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       # taz.de -- Olympia-Aus für indische Ringerin: Ein paar Gramm zu viel
       
       > Ringerin Vinesh Phogat darf nicht zum Kampf um Gold antreten. In Indien
       > führte sie den Protest gegen den übergriffigen Verbandspräsidenten.
       
   IMG Bild: Nach dem Halbfinalsieg zeigt Vinesh Phogat ihre Dankbarkeit für die vermeintlich sichere Medaille
       
       Am Mittwochvormittag gab es vor der Halle am Marsfeld in Paris, in der die
       Wettbewerbe der Ringerinnen ausgetragen werden, nur ein Thema: Übergewicht.
       Man redete über eine kleine Zahl, die einen großen Unterschied macht. Es
       ging um 100 Gramm. Um 7.30 Uhr war für die Ringerinnen und Ringer im
       Olympischen Dorf von Saint-Denis das Wiegen angesagt. Für Vinesh Phogat
       bedeutete es das Aus.
       
       Eigentlich war alles bereit für einen großen Tag, an dem die Geschichte von
       Vinesh Phogat um die Welt gehen sollte. Eine Geschichte von sportlichen
       Entbehrungen, Missbrauchserfahrung und dem Kampf gegen das politische
       Establishment. Die indische Freistilringerin hatte sich tatsächlich für den
       Kampf um Gold in der Gewichtsklasse bis 50 Kilo qualifiziert.
       
       Auf dem Weg dahin hatte sie zum ersten Mal in ihrer Karriere im
       Achtelfinale die übermächtig scheinende Yui Susaki, die Olympiasiegerin von
       Tokio 2021, niedergerungen. Sie besiegte noch Oksana Liwatsch aus der
       Ukraine und im Halbfinale die Kubanerin Yusneylis Guzman Lopez. Die durfte
       gegen die US-Amerikanerin Sarah Ann Hildebrandt um Gold kämpfen. Denn
       Vinesh Phogat wurde disqualifiziert. Wegen 100 Gramm Übergewicht verschwand
       sie aus den olympischen Ergebnislisten. Dabei hatte sie die Silbermedaille
       doch eigentlich schon sicher.
       
       Eine Medaille für Vinesh Phogat wäre auch ein Triumph im immer noch
       anhaltenden Kampf für eine Neuordnung des Indischen Ringerverbands gewesen.
       [1][Als wahrer Straßenkampf war der Protest von Athletinnen ausgetragen
       worden.] Mitten in der Hauptstadt Delhi, angeführt von Vinesh Phogat,
       hatten die besten Ringerinnen Indiens für die Absetzung von Brij Bhushan
       Sharan Singh als Chef des nationalen Ringerverbands demonstriert. Er und
       ein Trainer sollen Sportlerinnen über Jahre sexuell belästigt haben.
       
       ## Gespräch mit dem Premier
       
       Vinesh Phogat gehört nicht zu den Opfern. Sie berichtete aber von massiven
       Drohungen, die bei ihr Todesangst ausgelöst haben, nachdem sie Indiens
       [2][Premier Narendra Modi] von den Übergriffen berichtet hatte. Den hatte
       sie bei einem Empfang der Olympiateilnehmerinnen von Tokio 2021 getroffen.
       Weil der der Übergriffigkeit [3][beschuldigte Verbandspräsident] der
       Regierungspartei BJP angehört, war der Kampf der Ringerinnen von Anfang an
       ein Politikum.
       
       Vielleicht hätte Vinesh Phogat gerne darüber gesprochen, ob die Medaille
       von Paris nicht auch eine Art Lohn sei für den Kampf gegen die Strukturen
       in ihrem Verband, welche sexualisierte Gewalt an Sportlerinnen ermöglicht
       oder geduldet und gedeckt haben. Stattdessen verbrachte sie den Morgen in
       der Krankenstation des Olympischen Dorfes. Nach ihren Kämpfen vom Dienstag
       hatte sie 1.800 Gramm zu viel auf der Waage. Mit ihrem Trainer versuchte
       sie alles, das Gewicht über Nacht zu senken. Nichts essen, nichts trinken
       und Seilspringen – so wollte sie die 50-Kilo-Marke unterschreiten. Sogar
       die Haare hat sie sich abschneiden lassen.
       
       Sie hat es nicht geschafft. Völlig dehydriert wurde sie an einen Tropf
       gehängt. Um die Mittagszeit verkündete der indische Teamarzt Dinsahw
       Padriwala, dass es der Sportlerin gut gehe. Gemeinsam mit der Präsidentin
       der Indischen Olympiakomitees, Pilavullakandi Thekkeparambil Usha,
       produzierte er eine Videobotschaft, um die Nation zu beruhigen. Usha
       versicherte Vinesh Phogat der vollen Unterstützung der Indian Olympic
       Association, der Regierung und des gesamten Landes.
       
       Auf die Reaktion der Regierung nach einer möglichen Medaille für Phogat
       Vinesh war man in Indien ganz besonders gespannt. Die Proteste gegen den
       damaligen Verbandschef hatten sich auch gegen die Regierungspartei BJP
       gerichtet, zu deren Machtzirkel die Ringerfunktionäre gehören und die eine
       Aufarbeitung der Vorwürfe lange abgelehnt hat. Als im Mai das neu gewählte
       Parlament Indiens zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, wurde ein Sit-in
       der protestierenden Ringerinnen mit Polizeigewalt aufgelöst.
       
       Während der Verbandschef im Parlamentsgebäude dabei war, als Narendra Modi
       eine feierliche Hinduzeremonie anlässlich seiner Wiederwahl für sich
       abhalten ließ, wurden Sportlerinnen abgeführt und vorübergehend
       festgenommen.
       
       Immerhin ist Brij Bhushan Sharan Singh nicht mehr Präsident des
       Ringerverbands. Doch eine der Hauptforderungen von Vinesh Phogat und ihren
       Mitstreiterinnen blieb unerfüllt. Sie hätten gern eine Frau im
       Präsidentinnenamt gesehen. Stattdessen steht mit Sanjay Singh nun ein
       Vertrauter seines Amtsvorgängers an der Spitze. Ringen kann so brutal sein.
       
       7 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
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