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       # taz.de -- Literaturverständnis des Papstes: Franziskus hört Stimmen
       
       > Papst Franziskus preist in einem Brief die Empathie, die Literatur
       > auslösen kann. Doch wie empathisch ist er selbst in seinem Handeln?
       
   IMG Bild: Papst und Literaturfreund Franziskus
       
       Der Papst schreibt hin und wieder Briefe. Die befassen sich meist mit
       theologischen Fragen und besitzen, im Gegensatz zu anderen Dokumenten aus
       Rom, für die katholische Kirche nur geringe Verbindlichkeit. Sie sind eher
       als Anregung zu verstehen und treffen meist nur bei ihren unmittelbaren
       Adressat*innen auf größeres Interesse.
       
       Nicht so der jüngste Brief vom 17. Juli. Er widmet sich der „Bedeutung der
       Literatur in der Bildung“ und wurde selbst über die Grenzen der
       katholischen Kirchenblase begeistert aufgenommen – etwa in den deutschen
       Feuilletons. Um Papst Franziskus für seine Ausführungen Respekt zu zollen,
       müsse man „kein Priesterlehrling sein, auch kein gläubiger Mensch oder
       Anhänger der katholischen Kirche“, [1][schreibt Gerrit Bartels im
       Tagesspiegel]. Und Gustav Seibt [2][lobt in der Süddeutschen Zeitung] fast
       wortgleich: „Man muss kein Christ sein, […] um das wahr und schön zu
       finden.“
       
       Tatsächlich stellt das im Brief präsentierte Literaturverständnis das
       Selbstverständnis der katholischen Kirche teilweise infrage. Zentrales
       Kriterium der Beurteilung von Literatur ist laut Franziskus nämlich nicht
       ihre erbauliche Wirkung, also ihr Beitrag zur Ausbildung guter
       Christenmenschen, wie sie in der Vergangenheit häufig zur Beurteilung von
       Literatur herangezogen wurde. So hatte Joseph Ratzinger noch 2003 als
       Präfekt der Glaubenskongregation die Buchreihe „Harry Potter“ in einem
       Brief mit drastischen Worten verworfen. Das seien „subtile Verführungen,
       die […] das Christentum in der Seele zersetzen“. Wahrscheinlich ging es dem
       späteren Papst Benedikt XVI. um die Schilderung von Magie, die junge
       Menschen angeblich in die Arme des Teufels treibe.
       
       Solche Ängste plagen Franziskus nicht mehr. Unter Berufung auf seinen
       argentinischen Landsmann Jorge Luis Borges definiert er, dass das Lesen von
       Literatur vor allem darin bestünde, die „Stimme von jemandem zu hören“.
       Bücher würden ihren Leser*innen dabei helfen, in die „konkrete, innere
       Existenz des Obstverkäufers, der Prostituierten, des Kindes, das ohne
       Eltern aufwächst“, einzutauchen. Sie könnten daher das Verständnis für die
       Lebenswirklichkeit anderer Menschen verbessern und würden, laut Franziskus,
       vor allzu schnellen Urteilen bewahren, die das Gesetz über die
       Menschlichkeit stellen.
       
       ## Schriftstellerinnen bleiben unerwähnt
       
       Welche Bücher für den Papst Derartiges am besten leisten, bleibt jedoch
       offen. Der Brief listet keine Titel auf. Es werden lediglich die Namen von
       kanonischen Schriftstellern wie Paul Celan, T. S. Eliot oder Marcel Proust
       genannt. Was sich unter den akademischen und literarischen Referenzen des
       Papstes hingegen nicht findet, ist eine Frau. Diese Stimmen bleiben stumm.
       
       Dabei könnten Franziskus und viele Katholik*innen, die sich gerne
       päpstlicher als der Papst geben, einiges lernen! Etwa [3][von Michela
       Murgia]. Die kürzlich verstorbene italienische Autorin machte in ihren
       Texten immer wieder ein anderes Verständnis von Familie zum Thema, eines,
       das nicht in Biologismen aufgeht und dafür die von Blutsverwandtschaft
       unabhängige Übernahme von Verantwortung betont. Und vielleicht könnten die
       Romane [4][des ukrainischen Autors Juri Andruchowytsch] bei Franziskus ein
       wenig Verständnis für die vom russischen Krieg geplagte Ukraine wecken.
       Auch eine Stimme, die in den vergangenen Jahren [5][nicht so recht zum
       Papst durchzudringen schien].
       
       Dementsprechend verharmlost ein Kritiker wie Gustav Seibt den Brief des
       Papstes vielleicht etwas, wenn er diesen lediglich als Warnung vor
       „moralischen Todesurteilen“ versteht: Letztlich appelliert das Dokument
       auch an die katholische Kirche, sich der in ihr weit verbreiteten
       Doppelmoral zu stellen.
       
       20 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.tagesspiegel.de/kultur/der-papst-feiert-die-literatur-seine-worte-nicht-nur-in-gottes-ohr-12185849.html
   DIR [2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/papstbrief-literatur-lesen-lux.Cx9W6Ei5VPFvwLMy88esca?reduced=true
   DIR [3] /Erzaehlungen-von-Michela-Murgia/!5989985
   DIR [4] /Ukrainischer-Autor-Andruchowytsch/!6014725
   DIR [5] /Ukraine-solle-weisse-Fahne-hissen/!5994630
       
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