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       # taz.de -- Öffentliche Notdurft: Die Scham vor dem Alltäglichen
       
       > Ein Mensch verrichtet sein Geschäft ganz öffentlich, im Park – und macht
       > damit sichtbar, dass es ihm an Rückzugsraum fehlt.
       
   IMG Bild: Was für ein Privileg, eine Toilette zu besitzen, die jederzeit selbstverständlich da ist!
       
       Ein Park in Altona: Auf dem Hundeauslaufplatz tollen Hunde herum. Kleine
       und große Hunde, verschiedene Fellfarben wirbeln durcheinander. Da ist ein
       ausgelassenes Bellen. Ein Jaulen von zwei, die umeinander springen, sich
       kurz verhaken. Dann der Befehl eines Menschen. Und wieder löst sich alles,
       ist ein Spiel. Die Menschen, zu denen die Hunde gehören, stehen eher ruhig
       miteinander, wie Linienrichter um einen Platz, in dem sich das Spiel
       zuträgt. Sie blicken ihre Hunde stolz an, als wären sie ihre Kinder. Sie
       kommen [1][miteinander über die Hunde leicht ins Gespräch]: Der Hund –
       Brücke zwischen Menschen.
       
       Bereitwillig stülpen die Menschen auch Plastiktüten über ihre Hände und
       bringen den Kot ihrer Hunde weg. Kein Ekel, kein Staunen darüber. Auf dem
       Hundeauslaufplatz wirken Menschen meist voller Liebe, Leichtigkeit und
       Hingabe an ihre Tiere.
       
       Neben dem Platz, auf einem schmalen Stück zwischen dem Zaun und einem Weg,
       steht ein älterer Mann. Er sieht etwas verloren aus. Er hat keinen Hund, er
       scheint auch sonst zu niemandem zu gehören. Er trägt eine abgetragene
       Jeans. Woher er kommt, zu was er will, ist nicht auszumachen an diesem
       schmalen Zwischenort.
       
       Dann zieht der Mann auf einmal seinen Hosenbund hinab, er muss die Hose
       nicht öffnen, damit sie sich über seine Hüften hinunter bewegt. Er hat
       keinen Schutz und er scheint auch keinen zu suchen. Die Hose gleitet seine
       Beine hinunter, landet zusammengerollt auf den Schuhen. Der Mann ist nun
       unten herum ganz nackt. Sein Hinterteil ist entblößt. Stehend schiebt er es
       nach hinten und presst.
       
       Wer hier auf dem Fußweg läuft, sieht ihn. Es ist fast unmöglich, ihn zu
       ignorieren. Er presst im Stehen, völlig enthemmt, ohne Scheu, als säße er
       auf einer Toilette. Es ist ja auch das, was alle Menschen tun und worüber
       meist nicht gesprochen wird. Die Notdurft ist etwas oft Tabuisiertes,
       Unsichtbares, wenn es nicht gerade um die vollen Windeln kleiner Kinder
       geht. Jedes Geräusch, jeder Geruch um unser Geschäft wird versteckt,
       schnell beseitigt. Um etwas so Selbstverständliches, Alltägliches besteht
       so viel Scham.
       
       Doch der Mann verrichtet sein Geschäft in aller Öffentlichkeit. Fast
       scheint es wie ein Akt des Protests: ein Ich-scheiß-auf-alles-und-auf-Euch.
       Er steht dort in seiner nackten, gebogenen Pose wie eine Statue, die
       bildhauerisch herausgearbeitet wurde. Und hinter ihm tollen die Hunde, gibt
       es den Platz für das Spiel der Haustiere, mit Menschen, die sie sorgsam
       überwachen.
       
       So sehr die öffentliche Privatheit des Mannes überrascht, hat sie auch
       etwas Natürliches. Er steht da auch wie ein Symbol für den ewigen Kreislauf
       von Verdauung, dem natürlichen Ende der Nahrungskette von Essen und
       Ausscheiden, etwas zu sich nehmen, loslassen. Geboren werden, groß werden,
       alt werden und sterben. Wie wir eben müssen und gleich sind bei allen
       vermeintlichen Unterschieden als Mensch.
       
       Doch dann sind sie da, die irritierten Blicke auf ihn. Auch der Menschen
       vom Platz, die ihre Hunde um ihr öffentliches Geschäft nicht verurteilen.
       Und die Blicke bringen weitere Gedanken.
       
       Womöglich ist der Mensch obdachlos. Vielleicht besitzt er einfach kein Klo.
       Und hier sind keine Büsche, in die er sich zurückziehen kann. Der Mann hat
       auch kein Klopapier bei sich. Er hat keinen privaten Raum für sein
       Geschäft. Ja, wohin soll er denn auch gehen? Es gibt insgesamt zu wenige
       [2][öffentliche Toiletten], zu wenig sanitäre Anlagen für obdachlose
       Menschen, zu wenig Rückzug. Was für ein Privileg, eine Toilette zu
       besitzen, die jederzeit selbstverständlich da ist! Wohnraum bedeutet auch,
       sich den Blicken anderer entziehen zu dürfen. Für Intimität, Hygiene. Der
       Mann im Park macht auch sichtbar, was fehlt.
       
       Er muss. Wie wir alle.
       
       24 Aug 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Christa Pfafferott
       
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