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       # taz.de -- Psychiater über Krieg im Libanon: „Die erste Reaktion ist instinktiv“
       
       > Über Beirut donnern israelische Kampfflugzeuge hinweg, die Menschen
       > sorgen sich vor einem den ganzen Libanon betreffenden Krieg. Was macht
       > das mit ihnen?
       
   IMG Bild: Das Leben geht für viele Libanes*innen trotz des Krieges recht normal weiter: Zwei Mädchen beim Shopping in Beirut Mitte August
       
       Beirut taz | Etwa drei Wochen ist es nun her, dass Israel den
       Hisbollah-Kommandeur [1][Fuad Shukr in Südbeirut tötete], wohl als
       Vergeltung für einen der Hisbollah zugeschriebenen Luftangriff auf die
       Golanhöhen, [2][bei dem zwölf drusische Kinder starben]. Außerdem wurde
       Ende Juli Hamas-Politbürochef Ismael Hanijeh in der iranischen Hauptstadt
       Teheran getötet, Israel soll dafür verantwortlich sein. Der Iran droht für
       beide Angriffe mit Vergeltung, seitdem hält wohl die gesamte Region den
       Atem an.
       
       taz: Herr Sassine, über der libanesischen Hauptstadt Beirut sind immer
       wieder die Kampfflugzeuge des israelischen Militärs zu hören. Und die
       Unsicherheit, was als nächstes kommen könnte, zehrt an den Leuten. Sie
       betreuen als Psychiater Menschen, denen diese Bedrohungslage zusetzt.
       Worüber klagen ihre Patient*innen? 
       
       Elio Sassine: Instabilität und eine latente Bedrohungslage existieren schon
       lange im Libanon. [3][Seit der Explosion am Hafen in Beirut vor vier
       Jahren] haben wir hier eine Epidemie von Angststörungen und Depressionen.
       Außerdem sind posttraumatische Belastungsstörungen – kurz PTBS genannt –
       weit verbreitet, insbesondere unter den Opfern der Explosion. Das jüngst
       öfter hörbare Donnern der israelischen Flugzeuge, die im Überschall über
       Beirut fliegen, hat bei vielen Erinnerungen an die Explosion geweckt.
       Angstzustände, Panikattacken und Schlafstörungen haben dadurch noch
       zugenommen.
       
       taz: Wenn die Flugzeuge die Schallmauer durchbrechen, hört sich das wie
       eine Explosion an. Israel wird deshalb vorgeworfen, im Libanon [4][auch
       einen psychologischen Krieg] zu führen. 
       
       Sassine: Ob es eine Explosion ist oder sich erst mal nur so anhört – die
       erste Reaktion des Menschen ist instinktiv. Bis man versteht, dass es nur
       ein Überschallknall ist, hat man Angst, vielleicht sogar Todesangst – und
       damit ist der Schaden schon angerichtet. Es ist schwierig, diese Geräusche
       sofort zu rationalisieren. Gerade die Menschen, die bereits viel
       durchgemacht haben – etwa die Explosion am Beiruter Hafen –, erleben
       unmittelbar eine Wiederholung des Vergangenen.
       
       taz: Welche anderen Taktiken der psychologischen Kriegsführung fährt Israel
       gegen den Libanon auf? 
       
       Sassine: Die Drohung eines totalen Krieg, bei dem es nicht mehr nur um
       gezielte Angriffe geht, wird über Medien, Whatsapp sowie die sozialen
       Netzwerke verbreitet. Manche Menschen haben das Land verlassen, andere
       ihren Urlaub im Libanon abgebrochen. Denn es kursieren ständig Gerüchte:
       Diese Nacht könnte der Krieg ausbrechen. Diese permanenten Gerüchte und
       Drohungen sind psychologisch noch schädlicher als die Überschallknalle.
       
       taz: Was macht sie so schwerwiegend? 
       
       Sassine: Sie lassen uns in ständiger Bedrohung und Unsicherheit leben, in
       der ständigen Erwartung, dass bald etwas passieren wird. Das geht nun schon
       seit Wochen so. Als der [5][Krieg in Gaza vor zehn Monaten] begann,
       tauchten die ersten Drohungen israelischer Politiker in den Medien auf: Der
       Libanon solle bombardiert und eingenommen, Beirut in Schutt und Asche
       gelegt werden. Wir wissen, wie die israelische Kriegsführung aussehen kann.
       Wir sehen es in Gaza.
       
       taz: Die Menschen haben also das Gefühl, permanent wachsam sein zu müssen? 
       
       Sassine: Ja, das nennt man Hypervigilanz und es kann ein Symptom für eine
       posttraumatische Belastungsstörung sein. Aber aufgrund der derzeitigen
       Situation im Libanon sind wir nun wohl alle übermäßig wachsam. Jedes laute
       Geräusch, selbst eine zuschlagende Tür, lässt uns aufschrecken und in eine
       Kampf- oder Fluchtreaktion verfallen.
       
       taz: Wie kann diese Reaktion aussehen?
       
       Sassine: Wir sehen, was in Gaza Schreckliches passiert: Menschen, die unter
       Trümmern sterben, Kinder, die enthauptet werden. Das ist sehr belastend,
       vor allem im Libanon – denn wir wissen, dass wir die nächsten Opfer sein
       könnten. Der Panikmodus setzt ein – dann fühlt es sich so an, als würde
       gleich etwas passieren. Diese instinktive Kampf-oder-Flucht-Reaktion des
       Menschen sollte nur Sekunden dauern, ist hier aber Dauerzustand.
       
       Zu den Symptomen der Angstzustände, PTBS und Depressionen, unter denen
       viele hier leiden, gehören unter anderem unaufhaltsam kreisende Gedanken,
       Schlaflosigkeit, Gewichtsverlust und Appetitlosigkeit. Depressionen können
       zu anhaltender Verzweiflung, Pessimismus und einem Verlust des Interesses
       am Leben führen. Mit PTBS geht weiter das Vermeiden von bestimmten
       Situationen einher, und die Betroffenen sind oft reizbar.
       
       taz: Dem Krieg kann man auch im normalen Alltag kaum entkommen: Das
       GPS-Signal ist gestört, oft wird als Standort, etwa auf Google Maps, der
       Flughafen von Beirut angezeigt – obwohl man sich ganz woanders aufhält. Auf
       [6][Dating-Apps] werden einem sogar Profile aus Israel vorgeschlagen, denn
       auch dort wird im Norden des Landes das GPS gestört. Ist das ebenfalls ein
       Teil der psychologischen Kriegsführung? 
       
       Sassine: Das sind keine Lappalien: Es zeigt, dass Israel in der Lage ist,
       das tägliche Leben der Menschen beeinflussen zu können. Das ist
       beängstigend.
       
       taz: Trotz aller Sorgen posten viele Libanes*innen auch Fotos vom
       Strand, von Hochzeiten und wilden Partys – ein scheinbar fröhlicher
       Sommer. 
       
       Sassine: Das ist kein Paradox. Ich bin 58 Jahre alt und gerade in meiner
       Generation haben wir von Geburt an Kriege erlebt. Ohne
       Bewältigungsmechanismen wären wir vor Verzweiflung wohl gestorben. Deshalb
       genießt man in diesem Land die Momente, in denen man nicht direkt bedroht
       ist.
       
       [7][Es ist gut, wenn die Leute ihre Sorgen wegtanzen]. Aber wenn in
       bestimmten Regionen des Landes, vor allem im Süden, Menschen sterben oder
       vertrieben werden, dann sollte man sich aus Gründen der Pietät ein bisschen
       zurückhalten. Das ist meine persönliche Ansicht.
       
       taz: Welche Bewältigungsmechanismen gibt es sonst noch? 
       
       Sassine: Es ist wichtig, vorzubeugen. Dafür gibt es gute Strategien: nicht
       zu viele Nachrichten konsumieren, vor allem nicht aus unzuverlässigen
       Quellen, denn die ständigen Updates können überwältigend sein. Über Sorgen
       sprechen. Und wenn die persönliche Situation ernster wird, sollte man sich
       professionelle Hilfe holen. Bei Schlafproblemen können Ärzt*innen außerdem
       eine geringe Dosis eines passenden Medikaments verschreiben. Auch ein
       routinierter Tagesablauf hilft, einschließlich Sport und Arbeit. Und gerade
       Kinder sollten nicht mit beunruhigenden Nachrichten konfrontiert werden.
       Wenn die Kleinen Angst bekommen, sollten sie beruhigt werden und ihnen die
       Situation in aller Ruhe erklärt werden.
       
       taz: Es heißt oft, Libanes*innen seien sehr resilient, und dass der
       Libanon wie ein Phönix aus der Asche immer wieder auferstehe. 
       
       Sassine: Resilienz ist ein vager Begriff. Es stimmt zwar, dass die
       Libanes*innen viel ertragen haben und dadurch eine gewisse
       Widerstandsfähigkeit aufgebaut haben. Doch die den Libanes*innen
       nachgesagte Resilienz kann auch Ausdruck der Unfähigkeit sein,
       Veränderungen durchzusetzen. Die Menschen haben immer wieder versucht, das
       politische System im Libanon zu verändern, vor allem während der großen
       Proteste im Jahr 2019. Aber das zutiefst korrupte politische System machte
       es fast unmöglich, echte Veränderungen zu erreichen.
       
       Was Resilienz genannt wird, ist eher eine Anpassung an die bestehende
       Situation, wenn ein Wandel unerreichbar scheint. Kurzfristig schützt das
       vielleicht vor Ängsten, aber es behindert auch die Fähigkeit, aktiv einen
       dauerhaften Wandel in Politik und Gesellschaft zu gestalten. Sich für
       Veränderung einzusetzen, kann die Psyche positiv beeinflussen.
       
       taz: Einige versuchen, den Libanon zu verlassen – doch es gibt auch einen
       Gegentrend: Viele in der [8][Diaspora] lebende Libanes*innen möchten
       gerade jetzt in den Libanon zurückzukehren. Warum? 
       
       Sassine: Ich habe selbst Freunde, denen es so geht. Und auch mein Sohn lebt
       in der Schweiz und ist vor einigen Tagen im Libanon angekommen. Das liegt
       an dem starken Bedürfnis, solidarisch zu sein, in schwierigen Zeiten
       zusammenzustehen – ein Charakterzug, der in der libanesischen Gemeinschaft
       tief verwurzelt ist. Beim letzten Krieg zwischen Israel und der Hisbollah
       im Jahr 2006 konnte man sehen: Wenn es ernst wird, steht das Land zusammen,
       die Menschen zeigen viel Solidarität. Das treibt viele an, zurückzukommen
       und ihr Land zu unterstützen – trotz der Risiken, die sie damit eingehen.
       
       Ich habe selbst im Ausland studiert, als der Bürgerkrieg im Libanon (von
       1975 bis 1990, Anm. d. Red.) tobte – und habe mich sehr unwohl dabei
       gefühlt, außerhalb meines Landes zu sein. Es ist oft besser, vor Ort zu
       sein, dort aktiv helfen zu können, als sich aus der Ferne ohnmächtig und
       besorgt zu fühlen.
       
       19 Aug 2024
       
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