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       # taz.de -- Mutterschaft und Frausein: Wehe, sie gehen
       
       > Wenn Mütter ihre Kinder verlassen, gilt das als skandalös. Unsere Autorin
       > wurde verlassen und begibt sich auf die Suche nach Erklärungen.
       
       Im Hafen von Melbourne liegt ein großes Schiff. Es wird gleich aufbrechen,
       um die Fahrt nach Deutschland anzutreten. An Bord steht unter vielen
       anderen Passagieren meine Mutter. Sie winkt meinem Vater und mir zu. Wir
       sind an Land geblieben. Ich weine, denn ich weiß, dass meine Mutter sehr
       lange weg sein wird. „Mama kommt bald wieder“, tröstet mein Vater mich.
       
       Aber das stimmt nicht. Meine Mutter kommt nicht wieder. Erst drei Jahre
       später werden wir uns in Deutschland wiedersehen.
       
       Als meine Mutter 1964 mit dem Schiff abreiste, war ich fünf Jahre alt. Sie
       gab das Leben auf, das sie und mein Vater als Einwanderer:innen in
       Australien führten, um nach Deutschland zurückzugehen.
       
       Es war nicht das erste Mal, dass sie mich verließ, und es sollte auch nicht
       das letzte Mal gewesen sein. Ich hoffte, sie besser verstehen zu können,
       wenn ich einmal selbst Mutter wäre. Aber da verstand ich sie noch weniger.
       Denn ich hätte mich nie freiwillig für längere Zeit von meinen Kindern
       getrennt.
       
       Noch immer verfolgt mich die Frage: Warum nahm sie mich nicht mit?
       
       Nun bin ich 65 Jahre alt, und das Thema lässt mich nicht los. Bald werde
       ich alt sein. Es klingt vielleicht kitschig, aber wenn ich einmal sterbe,
       möchte ich mit meiner Mutter im Reinen sein.
       
       Aussprechen können wir uns allerdings nicht mehr. Meine Mutter ist schon
       lange tot, und zu Lebzeiten weigerte sie sich, mit mir darüber zu sprechen.
       
       Aber ich kann mit anderen Müttern, die ihre Kinder zurückließen, reden.
       Warum sind sie gegangen? Und ist es möglich, sie trotzdem zu lieben?
       
       ## Ultimativer Tabubruch
       
       Mütter, die von ihren Kindern weggehen, gelten in unserer Gesellschaft
       immer noch als etwas Skandalöses. Wenn jemand geht, dann sind es
       normalerweise Männer. [1][85 Prozent der Alleinerziehenden in Deutschland
       sind Mütter], wobei die Zahl der alleinerziehenden Väter laut dem
       Statistischen Bundesamt in den vergangenen Jahren leicht angestiegen ist.
       
       Es tut sich also langsam etwas in Sachen Geschlechterrollen, aber auch
       darin, wie das Thema behandelt wird. So sind in jüngerer Zeit zunehmend
       Podcasts und Sachbücher erschienen, die sich des Themas aus neuen, teils
       überraschenden Blickwinkeln annehmen. In einer [2][Doku des Schweizer
       Senders SRF rät die Psycho- und Paartherapeutin Felizitas Ambauen], kein
       vorschnelles Urteil zu treffen, wenn eine Frau von der Familie weggeht.
       Eine Trennung sei schwierig, aber nicht immer schädlich. Die spanische
       Journalistin Begoña Gómez Urzaiz beschreibt in ihrem Buch „Mütter, die
       gehen“ die Lebensläufe berühmter Frauen, die ihre Kindern verließen. Sie
       fragt, warum diese Entscheidung als ultimativer Tabubruch gesehen wird, und
       was das über unsere Erwartungen an Mütter erzählt.
       
       Um mehr über Mütter zu erfahren, die ihre Kinder verlassen, starte ich
       einen Aufruf im Bekanntenkreis und in den sozialen Medien. Es melden sich
       zehn Mütter zwischen Mitte 20 und Ende 50 und eine mittlerweile erwachsene
       Tochter bei mir, die, so wie ich, zeitweise ohne ihre Mutter aufwuchs.
       
       Zwischen ihren Geschichten und meiner gibt es einen wesentlichen
       Unterschied. Die Mütter, mit denen ich rede, sind zwar ausgezogen, aber im
       Gegensatz zu meiner entfernten sie sich nicht aus der Welt ihrer Kinder.
       
       Dennoch haben sie Schuldgefühle. Sie wollen erzählen, wie es dazu kam, dass
       sie auszogen und ihre Kinder nicht mitnahmen. In diesem Text wird nur ihre
       Sicht wiedergegeben und nicht die ihrer Ex-Partner und Kinder. Auch wenn
       ich nicht alle Geschichten zitiere, schwingen sie zwischen den Zeilen mit.
       
       ## Scham und Schuld
       
       Meine jüngste Interviewpartnerin ist 26 Jahre alt. Ich nenne sie Ronja,
       weil sie, so wie die anderen Frauen in diesem Text, nicht mit ihrem
       richtigen Namen in der Zeitung genannt werden will. Sie hat Angst vor
       Stigmatisierung.
       
       An einem regnerischen Frühlingsmorgen sind wir in einem Café verabredet.
       Ronja rührt das vor ihr stehende Frühstück nicht an, zu sehr drängt es sie,
       ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Sohn lebe bei ihr, erzählt sie, während
       die jüngere Tochter nach der Trennung bei ihrem Ex-Partner blieb. Sie habe
       in der Schwangerschaft eine chronische Krankheit bekommen und sich nicht in
       der Lage gesehen, allein für zwei kleine Kinder zu sorgen. Bei dem Vater
       ihres Kindes aber wollte sie nicht bleiben. Er bot an, das Baby bei sich zu
       behalten, und sie willigte ein. Er sei ein fürsorglicher Vater und seine
       Mutter unterstütze ihn mit der Erziehung, erzählt sie. Alle zwei Monate
       lege sie 600 Kilometer zurück, um für ein paar Tage bei ihrer Tochter zu
       sein. Ronja sagt, sie bereue es nicht, ihr Baby bei seinem Vater gelassen
       zu haben. Aber sie schämt sich trotzdem. Deshalb weiß fast keiner, dass sie
       nicht ein, sondern zwei Kinder hat.
       
       Sie kenne noch eine andere Frau, die ihrer Umgebung verschweige, dass sie
       ein Kind habe, erzählt die junge Frau. Deshalb sei sie auch davon
       überzeugt, dass es viele Frauen mit einem solchen Geheimnis gibt. „Sie
       trauen sich nicht, darüber zu reden, weil andere denken, Frauen wie wir
       seien schlechte Mütter“, vermutet Ronja.
       
       Das Gespräch lässt mich etwas ratlos zurück. Junge Frauen, die einen
       Ex-Partner haben, der das gemeinsame Kind gut versorgt, schämen sich dafür,
       wenn sie es bei ihm lassen?
       
       „Bei der Bewertung von Eltern, die von Zuhause ausziehen und ihre Kinder
       beim Partner lassen, werden ‚doppelte Standards‘ angelegt“, sagt Marie
       Fröhlich, Kulturanthropologin an der Universität Göttingen. Fröhlich
       forscht und publiziert zu Fragen von Reproduktion und Care-Arbeit. „Väter,
       die gehen, schocken nicht“, stellt sie in unserem Gespräch fest. Mütter,
       die gehen, aber schon. „Begründet ist das in der engen ideologischen
       Kopplung von Frausein und Mutterschaft, die bis heute tief sitzt.“
       Mutterschaft und Mutterliebe erscheinen als ‚natürlich‘. Dazu kämen
       zusätzliche Erwartungen, dass Frauen nicht nur die Sorgearbeit leisten und
       das Kind lieben sollten, sondern auch attraktiv und beruflich aktiv sein
       müssten, siehe das Phänomen „MILF“. Um Geschlechtergerechtigkeit zu
       erreichen, sei es daher dringend notwendig, am gesellschaftlichen
       Mutterbild zu rütteln.
       
       Die Glorifizierung der Mutterrolle ist eine verhältnismäßig moderne
       Erfindung. Die französische Philosophin Élisabeth Badinter hat sich mit der
       Entwicklung des Mutterbildes in Frankreich eingehend beschäftigt. Sie
       schreibt in „Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert
       bis heute“, dass bis weit ins 18. Jahrhundert hinein um Kinder nicht viel
       Aufhebens gemacht wurde. Die angeblich naturgegebene Rollenverteilung gab
       es damals noch nicht. Alle gingen zusammen aufs Feld: Mütter, Väter,
       Kinder. Schon ab sechs Jahren mussten auch die Jüngsten hart arbeiten. Von
       den vielen Kindern, die damals geboren wurden, wurden die meisten
       weggegeben: zu einer Amme aufs Land, in eine Lehre, auf einen Hof. Oder,
       wer es sich leisten konnte, in eine Pflegefamilie oder ins Internat. Die
       Philosophin schließt aus Fallberichten und historischen Aufzeichnungen,
       dass sich Mütter oft nicht sonderlich für ihre Kinder interessierten.
       
       Die Rolle der Mutter, so wie wir sie kennen, sei erst mit dem Aufkommen
       eines begüterten Bürgertums klar definiert worden, so Badinter. Die Frau
       habe zu Hause für Ordnung und Behaglichkeit gesorgt, Erziehung wurde nun
       als ein bewusster Akt verstanden.
       
       Erst mit der Psychologisierung der Mutter-Kind-Beziehung im 20. Jahrhundert
       sei die Mutter auch für das seelische Wohl ihrer Kinder zuständig gewesen.
       Als Gebärende wisse sie intuitiv, was das Kind brauche, hieß es damals. Und
       wenn nicht, dann stimme etwas nicht mit ihr.
       
       Statt von einem Mutterinstinkt spricht Badinter von einem Pflichtgefühl,
       das bei Frauen kultiviert worden sei. Mutterliebe könne vorhanden sein –
       oder auch nicht.
       
       ## Fürsorgeinstinkt
       
       Es fällt mir schwer zu glauben, dass es keinen Mutterinstinkt geben soll.
       Nichts roch süßer als der flaumige Nacken meiner Kinder, als sie klein
       waren. Wenn die Kleinen weinten, litt ich mit ihnen. Erst als Mutter
       erlebte ich, wie weit sich mein Herz öffnen kann.Sind das etwa keine
       Merkmale eines Mutterinstinktes?
       
       Das als „Kuschelhormon“ bekannte Oxytocin sei mitverantwortlich für die
       Mutter-Kind-Bindung, erfahre ich aus einem Artikel im National Geographic.
       Das Hormon werde verstärkt im Gehirn der werdenden Mutter produziert und
       steigere ihr Bedürfnis, sich um ihr Kind zu kümmern. Es sei maßgeblich bei
       der Mutter-Kind-Bindung beteiligt. Doch Wissenschaftler:innen zufolge
       kann das Hormon nicht nur in der Mutter, sondern auch in anderen Personen,
       die sich einem Neugeborenen zuwenden, freigesetzt werden.
       
       Elternschaft sei ein Prozess, in dem sich das Gehirn langsam durch Hormone
       und Erfahrungen verändere, sagen Annika Rösler und Evelyn Höllrigl
       Tschaikner, Autorinnen des Buches „Mythos Mutterinstinkt“. Entscheidend sei
       der Kontakt zum Kind und es zu umsorgen, nicht das Gebären an sich.
       
       Wäre es also nicht treffender, statt von einem Mutterinstinkt von einem
       Fürsorgeinstinkt zu sprechen? Denn der ist offenbar bei allen Menschen
       verschiedenen Geschlechts angelegt.
       
       Einer Frau wird die Mutterrolle als selbstverständlich zugestanden. Ein
       Mann muss sich unter Umständen anstrengen, um die rechtliche Anerkennung
       als Vater zu bekommen. Das sagt viel über das Mutter- und Vaterbild aus,
       das in unserer Gesellschaft auch durch die Gesetzgebung zementiert wird.
       
       Das Bürgerliche Gesetzbuch schreibt der Mutter von Geburt an das Sorgerecht
       zu. Im Gegensatz dazu ist der juristische Begriff des Vaters in Deutschland
       sozial konstruiert. Als Ehemann der Mutter ist er automatisch auch Vater
       ihres Kindes, unabhängig davon, ob er auch der biologische Vater ist. Und
       ein nicht verheirateter Vater muss seine Vaterschaft erst anerkennen
       lassen, damit er ebenfalls das Sorgerecht erhält.
       
       ## Regretting Motherhood
       
       Dabei gibt es Konstellationen, in denen der Vater der fürsorglichere
       Elternteil ist. Und es gibt Frauen, die sich in der Mutterrolle einfach
       nicht wohlfühlen. Meine Kusine zum Beispiel. Einmal erklärte sie mir, dass
       sie sich gegen Kinder entscheiden würde, wenn sie noch einmal vor der Wahl
       stünde. Ihr Bekenntnis schockierte mich. Dass meine Kusine nicht ihre
       Kinder, sondern die Mutterrolle ablehnte, verstand ich damals nicht.
       
       Die israelische Soziologin Orna Donath veröffentlichte im Jahr 2016
       Interviews mit Frauen, die ihre Entscheidung bereuten, Mutter geworden zu
       sein, ihr Buch „Regretting Motherhood“ („Mutterschaft bereuen“) löste
       vielerorts Debatten aus. Vor allem die deutschen Leser:innen habe es
       empört, sagt Donath. Hier habe die Diskussion viel länger angehalten als in
       Israel. Schließlich nimmt man doch eigentlich an, eine Frau werde es einmal
       bereuen, keine Kinder bekommen zu haben. Aber doch nicht andersherum!
       
       Hat auch meine Mutter insgeheim die Entscheidung bereut, Mutter geworden zu
       sein? Als Erwachsene fragte ich sie einmal, ob ich ein Wunschkind gewesen
       sei. Ein Psychologe habe ihr damals geraten, schwanger zu werden, erfuhr
       ich. Er meinte, ein Kind könne ihre Ehe retten.
       
       Meine Eltern waren, kaum volljährig, 1954 als deutsche Auswanderer nach
       Australien gekommen. Sie lernten die fremde Sprache, fanden Jobs,
       heirateten, bauten ein Haus. Mein Vater begann auf Pferde zu wetten. Meine
       Mutter wurde unglücklich. Dann bekam sie mich. Das erste Mal verließ sie
       uns, als ich vier war. Drei Monate lang wusste keiner, wo sie war. Mein
       Vater vermutete später, sie habe einen Liebhaber gehabt. Und dann war sie
       mit einem Mal wieder da und wir machten einfach weiter wie bisher. Aber es
       hatte sich etwas verändert. Ich lebte in der ständigen Furcht, sie könnte
       wieder gehen. Damit das nicht passierte, wurde ich ein braves Kind, das
       keine Fehler machen wollte. Aber es nützte nichts.
       
       Weil sie Heimweh hatte und in einer schwierigen Ehe feststeckte, bestieg
       meine Mutter also ein Jahr später das große Schiff. Sie reiste mit ihrer
       Mutter, die uns in Australien besucht hatte, zurück nach Deutschland. War
       ihr Leben mit einem kleinen Kind zwischen Wäschebergen und Kochtöpfen zu
       einsam und eng geworden?
       
       Die drastischste Form von Flucht ist es, sich selbst zu vernichten. In
       Mareike Fallwickls 2023 erschienenem Roman „Die Wut, die bleibt“ wird die
       Erschöpfung einer Frau geschildert, die ihre Familie auf extreme Weise
       verlässt: Helene steht vom Abendbrottisch auf, um Salz zu holen, geht auf
       den Balkon und stürzt sich in den Tod. Fallwickl stellt mit dieser
       Geschichte dar, wie unterbewertet die meist von Frauen geleistete
       Care-Arbeit ist und wie sehr sie in der öffentlichen Debatte vernachlässigt
       wird. Und dass sich nichts ändern wird, wenn einfach nur die nächste Frau
       in die Lücke springt, die Helene hinterlässt.
       
       Da meine Mutter nicht zurückkehrte, führte nun Oma, die Mutter meines
       Vaters, unseren Haushalt. Sie achtete darauf, dass ich die Briefe meiner
       Mutter pünktlich beantwortete. Manchmal ergänzte sie sie mit ein paar
       freundlichen Sätzen. Alle anderen regten sich darüber auf, dass meine
       Mutter nicht zurückkam. Wäre mein Vater weggegangen, wäre die Aufregung
       vermutlich nur halb so groß gewesen. Nur meine Oma schien meine Mutter zu
       verstehen.
       
       Die Gründe, weshalb Mütter nicht durchgängig in die Betreuung ihrer Kinder
       involviert sind, würden unterschiedlich bewertet, sagt Kulturanthropologin
       Fröhlich. Dabei käme es auf ihren gesellschaftlichen Platz an. „Eine
       Mutter, die bisher die Hauptverantwortung für die Care-Arbeit trug und
       auszieht, wird anders betrachtet als eine Top-Managerin, die beruflich viel
       unterwegs ist – obwohl beide in gleichem Umfang in die Sorgeverantwortung
       und Kinderbetreuung eingebunden sein können.“ Während die eine sich schnell
       mit dem Vorwurf konfrontiert sehe, ihre Kinder ‚verlassen‘ zu haben,
       scheine das Verhalten der anderen nur wenig erklärungsbedürftig.
       
       Meine Mutter ging freiwillig. Viele andere nicht. Manche fliehen aus einer
       Situation, die ihr Leben bedroht.
       
       ## Häusliche Gewalt
       
       Während meiner Recherche zu diesem Text besuche ich auch ein
       Frauenschutzhaus. Zwei Mitarbeiterinnen empfangen mich in ihrem hell
       angestrichenen Büro. Sie erzählen, dass es hin und wieder vorkomme, dass
       Frauen ohne ihre Kinder bei ihnen Zuflucht suchen.
       
       „Er hätte mich umgebracht, wenn ich die Kinder mitgenommen hätte“, zitiert
       eine Mitarbeiterin eine Klientin, die die rasende Wut ihres Mannes
       gefürchtet habe. Andere würden Hals über Kopf flüchten und später
       versuchen, ihre Kinder nachzuholen. Und manchmal käme es vor, dass eine
       Frau aus einer islamisch geprägten Familie verstoßen würde und dann ohne
       ihre Kinder käme, ergänzt die andere. Diese Frauen kämen mit der Situation
       oft besser zurecht als andere. „Sie haben schließlich keine andere Wahl“,
       so die Mitarbeiterin. Es sei kulturell vorgegeben, dass die Kinder in der
       Familie des Mannes blieben. Unter der Sehnsucht nach ihren Kindern litten
       sie oft trotzdem.
       
       Häusliche Gewalt wird auch von mehreren meiner Gesprächspartnerinnen als
       Grund ihres Weggehens genannt. Drei von ihnen haben es so lange bei ihrem
       Partner ausgehalten, bis die Kinder fast volljährig waren. Oder sie
       blieben, bis ein Katastrophenfall eintrat. Erst dann befreiten sie sich.
       Die Geschichten dieser Frauen sind natürlich anders gelagert – denn oft
       handeln sie aus Not.
       
       Mit Claire telefoniere ich drei Mal. Als sie mir ihre Geschichte erzählt,
       sehe ich vor meinem inneren Auge einen Film ablaufen.
       
       „An manchen Tagen genügte ein falsches Wort und mein Mann schlug, schrie
       und beschimpfte die Kinder. Aber nicht immer in meiner Gegenwart“, erzählt
       Claire. Heimlich konsultierte sie eine Anwältin. „Sie rechnete mir vor, wie
       meine finanzielle Situation aussehen würde, wenn ich wegginge. Und riet
       mir, die Situation auszuhalten.“ Ihr Mann drohte, die Kinder zu behalten,
       sollte sie sich trennen.
       
       Den Moment, der ihr Leben komplett auf den Kopf stellte, würde Claire am
       liebsten löschen. „Er drängte mich an die Wand, provozierte und beschimpfte
       mich, wie so oft. Plötzlich stiegen die vielen Jahre, die ich bei ihm
       ausgehalten hatte, mit voller Wucht in mir auf. Nur ein Moment länger und
       ich hätte ihn umgebracht.“ Claire streifte ihren Ring ab, legte ihn auf den
       Tisch und schnappte den Autoschlüssel. In diesem Ausnahmezustand war nichts
       anderes möglich, als einfach zu gehen. Ohne die Kinder.
       
       ## Angst vor Armut
       
       Viele Jahre Streit um die Kinder, die sie nachholen wollte, haben sie
       ausgebrannt. „Alle haben in ihm immer nur den armen Mann gesehen, der mit
       den Kindern sitzengelassen wurde“, sagt sie. Sie selbst aber bleibe in den
       Augen anderer eine Rabenmutter. „Keiner hat begriffen, dass ich uns vor
       einem großen Unheil bewahrt habe, indem ich ging. Er durfte weiterleben,
       und ich musste nicht ins Gefängnis.“
       
       Die Polizei schaltete Claire nie ein, schließlich war sie nicht körperlich
       angegriffen worden. Doch dass psychische Gewalt als eine ebenso schlimme
       Form von Gewalt verstanden wird, war ihr damals nicht klar. Und auch nicht,
       dass Frauenhäuser Frauen mit ihren Kindern bei jeglicher Art von Gewalt
       aufnehmen. Vielleicht hätte ihr ein frühzeitiges Beratungsangebot
       weiterhelfen können.
       
       Oft hält die Angst vor Armut Frauen davon ab, früher zu gehen. Nach der
       Trennung bekommen viele Frauen ihren Unterhalt und den Kindesunterhalt von
       ihren Ex-Partnern nur unregelmäßig oder nicht in voller Höhe.
       
       Aber es gibt eine spezielle staatliche Leistung für Alleinerziehende, den
       Unterhaltsvorschuss, wenn vom anderen Elternteil kein Unterhalt eintrifft.
       Das Einkommen des alleinerziehenden Elternteils ist dabei unerheblich. Das
       mag für eine Grundversorgung reichen. Aber es verhindert nicht, dass die
       Frauen einen sozialen Abstieg erleben, der ihnen Angst macht.
       
       ## Aus Liebe zu den Kindern
       
       Wenn sich Frauen aus häuslichen Gewaltsituationen lösen, machen sie es oft
       mit der letzten Kraft, die ihnen verblieben ist. Und die reicht nicht immer
       dafür aus, ihre Kinder in eine neue, unübersichtliche Situation
       mitzunehmen. Sie wollen erst das Wohnen, Kindergarten, Schule und die
       finanziellen Verhältnisse klären.
       
       Aber das Nachholen der Kinder gelingt dann nicht immer. Wenn der Mann nach
       dem Auszug der Frau sogleich den Antrag auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht
       stellt und die Mutter in ungeklärten Verhältnissen lebt, hat er gute
       Chancen, die Kinder zu behalten, erfahre ich von einer Familienanwältin aus
       dem Bekanntenkreis. Bei der gerichtlichen Beurteilung, wo das Kind besser
       aufgehoben sei, gebe es den Aspekt, das Kind möglichst nicht aus seiner
       gewohnten Umgebung zu reißen. Meine Gesprächspartnerinnen berichteten mir,
       dass sie trotz der schwierigen Umstände den Kontakt zu ihren Kindern
       aufrechterhalten konnten.
       
       Auch mit Heike spreche ich. Sie ist heute 60 Jahre alt, und sie ließ einst
       ihre beiden acht- und neunjährigen Kinder bei ihrem Ex-Partner. Heike nahm
       eine neue Beziehung als Sprungbrett, um sich von ihrem Partner zu lösen,
       von dem sie sich nicht wahrgenommen fühlte. „Wenn ich etwas mit ihm allein
       machen wollte, wunderte er sich darüber“, berichtet sie. Als sie auszog,
       wusste sie, dass er um die Kinder kämpfen würde. Das wollte sie den Kindern
       ersparen. Außerdem hätte es das weitere gemeinsame Erziehen der Kinder
       erheblich erschwert. Sie fand eine geräumige, bezahlbare Wohnung, und die
       Kinder begannen, genauso oft bei ihr zu übernachten wie beim Vater. In
       ihrem Bekanntenkreis habe es für das Zurücklassen der Kinder wenig
       Verständnis gegeben, erzählt sie. „Alle haben in mir nur die starke Frau
       gesehen, die macht, was sie will. Aber so habe ich mich nicht gefühlt. Ich
       war oft traurig und habe die Kinder vermisst.“ Dass die gemeinsame
       Erziehung mit dem Ex-Partner weiterhin gut funktionierte, hält Heike unter
       anderem dem „Wechselmodell“ zugute.
       
       In diesem Fall sind die Kinder wechselweise in beiden elterlichen
       Haushalten zu Hause. Überwiegt der zeitliche Aufenthalt bei einem
       Elternteil, zum Beispiel 40 Prozent beim Vater und 60 Prozent bei der
       Mutter, ist von einem „asymmetrischen Wechselmodell“ die Rede. Eine
       Voraussetzung dafür ist die räumliche Nähe der Wohnungen beider Elternteile
       zueinander.
       
       Für das kindliche Wohlergehen seien vor allem positive Familienbeziehungen
       und ein regelmäßiger Kontakt zum anderen Elternteil wichtig, sagt eine
       Studie. Unabhängig davon, auf welches Betreuungskonzept sich die Eltern
       geeinigt haben.
       
       ## Ein Analphabet im Haushalt
       
       Ich war in der zweiten Klasse, als meine Mutter verlangte, ich solle zu ihr
       nach Deutschland ziehen. Alle waren sich einig, dass ein Kind zu seiner
       Mutter gehört. So gab mein Vater nach. Meine Mutter und ich hatten uns drei
       Jahre nicht gesehen, als ich am Flughafen in Hannover ankam. Ich erkannte
       sie nicht am Aussehen, sondern an ihrem Duft, eine Mischung aus Make-up und
       Niveaseife. Mit acht Jahren sauste ich zum ersten Mal auf einem Schlitten
       über verschneite Hügel, so etwas kannte ich aus Australien nicht.
       
       Was blieb, war die Sehnsucht. Nur richtete sie sich jetzt auf meinen Vater,
       der zwar auch wieder in Deutschland lebte, den ich aber nur einmal im Monat
       sah. Die Sehnsucht nach ihm war nicht kleiner, als es die nach meiner
       Mutter gewesen war.
       
       Als ich zehn war, ließen sich meine Eltern scheiden. Das Thema Betreuung
       wurde neu verhandelt. Am liebsten hätte ich wieder bei meinem Vater gelebt,
       denn er war der ausgeglichenere und liebevollere Elternteil von beiden.
       Aber aus Loyalität zu meiner Mutter verriet ich niemandem meinen Wunsch.
       Richtig nachgefragt, was ich möchte, hat sowieso keiner. Außerdem war mein
       Vater im Haushalt ein Analphabet.
       
       Bis heute liegt die Hauptverantwortung für die Care-Arbeit überwiegend bei
       der Frau. Sind sich Männer darüber bewusst, dass sie damit auf wichtige
       Kompetenzen verzichten? Würden Mutter- und Vaterrollen als gleich wichtig
       erachtet, wiesen Väter ebensolche Care-Kompetenzen wie Mütter auf, könnte
       es für beide Elternteile leichter sein, auf Augenhöhe zu kommunizieren.
       
       In seinem Buch „Vatersein“ (2022) sieht Tillmann Prüfer, der selbst Vater
       von vier Kindern ist, im neuen Feminismus besonders für Männer eine große
       Chance. Sie sollten die historische Möglichkeit nutzen, aus den tradierten
       Männerrollen auszubrechen, und sich fragen: Was will ich als Vater? Was
       sollen meine Kinder davon haben? Wie werden wir alle glücklicher?
       
       ## Ein Generationenproblem
       
       Nelly, 36, meldet sich, weil sie früher selbst ein Kind war, das von ihrer
       alleinerziehenden Mutter oft alleingelassen wurde. Wir verabreden uns auf
       Zoom.
       
       Als ihre Mutter beruflich eine Weile ins Ausland ging, war Nelly zehn,
       berichtet sie. „Eine Studentin zog bei uns ein. Sie zahlte wenig Miete und
       sollte dafür ein Auge auf mich haben.“ Aber die Studentin zeigte wenig
       Interesse an ihrer jungen Mitbewohnerin. Die einsamen Nachmittage
       verbrachte Nelly oft am Telefon, um mit ihren Freundinnen zu sprechen. Als
       ihre Mutter nach einem halben Jahr zurückkam, schimpfte sie über die hohe
       Telefonrechnung. Den Zusammenhang zwischen der Einsamkeit ihrer Tochter und
       den langen Telefonaten sah sie nicht.
       
       Gegenüber ihrer verstorbenen Mutter ist Nelly heute milde gestimmt: „Ein
       knappes Einkommen, familienfeindliche Arbeitszeiten und ein Ex-Partner, der
       sich nicht kümmerte.“ Dazu kam: Ihre Mutter hatte selbst keine fürsorgliche
       Mutter gehabt. Diese hatte sie verlassen, als sie noch ein Kind war. Der
       Vater, voll berufstätig, gab die Tochter an seinen Bruder. „So lebte sie
       erst bei Onkel und Tante und ab dem Alter von sieben in mehreren
       Internaten. Woher hätte sie wissen sollen, was ein Kind braucht?“
       
       Nellys Verständnis für ihre Mutter bringt mich zum Nachdenken. Meine Mutter
       war rebellisch und wurde von ihrem Vater oft verprügelt. Seinen Anfällen
       war sie schutzlos ausgeliefert. Demnach hatte auch sie emotionale Fürsorge
       vermisst. Könnte das ein Grund dafür sein, weshalb sie wenig Empathie für
       mich aufbrachte?
       
       In ihrer Freizeit war meine Mutter fast nur mit mir zusammen. Wenn sie am
       Abend nach Hause kam, sprach sie mit mir wie mit einer Erwachsenen.
       Manchmal schlief ich neben ihr ein, während sie ihr Leid klagte: über die
       anstrengende Arbeit in der Fabrik, über ihre Einsamkeit. Ihre labile
       Gesundheit. Früher hatte sie Akkordeon gespielt, als sei das Instrument ein
       Teil von ihr. Wenn sie Geschichten erzählte, hingen alle an ihren Lippen.
       Wann war das zuletzt vorgekommen?
       
       Den Begriff Mental Load gab es für ihre Symptome noch nicht: Migräne,
       Schlafstörungen, depressive Verstimmungen. Sie war ständig gereizt. Aber in
       den Augen anderer war meine Mutter einfach nur „seelisch labil“.
       
       ## Den Muttertag vergessen
       
       Kaum achtzehn geworden, zog ich aus. Mit einem Blumenstrauß in der Hand und
       einem schlechten Gewissen stand ich ein paar Wochen später vor ihrer Tür.
       Ich hatte den Muttertag verpasst. Ein Tag, der ihr besonders wichtig war.
       Vielleicht brauchte sie ihn als Bestätigung, dass sie eine gute Mutter war.
       
       Aber ihr Name auf dem Klingelschild war verschwunden. Sie war weggezogen
       und hatte sich nicht einmal von der Nachbarin verabschiedet. Meine
       Großmutter erklärte, meine Mutter wolle nichts mehr mit mir zu tun haben.
       
       Zuerst war ich froh, die komplizierte Beziehung losgeworden zu sein. Aber
       dann kamen die Sorgen. Wer würde ihr jetzt zuhören? Sie beraten, wenn sie
       nicht weiterwusste?
       
       Nach einem Jahr erfuhr ich, dass sie nun in Berlin lebte. Sie nahm meine
       Entschuldigung für den vergessenen Muttertag an, und wir trafen uns wieder.
       
       Mehrere Jahre später wuchs im Kopf meiner Mutter ein Tumor. Auch eine OP
       und Bestrahlungen nützten nichts. „Ich habe doch noch gar nicht fertig
       gelebt“, sagte sie. Irgendwann konnte sie nicht mehr reden, und sie bewegte
       sich kaum noch. Ich schob ihr Bett ans Fenster. So konnte sie den Blick in
       den Himmel richten.
       
       Als sie mich zum letzten Mal verließ, war ich nicht da, um ihre Hand zu
       halten. Ich weiß nicht einmal, ob sie es gewollt hätte.
       
       Die Autorin Laura Catoni bedankt sich am Ende ihres taz-Essays „War nicht
       alles gut, so wie es war?“ bei ihrer Mutter. Zu lange habe sie ihre
       Leistungen – und damit die aller anderen Mütter in unserer Gesellschaft –
       nicht anerkannt, sondern als selbstverständlich hingenommen. Damit findet
       sie einen versöhnlichen Abschluss für ihre Geschichte.
       
       Mit einem solchen kann ich leider nicht dienen. Ich hatte nie den Impuls,
       mich bei meiner Mutter zu bedanken. Es ist zu viel zwischen uns
       schiefgelaufen.
       
       Doch während ich diesen Text schrieb, hatte ich manchmal das Gefühl, sie
       sitze neben mir. Jetzt, da ich die letzten Worte tippe, sagt meine Mutter
       zum ersten Mal etwas.
       
       „Bis du erwachsen warst, war ich die meiste Zeit bei dir“, erinnert sie
       mich.
       
       „Ich war nicht nur eine Mutter, die weggegangen ist.“
       
       Ich nicke.
       
       Das stimmt.
       
       17 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2023/PD23_20_p002.htm
   DIR [2] https://www.srf.ch/play/tv/dok/video/felizitas-ambauen-die-mutter-ist-nicht-hauptverantwortlich-fuer-das-gesunde-gedeien-der-kinder?urn=urn%3Asrf%3Avideo%3A7bf424cf-55b7-41dd-8bb0-5500d89f9119
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christine Leutkart
       
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