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       # taz.de -- Historisch Zugfahren nach Chemnitz: Auf dem Abstellgleis
       
       > Das sächsische Chemnitz ist vom Fernverkehr abgehängt. Wer in die
       > Europäische Kulturhauptstadt 2025 will, besteigt oft noch einen Zug aus
       > DDR-Zeiten.
       
   IMG Bild: Den Zug ganz so wie früher genießen
       
       Chemnitz taz | Man muss nicht mal die Augen öffnen, um mitzubekommen, dass
       man sich hier mit dem Zug einer kleinen Zeitreise ausgesetzt hat. Schon das
       laute Quietschen der Bremsen gibt einen Hinweis darauf, warum nicht erst
       das Ziel, sondern allein schon die Bahnstrecke eine Reise wert ist.
       
       Die Drehfalttüren beim Einstieg lassen sich nur mit etwas Muskelkraft
       öffnen, zwei steile Stufen geht es hinauf, dann den schmalen Gang entlang,
       Tür aufschieben und sich ins Polster des Abteils fallen lassen. Seit 2015
       fahren auf der Strecke zwischen Leipzig und Chemnitz wieder Dieselloks mit
       Abteilwagen der DDR-Reichsbahn, die ihren ersten Frühling bereits in den
       80ern erlebt hatten. Statt Klimaanlage gibt es in den Abteilen der „langen
       Halberstädter“ also weit öffenbare Fenster, aus denen sich ganz lässig
       rauchen oder der Kopf in den Wind hängen lässt, wie es zuletzt die
       Chemnitz-Botschafter von der Musikgruppe Kraftklub [1][in einem Musikvideo]
       getan haben. Der Regionalexpress taugt für die Schwarz-Weiß-Ästhetik.
       
       ## Der schnellste Weg mit dem DDR-Zug
       
       Als die Tochter des Bahnunternehmens Transdev 2015 die Ausschreibung für
       die Strecke gegen die Deutsche Bahn gewann, versprach sie den Fahrgästen
       für die rund einstündige Fahrt zwischen den beiden sächsischen Städten
       „Fernverkehrsqualität“. Vielleicht war das Versprechen damals auch als
       Trostpflaster gemeint. Denn das eine Viertelmillion Einwohner zählende
       Chemnitz ist vom Fernverkehr abgehängt. Um einen ICE zu erwischen, führt
       der schnellste Weg erst einmal mit dem DDR-Zug nach Leipzig.
       
       Schnell aber ist dabei so eine Sache. Zugausfälle, Verspätungen und
       Schienenersatzverkehr plagen die Fahrgäste. Wegen auszutauschender
       Betonschwellen braucht es aktuell statt der einen fast zwei Stunden, um von
       Chemnitz nach Leipzig zu kommen. Ein Chemnitzer Satireblog entwarf vor
       Jahren bereits ein Brettspiel, bei dem als Spielfiguren ein Bahnreisender
       und ein Radfahrer gegeneinander antreten, um Feld für Feld Hindernisse zu
       überwinden im Wettstreit, als Erstes das 90 Kilometer entfernte Leipzig zu
       erreichen. Bei allem Humor: In der ehemaligen Karl-Marx-Stadt nährt das
       Abgehängtsein den kollektiven Minderwertigkeitskomplex. „In Chemnitz wird
       das Geld erarbeitet, in Leipzig vermehrt und in Dresden ausgegeben“: Mit
       diesem Sprichwort denkt der Chemnitzer noch gern an die inzwischen
       verblasste Bedeutung der früheren Industriestadt im sächsischen
       Städtedreieck zurück.
       
       Mit der Realität hat das spätestens seit 1990 nichts mehr zu tun. Erst
       schlossen die Betriebe, dann verließen die Jungen die Stadt – damals gen
       Westen, heute mit dem DDR-Zug und den Umzugskisten unter dem Arm nach
       Leipzig. Wenn mit der Industrie auch der Produzentenstolz verloren geht,
       braucht es eine neue Identität, hat sich die Stadt gedacht. 2025 wird
       Chemnitz nun den Titel [2][europäische Kulturhauptstadt] tragen.
       
       Der fehlende ICE-Anschluss der Stadt war lange Grund für eine Art
       Massenpsychose der Chemnitzer: Alle hielten ihn für nötig, auch wenn sie
       selbst seit Jahrzehnten nicht mehr Zug gefahren sind. Zur Besänftigung wird
       seit 2022 zumindest die Direktverbindung Berlin–Chemnitz mit einem IC
       wieder bedient. Zweimal täglich fährt einer über Berlin bis an die Ostsee,
       zweimal täglich ein Zug in die Gegenrichtung.
       
       Dass der IC eher ein als Fernverkehrszug angestrichener Regionalexpress
       ist, sieht man auch daran, dass sich die Strecke von Berlin bis Elsterwerda
       sowie von Dresden nach Chemnitz mit dem Deutschlandticket befahren lässt.
       Lediglich für den 25-minütigen Teil der Strecke dazwischen braucht es ein
       Zusatzticket.
       
       Samstags, wenn der Zug für eine Fahrt nicht über Dresden fährt, dauert es
       von Berlin nach Chemnitz sogar nur rekordverdächtige zweieinhalb Stunden.
       Während der Sommermonate des Kulturhauptstadtjahres soll dann am Wochenende
       ein Zug je Richtung mehr zwischen Berlin und Chemnitz verkehren.
       
       ## Der Titel sorgt für Eifer
       
       Auch auf der Strecke Chemnitz–Leipzig sorgt der Kulturhauptstadtstitel für
       Handlungseifer. Denn den DDR-Zug kann man zwar den Chemnitzern zumuten,
       aber nicht den erhofften Chemnitz-Touristen. Man denke nur an den Spott
       über Deutschlands [3][marode Infrastruktur zur Europameisterschaft 2024].
       Der könnte sich ansonsten wiederholen, wenn Deutschland nach 15 Jahren mal
       wieder eine Europäische Kulturhauptstadt präsentieren darf.
       
       Zwar wird die Strecke nach Leipzig ohnehin elektrifiziert und ausgebaut.
       Weil das aber noch dauert, sollen zum Fahrplanwechsel im Dezember
       Doppelstockwaggons statt der alten Abteilwagen her. Wer also noch einmal
       den Kopf in den Fahrtwind der Reichsbahn hängen will, sollte mit dem
       Chemnitz-Besuch nicht bis zum nächsten Jahr warten.
       
       25 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=6a7V-rG-Q4Y
   DIR [2] /Europaeische-Kulturhauptstadt-2025/!5743008
   DIR [3] /Deutsche-Bahn-bei-der-EM/!6016287
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yannic Walther
       
       ## TAGS
       
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