Lux aus dem Zoom geworfen“, stehen. Nun ja.
       
       Kompakter und gehaltvoller sind die Gespräche, zu denen Rüping
       außenstehende Künstler*innen gebeten hat, deren Arbeit er selbst
       spannend findet. [4][Mit Tim Etchells von Forced Entertainment] etwa
       unterhält er sich über Durational Performances und gibt freimütig zu, wie
       viel er sich da bei den Briten abgeschaut hat.
       
       Mit am überraschendsten und auch von ihrer Seite erstaunlich ungeschützt
       ist sein [5][Gespräch mit Andrea Breth], deren psychologisch genaue
       Inszenierungen oft kanonischer Stoffe man nie und nimmer in einem Atemzug
       mit Rüpings gemeinschaftlichen Befragungen des Erfahrungsraums Theater in
       Verbindung gebracht hätte.
       
       Fast genauso aufschlussreich ist aber Rüpings Gesprächsführung, die so
       zugewandt und aufmerksam ist, dass man schon eine ungefähre Vorstellung von
       der besonderen Atmosphäre auf seinen Proben bekommt, die im Buch so
       vielstimmig beschworen wird. Und die, wenn sie gelingen, zu einzigartig
       mutigen, berührenden und unkonventionellen Arbeiten führt.
       
       Das [6][Ende des Zürcher Experiments] und die bevorstehenden Umbrüche an
       anderen für Rüping zentralen Theatern geben am Ende des Buches auch Anlass
       für Zukunftsmusik. Eine Theaterpause für den noch jungen Erfolgsregisseur,
       ein Teilausstieg aus dem System mit nur noch einer weltweit tourenden
       Riesenproduktion pro Jahr – oder doch die Übernahme eines Hauses, „um
       gemeinsam herauszufinden, ob Stadttheater irgendwie anders geht“? In Berlin
       wäre ein Haus frei und möglicherweise für derartige Experimente offen. Und
       ja, man kann diesen Materialband auch als versteckte Bewerbung verstehen.
       
       9 Aug 2024
       
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