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       # taz.de -- Von Dresden nach Straßburg: Mit links nach Europa
       
       > Cornelia Ernst kann nach 15 Jahren im EU-Parlament erzählen, wie sich die
       > Politik verändert hat. Ein Porträt der Dresdner Linken-Abgeordneten.
       
   IMG Bild: Linkspolitikerin der ersten Stunde, Cornelia Ernst. Ausschnitt der Illustration
       
       Straßburg taz | An ihrem letzten Tag als EU-Abgeordnete findet Cornelia
       Ernst (67) keinen Platz in der Bar für Mitglieder des Europäischen
       Parlaments. Ausnahmslos jeder der Stühle ist besetzt. Sogar in den Ecken
       des Bistros stehen an diesem Tag Menschen. Auf den runden Glastischen
       türmen sich kleine Stapel aus weißen Espresso- und Kaffeetassen. Morgens,
       Mitte Juli, bildet sich nur 50 Meter weiter im „Hemicycle“ das neue
       EU-Parlament. Dort hat Ernst in den vergangenen 15 Jahren als Abgeordnete
       der Linken gelernt, was Politik bedeutet. Doch bevor sie ihre Gedanken
       weiter ausführt, macht sie sich auf die Suche nach einem ruhigeren Ort.
       
       In einem Seitengang an einem kleinen Tisch gibt es noch freie Plätze.
       Ständig laufen Personen vorbei, doch Ernst stört das nicht. Sie kennt alle,
       viele grüßen sie. „Zu vielen könnte ich Anekdoten erzählen“, sagt sie
       lächelnd, sei es aus Streitereien oder gemeinsamen Kämpfen.
       
       ## Der Kampf für Menschenrechte
       
       Ernst ist Linkspolitikerin der ersten Stunde. Nach der Wende engagierte sie
       sich im Sächsischen Landtag und als Stadträtin in Dresden. Als 2007 Die
       Linke entstand, war sie als Landesvorsitzende für Sachsen ganz vorne mit
       dabei. Ein Jahr später bewarb sie sich mit einer Rede auf ihr erstes
       EU-Mandat, um die Menschenrechtslage für Rom*nja aus den Westbalkanstaaten
       in Sachsen zu verbessern. Diesen Kampf wollte sie auf europäischer Ebene
       fortführen.
       
       2009 gewann sie ihr erstes EU-Mandat. Damals war das Parlament noch
       deutlich mehr Mitte-links, erinnert sie sich. Während ihrer gesamten
       politischen Laufbahn setzte sie sich für Menschenrechte ein. Erst im
       Ausschuss für Frauenrechte, dann im LIBE-Ausschuss für bürgerliche
       Freiheiten, Justiz und Inneres. Eine Parteikollegin nennt sie eine
       „radikale Humanistin“. Ernst spricht von einem Kulturwandel in Sachen
       Migration. Was heute von 2009 unterscheidet, sei, dass es noch ein Gefühl
       dazu gegeben habe. Bei dem Bootsunglück vor Lampedusa soll eine Kommissarin
       geweint haben. Und es sollen tatsächlich noch Strategien zur Unterstützung
       von Rom*nja in Europa diskutiert worden sein. „Das interessiert heute
       niemanden mehr“, bedauert sie.
       
       Ernst sieht Datenschutz und Rechte für Frauen und LGBTQIA+ als Erfolge auf
       EU-Ebene. Das seien, so betont sie, zwar langwierige Prozesse, aber wenn
       die EU den richtigen Weg einschlage, könne sie viel bewirken, wie etwa in
       Polen, wo die Regierung der PiS nach acht Jahren gestürzt wurde. Ihre
       größte Niederlage sieht sie im Asyl- und Migrationspaket GEAS, das im April
       2024 endgültig angenommen wurde. „Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde
       damit erschossen“, sagt sie.
       
       ## Abschied von Straßburg, nicht von der Politik
       
       Ernst meint, der Bundestag könne viel vom progressiveren EU-Parlament
       lernen. „Im Bundestag würde ich nie drin arbeiten wollen.“ In Straßburg, so
       sagt sie, sind die Deutschen nicht die Besten, die Tollsten, die Schönsten,
       sondern nur ein Teil des Ganzen – und das sei gut so.
       
       Besonders schätzt sie, dass das EU-Parlament von jungen, risikofreudigen
       Menschen lebt, die zuhören können. „Ich habe immer den jungen Leuten mehr
       vertraut als meiner Generation, die viel verbockt hat.“
       
       Ein lautes Schrillen tönt durch das Gebäude und kündigt die nächste
       Plenarsitzung an. Die Gänge füllen sich, die Geräuschkulisse wird
       intensiver. Hier ein fester Händedruck, dort ein Küsschen, da eine
       herzliche Umarmung. Doch Ernst bleibt gelassen. Sie genießt das lebhafte
       Stimmengewirr. „Hier habe ich gelernt, dass Politik bedeutet, gute
       Kompromisse zu schließen.“
       
       Nach 15 Jahren geht es für Cornelia Ernst nun zurück nach Dresden, in ihre
       Heimat. Ein Abschied von der Politik kommt für sie jedoch nicht infrage.
       Angesichts der wachsenden Zustimmungswerte faschistoider Parteien in
       Sachsen ist es für sie selbstverständlich, sich weiter zu engagieren. „Sich
       verbünden und überlegen, wie man dem etwas entgegensetzen kann – sinnvoll,
       nicht ideologisch“, sagt sie.
       
       ## Ratschläge für die nächste Generation
       
       Die Zeit im Europäischen Parlament wird sie vermissen. „Man muss gemeinsam
       kämpfen. Man gewinnt, man verliert.“ Den kommenden linken EU-Abgeordneten
       rät sie, offen zu sein für unterschiedliche Vorschläge. Auch dem Komischen
       solle man zuhören, denn nur durch den Austausch entstehe Wissen.
       „Kooperation und Zuhören, das ist die Basis für alles. Wer nicht gerne
       kommuniziert, sollte nicht ins Europaparlament.“
       
       Es schrillt jetzt gleich mehrere Male laut hintereinander. Ein gehetzter
       Martin Schirdewan, Co-Vorsitzender der Linken in Deutschland und der linken
       Fraktion im EU-Parlament, kommt um die Ecke. Irritiert bemerkt er Ernst.
       „Conny, die suchen dich!“. Sie bleibt gelassen. Nach 15 Jahren bringt sie
       nichts mehr so schnell aus der Ruhe. „Ja ja, ich bin doch gleich da.“
       
       Mareike Hoeck, 27, ist 2023 aus Bremen für das Journalismusstudium nach
       Leipzig gezogen. Ihr Grundoptimismus: Auch außerhalb der Großstadt hat sie
       tolerante Menschen kennengelernt, die positive Qualitäten an Sachsen sehen. 
       
       ILLUSTRATION: Josepha Lhuillier-Sion , 20, Studentin in Bühnenbild bei der
       Universität der Künste in Berlin und Tanzerin, interessiert sich seit immer
       für Mensch- und Tierrechte.
       
       31 Aug 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mareike Hoeck
       
       ## TAGS
       
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