URI: 
       # taz.de -- Polarisierung der Gesellschaft: Wie vereinigen wir uns wieder?
       
       > Bei Themen wie der Klimakrise oder Migration brodelt es in den
       > Kommentarspalten der sozialen Medien. Wie bringen wir Menschen wieder
       > zusammen?
       
   IMG Bild: Auf einer Demonstration im Januar in Leipzig nach der Correctiv-Recherche zur AfD
       
       Kaum tauchen Themen wie Klimakrise, Migration oder Queerness in den
       sozialen Medien auf, schon brodelt es in den Kommentarspalten. Die Fronten
       scheinen sich schnell zu verhärten. Glaubt man den
       Social-Media-Diskussionen, scheint das Land politisch gespalten zu sein.
       
       In diesem Kontext unterscheiden Kommunikationswissenschaftler oft zwischen
       Fragmentierung und Polarisierung. Bei der Fragmentierung teilen sich Nutzer
       in kleinere Interessensgruppen auf, während Polarisierung bedeutet, dass
       sich Menschen an entgegengesetzte Pole eines Meinungsspektrums bewegen.
       „Der aktuelle Forschungsstand zeigt jedoch, dass diese Phänomene oft
       überschätzt werden“, sagt Anna Sophie Kümpel, Juniorprofessorin für
       digitale und soziale Medien an der TU Dresden.
       
       Zwei weitere prominente Begriffe, die häufig fallen, wenn es um
       Meinungsbildung im Internet geht, sind Filterblasen und Echokammern. Hinter
       beiden steht die Sorge, dass Nutzer in digitale Umgebungen hineingeraten,
       in denen sie nur Meinungen begegnen, die ihrem eigenen Standpunkt
       entsprechen.
       
       Bei Echokammern geht man davon aus, dass Menschen eher nach Räumen mit
       gleichgesinnten Personen suchen und sich in den gemeinsamen Meinungen
       bestätigen. Bei Filterblasen macht man Algorithmen dafür verantwortlich,
       dass Menschen eine verengte Weltansicht bekommen, weil sie nur bestimmte
       Informationen und Perspektiven zugespielt bekommen.
       
       ## Gesellschaftliche Polarisierung wird überschätzt
       
       Eine der umfassendsten Forschungen über die scheinbare Polarisierung im
       Land, lieferte der Soziologe Steffen Mau gemeinsam mit seinen Kollegen
       Thomas Lux und Linus Westheuser. In ihrem Buch „Triggerpunkte“ fassen sie
       ihre Ergebnisse zusammen und beschreiben, dass es zwar Themen gibt, in
       denen sich die Meinungen der Menschen in Deutschland unterscheiden, dass es
       aber bei den wenigsten zu zwei gespaltenen Lagern kommt.
       
       Bei den Themen Klimawandel, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung
       sind sich Menschen sogar recht einig. Selbst beim Thema Migration sind die
       Meinungen weniger gespalten als zum Beispiel beim Organspendeausweis. „Bei
       bestimmten Personen gibt es natürlich trotzdem das Risiko, durch eine
       Nutzung von sozialen Medien in einer verengten Informationsblase zu
       landen“, ergänzt Anna Sophie Kümpel. Dafür seien aber nicht nur die
       sozialen Medien verantwortlich, sondern vor allem auch der individuelle
       Umgang damit und die persönlichen Voraussetzungen dazu.
       
       Gespalten fühlen sich die Kommentarspalten aber trotzdem an. „Gerade das,
       was polarisiert und eine starke Meinung ist, ruft viel Interaktion hervor,
       wodurch diese Inhalte prominenter angezeigt werden“, erklärt Kümpel. Obwohl
       die Polarisierung in den sozialen Medien die Realität verzerrt, scheint sie
       dennoch eine aufgeheizte politische Stimmung im Land widerzuspiegeln.
       Besonders deutlich wurde dies bei der Europawahl, wo die Wahlergebnisse
       einzelner Parteien stark variierten – in Städten wie Leipzig oder Dresden
       lagen sie zum Beispiel um 20 Prozent höher als in ländlichen Wahlkreisen
       wie Görlitz, Bautzen oder Nordsachsen.
       
       „Wir sind gerade in einer Gesellschaft, die mit Überalterung,
       Männerüberschuss, sowie einem von Zuwanderung abhängigen Arbeitsmarkt
       kämpft, und gleichzeitig von Abwanderung geprägt ist“, fasst Alexander
       Prinz zusammen. Der Autor, Unternehmer und Webvideoproduzent aus Halle
       setzt sich in seinen Videoessays für das öffentlich-rechtliche Angebot für
       junge Menschen funk, immer wieder mit den Herausforderungen, denen
       Ostdeutsche gegenüberstehen und ihrem Umgang damit auseinander.
       
       Was Prinz hier beschreibt, zeigt sich auch in einer im April
       veröffentlichen Studie der Bertelsmann Stiftung: Bis 2040 soll die deutsche
       Bevölkerung in allen Bundesländern der ehemaligen DDR schrumpfen, während
       in allen anderen Bundesländern (außer im Saarland) ein Zuwachs erwartet
       wird. In Sachsen soll der Anteil der potenziell Erwerbstätigen, je nach
       Altersgruppe, sogar um zwölf bis vierzehn Prozent abnehmen. „In
       Ostdeutschland gibt es nicht ein einziges DAX-Unternehmen, dass hier seinen
       Sitz hat“, sagt Prinz. Es gäbe hier weniger Zukunftschancen und
       gleichzeitig einen sehr starken Fachkräftemangel.
       
       Die Folgen der Wiedervereinigung wirken bis heute nach. „Aufgrund der Wende
       und der Benachteiligung während dieses Prozesses, stehen die Menschen in
       Ostdeutschland schlechter da“, erklärt Prinz. Beispielsweise besitzen die
       Menschen in Ostdeutschland viel weniger Immobilien als im Westen. „Wenn man
       gleichzeitig für westdeutsche Unternehmen arbeitet und Mieten an
       Westdeutsche bezahlt, kann das frustrieren.“
       
       Zudem ziehen viele Leute weg und die, die zurückbleiben würden sich
       isoliert fühlen. „Das ergibt eine Mixtur an Unzufriedenheit, die immer mehr
       aufquillt“, erklärt Prinz. „Es gibt etwas, was einem nicht passt, man
       meckert darüber, erträgt es und macht weiter. Man verändert aber nichts an
       dem, was einen stört.“ Es fehle auch der Glaube daran, etwas verändern zu
       können. Zum Beispiel durch eine Wahl.
       
       ## Näher kommen durch miteinander Reden
       
       Um die Menschen aus dem ländlichen Raum Ostdeutschlands mit den Menschen im
       Rest von Deutschland zusammenzubringen, könnten soziale Medien wiederum
       eine gute Plattform sein. Dafür sei es aber wichtig, so Juniorprofessorin
       Kümpel, dass Unterhaltungen den gleichen Diskussionsregeln folgen wie in
       Person: sich respektvoll und emphatisch gegenüberzutreten, sich angemessen
       auszudrücken und nicht belehrend zu sein.
       
       „Gerade textbasierte Kommunikation verleitet dazu, auch etwas harscher im
       Ton zu sein.“ Zudem müsse man auch nicht zu allen Themen eine klare
       Positionierung haben. Doch das reicht natürlich nicht aus. „Es ist ein
       langfristiger Prozess, der sich da vor uns auftut. Der ist nicht mit netten
       Mitleidbekundungen abgetan“, ergänzt Prinz. Es braucht eine faire
       Unterhaltung. Eine Unterhaltung, die die Probleme des ehemaligen
       DDR-Gebiets genauso behandelt, wie die Erfolge der Menschen dort. Man muss
       auf sie zugehen, ihnen zu hören und gemeinsam Lösungen suchen und umsetzen.
       
       „Ich glaube vielen würde schon ausreichen, dass man anerkennt, dass es
       verschiedene Lebensrealitäten gibt“, sagt Prinz. Es werde häufig eine
       städtische Perspektive konstruiert. „Der ländliche Raum ist konservativer,
       fossil basierter, weniger global und hat weniger Kontakt zu
       unterschiedlichen Kulturen, Phänomenen und modernen Technologien.“ Das
       werde auch in der Politik vernachlässigt. „Man muss begreifen, dass es
       unterschiedliche Realitäten und Vergangenheiten gibt“. Es gebe nicht
       einfach eine Lösung für das ganze Land.
       
       Johannes Rachner, 25, Medizinstudent und Journalist, ist vor sechs Jahren
       zum Studium nach Leipzig gezogen. Sein Vater kommt aus Zwenkau (südlich von
       Leipzig) und hat weitere Familie in Crimmitschau/Neukirchen (in der Nähe
       von Zwickau). 
       
       FOTO: Timo Krügener, 25 Jahre alt, aufgewachsen in Niedersachsen und seit 4
       Jahren als Student, Fotograf und mittlerweile freier Fotojournalist in
       Leipzig. Begleitet seit einigen Jahren vor allem die
       Klimagerechtigkeitsbewegung, aber auch Engagement für Demokratie in anderen
       Bereichen.
       
       30 Aug 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johannes Rachner
       
       ## TAGS
       
   DIR Jugend vor den Ostwahlen
   DIR taz Panter Stiftung
   DIR Sachsen
   DIR Wahlen in Ostdeutschland 2024
   DIR DDR
   DIR Schwerpunkt Landtagswahl Sachsen 2024
   DIR Social-Auswahl
   DIR Migration
   DIR Hamburg
   DIR Jugend vor den Ostwahlen
   DIR Jugend vor den Ostwahlen
   DIR Wahlen in Ostdeutschland 2024
   DIR Jugend vor den Ostwahlen
   DIR Jugend vor den Ostwahlen
   DIR Wahlen in Ostdeutschland 2024
   DIR Jugend vor den Ostwahlen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Historiker über Migrationsbegriffe: „Waffen im politischen Kampf“
       
       Die Begriffe, mit denen über Migration gesprochen wird, haben meist starke
       Konnotationen. Historiker Jochen Oltmer über die Tragweite der Sprache.
       
   DIR Hamburger Deichtorhallen: Erschlagen vom Übermaß der Fragen
       
       Die Ausstellung „Survival in the 21st Century“ will den
       Informations-Dschungel der Gegenwart lichten, sie reproduziert ihn aber
       bloß apokalyptisch.
       
   DIR Gespräche mit AfD-Wählenden: Mit Rechten rede ich nicht… oder doch?“
       
       Diskussionen sind wichtig für eine lebhafte Demokratie – aber es gibt
       Grenzen. Unsere Autorin gibt Tipps für Gespräche mit der AfD-Wählerschaft.
       
   DIR Bürger*innendialoge in Sachsen: Der mit dem Hund spricht
       
       Fishbowl, World-Café, Hundeschule: Mit verschiedenen Dialogformaten sollen
       Bürger*innen Sachsens wieder mehr ins Gespräch kommen
       
   DIR Berichterstattung über Sachsen: Immer dieses schiefe Bild
       
       Berichte über Sachsen sind oft einseitig und prägen ein bestimmtes Bild
       über das Bundesland. Es braucht neue, junge Perspektiven.
       
   DIR Sächsische Schweiz: Links die Bäume, rechts das Volk?
       
       Malerische Berge oder doch eine braune Idylle? Eine Reise durch die
       Sächsische Schweiz, um das rechte Image der Region auf die Probe zu
       stellen.
       
   DIR Von Dresden nach Straßburg: Mit links nach Europa
       
       Cornelia Ernst kann nach 15 Jahren im EU-Parlament erzählen, wie sich die
       Politik verändert hat. Ein Porträt der Dresdner Linken-Abgeordneten.
       
   DIR Buch über Konflikte in der Gesellschaft: Der Transformationsblues
       
       AfD, Klimastreit, Bauernproteste: Vier Wissenschaftler*innen haben die
       Verwerfungen um die sozial-ökologische Transformation untersucht.
       
   DIR Trauma in ostdeutschen Bundesländern: Eine Frage der Perspektive
       
       Sachsen fühlen sich oft abgehängt. Dieses Gefühl, das sogenannte
       Ost-Trauma, wird seit Jahren zusammen mit einem Rechtsruck erforscht.