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       # taz.de -- Die Wahrheit: Das trübe Gold des Mittelmeers
       
       > Olivenöl ist extrem teuer geworden. Den dadurch entstandenen Schwarzmarkt
       > kontrolliert eine brutal ölige Mafia, die ihre Opfer in den Ruin treibt.
       
       Gerhard Nötzinger zittert am ganzen Leib, als er der Haftrichterin
       vorgeführt wird. Seine blutunterlaufenen Augen starren ins Leere, nur
       mühsam kann der beleibte Studienrat Worte zu seiner Verteidigung
       formulieren. „Was hätte ich denn tun sollen? Ich brauche doch mein
       Olivastro!“, stammelt der Lehrer für Biologie und Latein und hebt
       beschwörend die Hände, die noch immer ein leeres Ölkännchen umklammern.
       
       Nötzinger soll mit zwei Kumpanen – einem Mittelständler und einer
       Finanzbeamtin – ein Delikatessengeschäft überfallen und dabei ein Massaker
       unter den mediterranen Spezialitäten angerichtet haben. „Das waren keine
       Menschen mehr, das waren Monster“, erinnert sich Verkäuferin Britta
       Poplitsch, die den Überfall mit knapper Not überlebt hat. „Die haben das
       Olivenöl einfach aus der Flasche gesoffen und nicht etwa mit Brotstückchen
       aufgestippt.“
       
       ## Schmierige Suchtbefriedigung
       
       Was nicht der unmittelbaren Suchtbefriedigung vor Ort diente, hat die Bande
       sofort nach der Tat auf einem schmierigen Hehlermarkt für hochwertige
       Speiseöle verhökert, der auf dem Edeka-Parkplatz um die Ecke entstanden
       ist. Die Polizei tappt im Dunkeln, das Schwarzöl ist zweifellos längst auf
       dem Salat eines anderen verzweifelten Feinschmeckers gelandet.
       
       „Uns ist ein Schaden in fünfstelliger Höhe entstanden, immerhin konnten die
       Gauner zwei Flaschen extranativer DOP-Kreszenzen aus zertifizierten
       Kalamata-Oliven erbeuten“, erklärt Poplitsch und legt damit den Grund für
       die grassierende Epidemie kulinarischer Verbrechen offen: die extreme
       Teuerungsrate beim Olivenöl.
       
       Für eine Flasche des flüssigen Mittelmeer-Golds müssen Verbraucher
       hierzulande doppelt so viel berappen wie im Vorjahr. Monat für Monat führt
       der unverschämt leckere Pflanzensaft die Inflationstabellen des
       Statistischen Bundesamts an, kein anderes Alltagsprodukt steigt derart
       schnell in derart schwindelerregende Preishöhen.
       
       Verbraucherschützer raten dazu, wenigstens Hausmannskost mit günstigeren
       Alternativen wie Sternenstaub oder Kokain zu würzen, denn auch das Olivenöl
       vom Discounter kostet inzwischen fast so viel wie ein Kleinwagen.
       
       Auch in der Bling-Gastronomie hat sich ein Wandel vollzogen: Steaks für
       reiche Idioten werden nicht mehr mit Blattgold überzogen, sondern mit ein
       paar Tropfen Olivenöl von Penny beträufelt. Ölprinz Nötzinger ist denn auch
       nicht der einzige Gourmet, der in die Kriminalität abgerutscht ist.
       Richterin Sabrina Geuse urteilt heute noch über eine ältere Dame, die einer
       Kontrahentin im Kampf um die allerletzte Pulle für zehn Euro im Supermarkt
       ihre Haarnadel in den Hals gerammt hat.
       
       „Die Beschaffungskriminalität ist längst in der Mittelschicht angekommen“,
       erklärt die Richterin. Auf dem Extra-Vergine-Strich hinter den
       Feinschmecker-Märkten der Republik verkaufen gut genährte Hobbyköche und
       -köchinnen ihre Körper für ein paar Spritzer Öl, die sie dringend für die
       Zubereitung just erworbener Wolfsbarschfilets oder Lammkoteletts brauchen.
       Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.
       
       Besonders betroffen sind die Boomer der Toskana-Fraktion, die sich beim
       Marsch durch die kulinarischen Institutionen eine hartnäckige Abhängigkeit
       von allem Mediterranen eingehandelt haben, aber auch blutjunge Foodies
       laufen auf Insta dry. Zuletzt hat die bekannte Antipasti-Influencerin
       Olivia Vivia vor den Augen der entsetzten Weltöffentlichkeit ihre eigenen
       Eltern auf Tiktok kaltgepresst.
       
       „Wir haben es mit den Verzweiflungstaten kranker Menschen zu tun“, sagt
       Richterin Geuse. Sie plädiert dafür, die Olivenölsucht genau wie
       Heroinabhängigkeit oder die unerklärliche Abneigung gegen Quitten als
       Krankheit anzuerkennen. „Diese Leute haben keine Alternative“, wirbt sie um
       Verständnis. „Worin sollen sie denn sonst Bruschetta rösten oder Seezunge
       confieren? Oder sollen die etwa Kuchen essen?“
       
       ## Terroristische Öl-Vereinigung
       
       Doch inzwischen ist die öffentliche Nahrungskette gefährdet. Der Koch- und
       Kegelverein „De Pottkieker“ aus dem Emsland steht wegen Bildung einer
       terroristischen Vereinigung vor Gericht. Die gutbürgerlichen Feinschmecker
       hatten eine Verkehrsmaschine der Iberia nach Haselünne entführt und
       versucht, dem spanischen Staat ein paar Liter feinstes Cornicabra
       abzupressen. Vergeblich, denn Madrid hat seine Ölfelder verstaatlicht und
       lässt nur noch mit altem Frittierfett gestreckte Tresteröle außer Landes.
       
       Die Erzeugerländer am Mittelmeer kämpfen allesamt mit Ernteausfällen.
       Dürren, Brände, Überschwemmungen und fiese Filzläuse in der Borke haben den
       uralten Bäumen von Rhodos bis Andalusien zugesetzt. Die italienischen
       Bauern konnten 2023 nur halb so viele Oliven ernten wie im Vorjahr. In
       Griechenland will man es jetzt mit Fracking probieren. Dazu sollen alte
       Konservendosen mit wertvollen Ölrückständen angebohrt werden, die man
       achtlos auf Müllkippen entsorgt hatte.
       
       Zuletzt haben sich die mediterranen Olivenölmonarchien zu einer Konferenz
       getroffen, um über Maßnahmen zu beraten. Da man gegen den Klimawandel
       bekanntlich „nada, niente, τίποτα“ unternehmen könne, hieß es im
       Abschlussprotokoll, will man sich wenigstens zu einem gnadenlosen Ölkartell
       zusammenschließen, gegen das sich die OPEC wie „ein Haufen armseliger
       Hausierer“ ausnimmt.
       
       Für die Gourmets im olivenlosen Norden könnte die Lage also noch
       aussichtsloser werden. Schon werden erste Forderungen laut, wenigstens die
       Leiden von Langzeitabhängigen durch die kontrollierte Abgabe von
       synthetischem Olivenöl zu mildern. Das minderwertige Surrogat muss jedoch
       per Hand aus bekleckerten Tischdecken und Servietten gewrungen werden und
       hat erhebliche Nebenwirkungen.
       
       Das wird uns klar, als wir Gerhard Nötzinger wiedertreffen. Seit er zur
       Teilnahme am Substitutionsprojekt verurteilt wurde, nennt er sich „Gerardo“
       und spricht mit lächerlich falschem Italo-Akzent – ein klarer Verstoß gegen
       die Menschenwürde und alle UN-Resolutionen wider herabwürdigende Klischees.
       
       „Ciao, ragazzi. Habbe ein bissche olio, per favore“, bettelt uns die
       Elendsgestalt an. Für ihn kommt wohl jede Hilfe zu spät.
       
       Ernährungswissenschaftler ziehen bereits Parallelen zur Opioid-Krise in den
       USA und schlagen drastische Maßnahmen vor: In Lagern zur „kulinarischen
       Umerziehung“ soll den Opfern im Kampf gegen das ungesättigte Fett geholfen
       werden. Im niedersächsischen Schweinsen entsteht bereits eine erste
       Auffangstation für die bedauernswerten Olio-Junkies. Ein bekannter
       deutscher Fleischkonzern finanziert das schmierige Pilotprojekt in einer
       aufgelassenen Sauenzucht. Der jahrzehntelangen Gehirnwäsche durch die
       mediterrane Kochbuchmafia wird endlich ein fetter Riegel vorgeschoben.
       
       17 Aug 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Bartel
       
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