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       # taz.de -- taz Talk zu jesidischen Perspektiven: Über den Schmerz sprechen
       
       > Tausende Jesid:innen wurden im August 2014 vom IS ermordet. In der taz
       > sprachen Expert:innen und eine Überlebende über den Genozid.
       
   IMG Bild: Taz talk mit Max Lucks, Ronya Othmann, Hakeema Taha, Düzen Tekkal und Moderator Tobias Bachmann (v.l.n.r.)
       
       Vor zehn Jahren hat Hakeema Taha die Hälfte ihrer Familie verloren. Ihr
       Vater ist tot, sieben ihrer Brüder starben, ihre Neffen und Onkel sind
       ebenfalls nicht mehr am Leben. Auch ihre Mutter und Schwiegermutter wurden
       ermordet, weil IS-Terroristen entschieden, dass sie zu alt seien, um sie
       für ihre Zwecke gebrauchen zu können.
       
       [1][Im August 2014 drang die Terrormiliz Islamischer Staat in jesidische
       Dörfer und Städte im Shingal ein], der Heimatregion der Jesid:innen in
       Irak. Männer und Jungen über 14 sowie ältere oder kranke Menschen wurden
       hingerichtet und in Massengräbern verscharrt. Hunderttausende wurden
       vertrieben, Frauen und Kinder wurden verschleppt, versklavt und
       misshandelt. So auch Hakeema Taha. [2][Am Mittwochabend erzählt sie im taz
       Talk] in der taz Kantine von ihrem entsetzlichen Schicksal. Neben ihr
       sitzen Menschen, die sich auf unterschiedliche Arten für die Anerkennung
       und Rechte von Jesid:innen einsetzen:
       
       Düzen Tekkal, Journalistin, wuchs als Kind jesidischer Kurden in
       Deutschland auf, heute ist sie eine der sichtbarsten deutschen
       Menschenrechtsaktivist:innen. „Es gibt ein Leben vor dem August 2014 und
       eines danach“, sagt sie eingangs.
       
       Ihre 2015 gegründete Organisation HÁWAR.help setzt Entwicklungs- und
       Aufklärungsprogramme in Irak, Afghanistan und Deutschland um und kämpft für
       Frauen, Kinder und Minderheiten, die etwa aufgrund ihrer Religion, Ethnie
       oder ihres Geschlechtes verfolgt oder diskriminiert werden.
       
       Max Lucks ist Bundesabgeordneter der Grünen und Obmann des Ausschusses für
       Menschenrechte und Humanitäre Hilfe im Bundestag. Außenpolitisch spricht er
       in Bezug auf den August 2014 von einem „unglaublichen kollektiven
       Scheitern“. [3][Im Januar 2023 hat der Bundestag die Verbrechen des IS an
       den Jesid:innen als Völkermord anerkannt.] Dafür war Max Lucks
       maßgeblich mitverantwortlich. Ohne den Druck der jesidischen Gemeinschaft
       in Deutschland wäre das jedoch nicht möglich gewesen, sagt er.
       
       Die Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann ist Tochter eines
       kurdischen Jesiden und hat die Überfälle in Nordirak aus Deutschland
       mitverfolgt. Seit 2014 versucht sie, [4][den Genozid an ihrer Gemeinschaft
       literarisch aufzuarbeiten], und sagt im taz Talk: „Was nicht gesprochen
       werden kann, spricht auch.“
       
       ## Der IS verkaufte Hakeema Taha als Sklavin
       
       Gemeinsam wollen die Expert:innen an diesem Abend Fragen diskutieren
       wie: Was müssen Gesellschaft und Politik leisten, damit Jesid:innen in
       Deutschland und Irak sicher leben können? Warum passiert außenpolitisch
       nicht mehr, um die jesidischen Gebiete in Shingal wiederaufzubauen? Und
       warum gibt es noch immer keinen Abschiebestopp für Jesid:innen, die oft
       traumatisiert in der Diaspora in Deutschland leben?
       
       In erster Linie geht es aber vor allem um eine Person: Hakeema Taha. 19
       Jahre alt war sie, als sie in IS-Gefangenschaft geriet. Aus ihrem
       Heimatdorf Kojo sei sie gemeinsam mit vielen anderen Frauen verschleppt
       worden, nachdem sie mehrere Tage dort eingeschlossen war. Eine Flucht sei
       unmöglich gewesen, die IS hatte alle Wege nach außen versperrt.
       
       „Wo bringt ihr uns hin?“, hätte sie die IS-Männer immer wieder gefragt.
       Diese hätten sie nur ausgelacht, sie mit Pistolen geschlagen und gesagt:
       „Wir fahren euch nach Kurdistan zu eurer Familie.“ Dann wurde sie mehrfach
       als Sklavin verkauft.
       
       Jeder, der in einer jesidischen Familie geboren ist, kenne die langen
       Verfolgungsgeschichten von Großeltern und Urgroßeltern, erzählt Ronya
       Othmann. „2014 war es wie, als wäre diese Vergangenheit wieder Gegenwart
       geworden.“ Niemals hätte sie geglaubt, dass die Gesellschaft heute, 10
       Jahre nach dem Genozid, an diesem Punkt sei: Zwar habe es Strafprozesse in
       München und Frankfurt gegeben, jedoch seien viele Täter:innen bis heute
       nicht juristisch belangt worden. „Darauf warten wir bis heute.“
       
       Noch immer herrschen in Irak katastrophale Zustände für Jesid:innen. „In
       Bagdad interessieren die Massengräber nicht, überall werden
       Schlussstrichforderungen laut, der Genozid sei vorbei“, berichtet Düzen
       Tekkal. Währenddessen befinden sich noch immer zahlreiche Menschen in
       IS-Gefangenschaft, darunter vier von Tahas Familienmitgliedern.
       
       Viele andere Verfolgte leben seit Jahren unter unsäglichen Bedingungen in
       Camps in Nordirak und fürchten jeden Tag ums Überleben. Sie können nicht in
       ihre Heimat zurückkehren, denn die jesidischen Gebiete sind nicht sicher
       für sie.
       
       ## Jesid:innen müssen um Abschiebung fürchten
       
       Hakeema Taha ist die Flucht aus ihrer Gefangenschaft gelungen, heute lebt
       sie mit ihrem Bruder in Deutschland. Doch auch diejenigen, die es
       hierhergeschafft haben, müssen um ihre Möglichkeit bangen, ein neues Leben
       zu beginnen. Zwar hat der Bundestag den Genozid 2023 anerkannt,
       gleichzeitig werden immer wieder Fälle von angedrohten oder vollzogenen
       Abschiebungen irakischer Jesid:innen bekannt. Auch Tahas Bruder hat
       einen Abschiebungsbescheid erhalten.
       
       „Wer, wenn nicht Deutschland, zeigt sich verantwortlich?“, fragt Düzen
       Tekkal. Die Öffentlichkeit könne Abschiebungen verhindern, auch die
       Zivilbevölkerung müsse hier aktiv werden, etwa mit offenen Briefen an
       Politiker:innen.
       
       Max Lucks macht deutlich, dass sich auch außenpolitisch noch viel
       verbessern muss. „Wir reden von indigenen Gruppen, die vom Exodus betroffen
       sind“, sagt er. Jesid:innen in der Diaspora sichtbar zu machen, sei
       wichtig, „aber wie können wir dafür sorgen, dass es auch im Nahen Osten
       eine Zukunft gibt?“
       
       „Ich möchte, dass sie wissen, dass es uns noch gibt“, sagt Taha. Mit „sie“
       meint sie ihre Peiniger, die mit ihrem Versuch, alle Jesid:innen in
       Shingal auszulöschen, gescheitert sind. Hakeema Taha werde deshalb immer
       und immer wieder ihre Geschichte erzählen. Von der deutschen
       Zivilbevölkerung wünscht sie sich, dass sie ihrer Gemeinschaft zuhört, sie
       unterstützt und gut behandelt, „wie andere Menschen auch“. Damit das, was
       2014 passiert ist, nie wieder passiert.
       
       1 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Zentralrats-Vorsitzender-Telim-Tolan-ueber-die-Situation-der-Jesiden/!5035375
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=uVvyMt9Hp6I&list=PLEG8RZE9Ihf_oyQAzW1QOxzgT9Aw5G5KS&index=5
   DIR [3] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw03-de-jesiden-927032
   DIR [4] /Genozid-an-Jesiden/!5702127
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Federl
       
       ## TAGS
       
   DIR „Islamischer Staat“ (IS)
   DIR Jesiden
   DIR Genozid
   DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 
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