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       # taz.de -- Westernepos „Horizon“ von Kevin Costner: Überleben ist ein Kampf
       
       > Western ‚irgendwie anders‘ ist in jüngerer Zeit ein beliebter Ansatz.
       > Kevin Costner erprobt das mit dem mehrteiligen Epos „Horizon“.
       
   IMG Bild: Klassische Szene aus „Horizon“
       
       Berlin taz | Justus D. Barnes brachte es auf den Punkt. Die Szene aus dem
       Stummfilm „The Great Train Robbery“ von 1903, die Deutschen vor allem aus
       Vor- und Abspann der Fernsehserie „Western von gestern“ bekannt ist, zeigte
       den Schauspieler mit Cowboyhut, Bandana und Seehundschnauzer.
       Entschlossenen Blickes hebt er den Revolver und schießt in Richtung Kamera.
       Auf der Tonspur würde man ein „Piuuu“ hören. Oder auch ein „Peng“.
       
       Im Western leben all jene Konfliktthemen, die die USA bis heute umtreiben:
       das tief empfundene „Bürgerrecht“ auf Waffen, die man auch zum Ausrotten
       der jahrhundertelang ignorant als „Indianer“ fremdbezeichneten
       Einheimischen benutzte. Männliche Aggressivität. Xenophobie. Die
       unbarmherzige Sonne, die Weite, die Freiheit der Prärie. Das Streben nach
       Besitz, der Diebstahl von Land. Nicht zuletzt moralische Fragen verbunden
       mit Religion – was ist „gut“ und was „böse“, darf der Held schießen?
       
       In Fred Zinnemanns „High Noon“, der 1952, auf dem Höhepunkt der
       Westernwelle, entstand und an dessen Qualität sich die Nachfolger maßen,
       wird der Gangster am Ende von einer pazifistischen Quäkerin erschossen. Das
       „Gute“ hat gesiegt, indem es sich das Böse angeeignet hat.
       
       Diese Signa des Westerns wurden früh gesetzt und scheinen bis heute zu
       gelten. Zumindest gleicht Kevin Costner, dessen „Horizon – An American
       Saga“ das erste, drei Stunden lange „Chapter“ einer vierteiligen
       Western-Kino-Saga darstellt, dem Cowboy-Prototyp Barnes aufs Haar: weißer
       Mann, prominenter Schnauzer, Cowboyhut und Bandana, rauchender Colt.
       
       Natürlich ist Costners mit Co-Autor Jon Baird entwickelte Geschichte, die
       er seit 1987 verfolgt und nur mit 38 Millionen Dollar Eigenkapital zu
       stemmen vermochte, komplexer als „Western von gestern“: Einerseits setzt
       „Horizon“ den tollkühnen, verzweifelten Siedler:innen ein Denkmal, die
       sich in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts nach Montana oder Arizona
       aufmachten und unzählige Verluste erlitten.
       
       So wie die weiße Familie Kittredge, deren Dorf während eines
       Apachenangriffs verwüstet und die Bewohner:innen abgeschlachtet werden.
       Fast alle sterben, doch Frances Kittredge (Sienna Miller) und ihre Tochter
       überleben, weil sie sich durch einen unterirdischen Gang retten – und dabei
       um ein Haar ersticken. Costner inszeniert den langen, brutalen Angriff und
       die beherzte Flucht in intensiven, immersiven Bildern. Überleben ist ein
       Kampf – im wahrsten Wortsinn.
       
       ## Befreiung aus der Schurkenfamilie
       
       Eine ganz andere Familie sind die hartgesottenen Sykes. Als nachts eine
       Frau bei Vater Sykes auftaucht, ein Baby mitnimmt, und den Alten dabei
       schwer verletzt, machen sich zwei der erwachsenen Sykes-Söhne auf einen
       Rachefeldzug, um sie zu finden und zu töten. Costner erklärt die
       Zusammenhänge nicht, die Geschichte lehrt aber, dass es sich vermutlich
       nicht um einen Kindsraub handelt, sondern eine Mutter ihr Neugeborenes aus
       einer Schurkenfamilie befreit. Oder?
       
       Caleb Sykes (Jamie Campbell Bower) jedenfalls sieht man das Schurkische an
       – auch der schweigsame Gunman und Händler Hayes (Costner), der erst nach
       einer Stunde Film in all seiner Justus-D.-Barnes-Haftigkeit angeritten
       kommt, spürt gleich, dass Caleb Übles im Schilde führt. Und muss sich –
       trotz lonely Cowboy – schließlich mit der energischen Prostituierten
       Marigold (Abbey Lee) und dem gekidnappten Kind, dessen Kindermädchen
       zufällig Marigold ist, aus dem Präriestaub machen.
       
       Andererseits berichtet „Horizon“ auch über Leben und Sicht der Native
       Americans. Die Brüder Pionsenay (Owen Crow Shoe) und Taklishim (Tatanka
       Means) sind sich unsicher, wie die Apachen der Gewalt der Pionier:innen
       begegnen sollen – ist das Zurückmeucheln die einzige Möglichkeit? Sind die
       Weißen alle böse? Auch sie werden angegriffen und erleiden Verluste, auch
       sie verfolgen Ziele. Ein kleiner Junge wurde anscheinend von einem
       indigenen Stamm aufgezogen, ist weißer Abstammung – in einem Gespräch mit
       seinem Stiefvater und Häuptling geht es um die Unterschiede in den
       Kulturen, natürlich im Originaldialekt.
       
       ## Liebe zu sensibleren Spätwestern
       
       So versucht Costner, die schlichte Dualität des klassischen
       Westernnarrativs aufzubrechen. Schon mit den Erfolgsfilmen „Der mit dem
       Wolf tanzt“ und „Weites Land“, für die er ebenfalls tief in die eigene
       Finanzierungstasche griff, hatte er schließlich seine Liebe zum
       sensibleren, zweifelnden Spätwestern bewiesen. Der Regisseur nimmt
       allerdings den Mund sehr voll und entwirft ein schier unübersichtliches
       Wimmelbild an Handlungssträngen und Motiven, Charakteren und angedeuteten
       Vorgeschichten, Zeit- und Ortssprüngen.
       
       Ob man nach allen vier Teilen tatsächlich den Durchblick hat? Bei zweien
       steht die Entwicklung und Veröffentlichung wegen der grottenschlechten
       Kritiken momentan eh auf der Kippe. Vielleicht hätte Costner es also lieber
       gleich mit einem günstigeren und dramaturgisch ausgedehnteren Serienformat
       versuchen sollen.
       
       Zudem: Neo-Western, die alles in Frage stellen, was dem weißen,
       patriotischen, waffenliebenden US-Mainstream lieb und teuer ist, gibt es
       schon ewig. Und sie haben nicht nur wunderbare Sprachen gefunden, sondern
       erzählen längst die Antithesen zum Geballer: In [1][Jacques Audiards „The
       Sisters Brothers“ von 2018] entdeckt der gewaltmüde Spross einer
       sadistischen Revolverheldfamilie im Wild-West-Schlamm das Zahnputzpulver
       für sich.
       
       ## Antithesen zum Geballer
       
       [2][Jane Campions „The Power of the Dog“ dekonstruiert 2021] den
       Heteromacho, Jim Jarmuschs „Dead Man“ war 1995 ein kafkaesker Ausflug in
       den Existenzialismus. [3][Kelly Reichardts wunderschöner Männerliebefilm
       „First Cow“ (2021)] lässt keinen Zweifel daran, dass Selbstgebackenes
       wichtiger ist als Munition. Ang Lees „Brokeback Mountain“, Joel und Ethan
       Coens „True Grit“ oder [4][Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“]
       bieten fantastische, starke Bilder und ebensolche Dilemmata.
       
       Nebenbei mutet „Horizon“ zuweilen an, als ob Costners Stilgefühl in seinen
       Schauspiel-Hochzeiten, den 80ern, steckengeblieben ist: Der dick
       aufgetragene Score von John Debney ist peinlich deskriptiv (Cowboy =
       Mundharmonika, Indigene = „exotische“ Trommeln). Und die weißen
       Frauenfiguren fallen durch ihre Michelle-Pfeiffer-Looks samt
       Locken-Conditioner auf. Dafür war wohl noch Platz in der Satteltasche.
       
       20 Aug 2024
       
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       ## AUTOREN
       
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