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       # taz.de -- Tag der Erinnerung an den Sklavenhandel: Weiße Flecken der Erinnerungskultur
       
       > In muslimischen Communities wird der eigene Anteil am Sklavenhandel
       > weitgehend verdrängt. Das ist nicht nur ein historisches Problem.
       
   IMG Bild: Befreite ehemalige Sklaven auf Sansibar in einer christlichen Mission, c. 1880
       
       Am 23. August jährt sich der Internationale Tag der Erinnerung an den
       [1][Sklavenhandel] und an seine Abschaffung. Der Gedenktag, der 1998 von
       der Unesco ausgerufen wurde, ist für uns Schwarze von besonderer Bedeutung.
       Denn viele von uns in der Diaspora, wie ich, sind Nachkommen von Menschen,
       die als Versklavte aus Afrika verschleppt und lebenslänglich ausgebeutet
       wurden.
       
       Die Wurzeln des transatlantischen Sklavenhandels reichen bis ins Jahr 1619
       zurück. Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden rund zwanzig
       Millionen Männer, Frauen und Kinder gewaltsam entführt, angekettet und in
       die Laderäume wartender Schiffe gezwängt.
       
       Schätzungsweise zwei Millionen von ihnen erlagen den erbarmungslosen
       Bedingungen an Bord der Seelenverkäufer. Parasitenbefall, Peitschenhiebe,
       Pocken: Alltag in der Enge unter den knarzenden Planken. Wer während der
       sogenannten Mittelpassage nicht in die Wellen entsorgt wurde, kam in der
       Neuen Welt wie ein Stück Vieh zur Versteigerung.
       
       Meine Vorfahren landeten in Nordamerika, als es die Vereinigten Staaten
       noch lange nicht gab. Wer nicht das Glück hatte, eines Tages freigekauft zu
       werden oder bei der neuen Armee im Krieg gegen die Briten dienen zu dürfen,
       musste in der Regel als Eigentum weißer Plantagenbesitzer auf dem Feld
       ackern.
       
       Manche arbeiteten eher im Hause des Herrn, aber ebenda wurden sie, ob
       Männlein oder Weiblein, routinemäßig vergewaltigt. Das erklärt, warum ich
       mit meiner verhältnismäßig hellen Haut zu den light-skinned Schwarzen
       zähle. Ein „Privileg“, das in Folge eines generationenübergreifenden
       Purgatoriums entsteht.
       
       Das Datum des Gedenktags kommt nicht von ungefähr. In der Nacht vom 22. auf
       den 23. August 1791 begann in der damaligen französischen Kolonie
       Saint-Domingue eine Rebellion, die Schockwellen rund um den Globus sandte.
       
       Angetrieben von einem unerschütterlichen Willen zur Freiheit erhoben sich
       die Versklavten gegen ihre Unterdrücker. Der Aufstand, unter der Leitung
       von [2][Toussaint Louverture] und Jean-Jacques Dessalines, führte zur
       Gründung Haitis und inspirierte Abolitionistinnen zur Bekämpfung der
       Sklaverei weltweit. Aber noch heute ist dieser Aufstand, obwohl akribisch
       dokumentiert, wenigen Menschen bekannt.
       
       ## Aktive Geschichtspflege
       
       In meiner Kindheit in den USA der 1960er Jahre, auch als die
       Bürgerrechtsbewegung an Fahrt aufnahm, war eine offene, umfassende
       Diskussion über die Sklaverei noch immer weitgehend tabuisiert. Der Kalte
       Krieg und die fieberhafte Angst vor einer Umverteilungsorgie ließen es
       nicht zu.
       
       Etliches, was ich in puncto Sklaverei lernte, erfuhr ich von meiner
       Großmutter (1893 –1977): Ihre Eltern waren als junge Menschen in Tennessee
       nämlich noch Versklavte gewesen! Das muss man einmal gründlich auf sich
       wirken lassen. Storytelling ist in afroamerikanischen Familien ein
       zentraler Bestandteil der Kultur, der Identität stiftet und Wissen
       übermittelt.
       
       Doch ähnlich wie bei unseren jüdischen Schwestern und Brüdern, die mit dem
       Aussterben der Holocaust-Überlebenden die Anwesenheit der
       Zeitzeug:innen schmerzlich vermissen, bedürfen wir – und die breite
       Öffentlichkeit überhaupt – einer aktiven Geschichtspflege.
       
       Das zeigt in aller Deutlichkeit die Situation in den USA, wo der
       Wertekonflikt integraler Bestandteil des Wahlkampfs ist. Die Entscheidung
       einiger konservativ geführter US-Schulbezirke, zahlreiche Bücher über die
       Sklaverei – wie übrigens auch über die Shoah – aus den Lehrplänen zu
       streichen, ist ein alarmierendes Zeichen für die anhaltenden
       Auseinandersetzungen um die Erinnerungskultur.
       
       Die Verdrängung der Sklaverei ist freilich eine Tendenz, die nicht nur der
       weißen, christlich-konservativ geprägten Dominanzgesellschaft bescheinigt
       werden muss.
       
       Bei woken Wortführer:innen und muslimischen Meinungsbildner:innen
       herrscht eine auffällige Zurückhaltung, sich mit bestimmten Aspekten der
       eigenen unrühmlichen Geschichte auseinanderzusetzen. Mit diesem Reflex
       schaffen sie das dubiose Bravourstück, den arabischen Sklavenhandel der
       historischen Betrachtung zu entziehen.
       
       Dabei geht es hier nicht um einen Nebenschauplatz des Menschenhandels: Das
       europäische Geschäft mit afrikanischen Menschen dauerte ca. 400 Jahre. Der
       arabische Sklavenhandel florierte nahezu anderthalb Millennien lang.
       
       Dass ein systematisches Verbrechen gegen die Menschheit, das sich von
       islamischen Ländern aus über drei Ozeane und dreizehn Jahrhunderte hinweg
       ausdehnte, ignoriert wird, ist eine Schande. Nicht minder schlimm ist, dass
       auf den Gebeinen von etlichen Generationen Schwarzer Opfer ein dauerhafter
       Angriffskrieg gegen Israel ausgefochten wird.
       
       Das Schweigen über die eigene dunkle Geschichte erzeugt eine kognitive
       Dissonanz, die es der propalästinensischen Bewegung ermöglicht, den
       Rassismus in einem moralisch selbstgerechten Rahmen zu verurteilen, während
       sie gleichzeitig dazu aufruft, den jüdischen Staat auszulöschen.
       
       Im Namen der Dekolonisierung wird eine selektive Erinnerungskultur
       gepflegt, die einen arabischen Freiheitskampf gegen den Westen idealisiert,
       während der islamische Imperialismus und dessen bis heute spürbare
       Auswirkungen auf die Hälfte des afrikanischen Kontinents ausgeklammert
       werden.
       
       Schwarze kommen nur als Bauernopfer vor, dürfen gerne mitreden – aber nur
       solange sie das Nakba-Narrativ in den besetzten Hörsälen und auf Instagram
       und Tiktok weitererzählen. Und solange sie den Namen [3][Joshua Mollel]
       nicht erwähnen, den in Israel arbeitenden Tansanier, der von der Hamas vor
       laufender Kamera rassistisch beschimpft und brutal hingerichtet wurde.
       
       Seit dem 7. Oktober erleben wir, wie der Begriff „Apartheid“ eher
       hysterisch als historisch fundiert benutzt wird. Durch die Fokussierung auf
       den westlichen Kolonialismus konstruieren islamistische Bewegungen ein
       simplifiziertes Feindbild-Narrativ, das eigene Machtansprüche legitimiert
       und eine kritische Selbstreflexion verhindert. Doch Befreiung bedeutet
       nicht zuletzt, sich von der Sklaverei der selektiven, systematischen
       Geschichtsverweigerung zu emanzipieren.
       
       23 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Strassenumbenennung-im-Wedding/!6031576
   DIR [2] /Neuauflage-Die-schwarzen-Jakobiner/!5821638
   DIR [3] https://www.bbc.com/news/world-africa-67713520
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michaela Dudley
       
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