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       # taz.de -- Ausstellung im Rahmen der Ruhrtriennale: Melancholie der Rekonstruktion
       
       > Die Ausstellung „Landscapes of an Ongoing Past“ zeigt Künstler*innen
       > aus dem Osten. Sie läuft im Rahmen der Ruhrtriennale.
       
   IMG Bild: Fedir Tetianych, „Biotechnosphere, 1970s 1980s“, Nachbau​
       
       Das Ruhrgebiet fühlt sich manchmal an wie Osteuropa. Das liegt nicht nur
       daran, dass dieser Ballungsraum nach wie vor von Einwanderung bestimmt ist.
       Seit Beginn der heißen Phase der Industrialisierung am Ende des 19.
       Jahrhunderts kamen allein mehr als eine halbe Million polnischer
       Einwanderer in die Region und prägten das Leben und die Kultur im Revier.
       Auch in den letzten Jahrzehnten wanderten Hunderttausende Menschen aus den
       Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Polen und aus dem ehemaligen
       Jugoslawien ins Ruhrgebiet ein.
       
       Eine weitere Parallele ist die Prägung durch die Schwerindustrie, die im
       Ruhrgebiet durch den Strukturwandel an ihr Ende kam und im Osten durch den
       Fall des Eisernen Vorhangs schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde.
       Industrieruinen gibt es also hüben wie drüben, verblassende Spuren von
       ökologisch und moralisch belasteten Zweigen industrieller Produktion,
       Erinnerungen an prekäre Arbeitsbedingungen und die hemmungslose Ausbeutung
       von Ressourcen.
       
       Hierzulande wurden die „Kathedralen der Arbeit“ längst umgewidmet, sie
       dienen heute vor allem als Kulturorte. Dennoch liegt etwas Unerlöstes auch
       über dem riesigen, längst zum Welterbe erhobenen Gelände der Zeche
       Zollverein. Die Erinnerungen sind nicht zu vertreiben durch Cafés, neue
       Museen und radelnde Freizeitmenschen. Die ursprüngliche Bestimmung der
       Zeche ist erloschen, sie wurde verlassen von den Arbeitern, die dort
       schufteten. Und das verbindet Industrieruinen wie die Zeche in gewisser
       Weise mit Ruinen des Kriegs, die aufgegeben wurden.
       
       Diese Verbindung erklärt, wie verblüffend schlüssig und atmosphärisch
       stimmig die Ausstellung „Landscapes of an Ongoing Past“ im Rahmen der
       Ruhrtriennale im Salzlager der Kokerei auf Zeche Zollverein gelungen ist.
       Sie zeigt historische und zeitgenössische Arbeiten von Künstler*innen
       aus dem ehemaligen sozialistischen Osten und konfrontiert sie mit dem im
       Salzlager seit 2001 fest installierten „Palast der Projekte“ des aus der
       Ukraine stammenden Künstlerpaars Ilya und Emilia Kabakov.
       
       Formell tun sich die neuen Arbeiten auf den ersten Blick in die riesige
       Halle etwas schwer, gegen das gigantische, schneckenförmige Konstrukt der
       Kabakovs anzukommen, eine begehbare zweistöckige Installation, aber das ist
       nur der erste Eindruck.
       
       Vor der Halle hatte schon ein skurriles Objekt gefesselt, eine Art
       Raumkapsel auf einem Eisenbahn-Radgestell, eine eigens für Essen gefertigte
       Rekonstruktion von [1][„Biotechnosphere“ des 2007 gestorbenen ukrainischen
       Avantgarde-Künstlers Fedir Tetianych] aus den frühen 1980er Jahren. Sein
       Sohn Bogdan und die ukrainische Künstlerin Bögdana Kosmina besorgten die
       Rekonstruktion des Objekts, das ursprünglich am Eisenbahndepot der Stadt
       Popasna in der Region Luhansk installiert war und verloren ging.
       
       ## Verschwundene Objekte
       
       Drinnen nimmt Nikita Kadans Installation „The Popasna Corner“ ebenfalls
       Bezug auf das verschwundene Objekt und erinnert an das ehemalige
       Stadtmuseum der Stadt Popasna, Museum und Stadt wurden 2022 ausgelöscht,
       als die russische Armee das Gebiet besetzte.
       
       Rechts an der Wand prangt ein gewebter Fries mit violetten Lettern in
       kyrillischer Schrift, sie sind eine Abkürzung für „Anzahl der geschnittenen
       Teile“, eine auf Etiketten aufgebrachte Information aus der
       Textilproduktion. Die aus Georgien stammende Künstlerin Nino Kvrivishvili,
       die selbst Textildesign studierte, reflektiert damit die Textilproduktion
       in Georgien, die in den Zeiten der Sowjetunion einen zentralen
       Industriezweig des Landes ausmachte. Zwei Wandteppiche, auf denen
       Stoffrollen zu sehen sind, thematisieren zudem die traditionelle Praxis des
       Webens.
       
       Textilien ganz anderer Art schafft [2][die ukrainische Künstlerin Zhanna
       Kadyrova], die für ihre ortsspezifischen Arbeiten Materialien aus Gebäuden
       verwendet, die leer stehen oder abgerissen werden. Hier zeigt sie Werke aus
       der Reihe „Second Hand“, für die sie aus Keramikfliesen skulpturale Objekte
       in Gestalt von Kleidern schuf, Hemden und T-Shirts aus Keramik; ein
       karierter Schal, der schwer an einem Bügel hängt, springt besonders ins
       Auge.
       
       ## Utopische Welt und Chromabbau
       
       Fast zu zart in der Umgebung der robusten Ästhetiken ihrer Kolleg*innen
       dagegen wirken Jana Gunstheimers feine Graphit-Zeichnungen, die an die DDR
       erinnern, in der sie aufwuchs. Stark vertreten ist auch das Genre der
       Videoarbeiten: Der Ukrainer Yuri Yefanov zeigt den Film „We will definitely
       talk about this after the last air raid alert stops“, eine quietschbunte
       Zeitreise in eine utopische Welt, die Krisen und Kriege der Gegenwart
       überwunden hat.
       
       Poetisch wirkt die skulpturale Videoinstallation des Albaners Driant Zeneli
       „Maybe the cosmos is not so extraordinary“, die bereits bei der 58.
       Biennale in Venedig im albanischen Pavillon zu sehen war. Vor dem
       Hintergrund des Chromabbaus in Albanien spielt sein Film in einer Mine, die
       das Mineral abbaut. Dort finden fünf Kinder eine riesige silberne Kapsel,
       die Umgebung der realen Mine wird zur surrealen Kulisse.
       
       Auf bequeme Massagestühle bittet die ukrainische Künstlerin Uli Golup für
       ihr Video „Babushka in Space“, eine fiktive Reise mit ihrer 83-jährigen
       Großmutter, die sich auf eine Installation von Ilya Kabakov bezieht.
       
       Und im Cinema-Pavillon werden abwechselnd sieben Filme gezeigt, darunter
       die nachdenkliche Arbeit „Das sowjetische Hauptquartier“ von 2023 des auf
       Rügen geborenen Künstlers Sven Johne: Ein nervöser Immobilienmakler führt
       eine scheinbare Interessentin durch das leerstehende ehemalige sowjetische
       Hauptquartier in Wünsdorf in Brandenburg, in dem die Frau als achtjähriges
       Kind den Abzug der sowjetischen Truppen erlebte. Man folgt den
       melancholischen, die Vergangenheit idealisierenden Gedanken der Frau, ihren
       Erinnerungen an jene Zeit des Umbruchs und ihren Verlusterfahrungen.
       
       Eine stimmige Ausstellung, unbedingt sehenswert. Ärgerlich: Alle
       Informationen, selbst die Titel der Arbeiten nebst Künstler*innen-Namen
       muss man sich im Halbdunkel aus dem immerhin kostenlosen Beiheft selbst
       zusammenfummeln. Es müssen ja nicht gleich meterlange Wandtexte sein, aber
       die Basisinformationen hätte man doch gern.
       
       20 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Regine Müller
       
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