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       # taz.de -- Über die Neigung zu Gier: Genug oder doch lieber mehr?
       
       > Auf dem Weg zum glücklichen Menschen muss sich der Mensch schon auch
       > fragen, was er eigentlich von Besitz hält. Der Ethikrat macht da zwei
       > Angebote.
       
   IMG Bild: Wieso nur eine Tasche, wenn es auch mehr sein kann
       
       Kürzlich ging ich nach einem Seminar über die polarisierende Wirkung der
       Medien nach Hause, als ich neben der Kirche zwei Gartenlauben sah. Neben
       der linken stand ein Schild „Mehr davon“ und neben der rechten „Das ist
       genug“.
       
       Durch die geöffneten Türen sah ich die Mitglieder des Ethikrats, die an
       einem kleinen Tisch saßen und wie Karussellbetreiber aussahen, die auf
       Kundschaft warten. Der Ethikrat, das sind drei Herren von geringer Größe,
       die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Ich suchte
       nach dem Ratsvorsitzenden und fand ihn hinter den Lauben, wo er versuchte
       einen klapprigen Leierkasten in Gang zu bringen. „Hallo, Frau Gräff“, sagte
       er desinteressiert. „Guten Tag“, sagte ich, „was bedeuten die Schilder dort
       drüben, und wozu brauchen Sie den Leierkasten?“
       
       „Der Leierkasten“, sagte der Ratsvorsitzende, „soll die Leute anlocken, und
       die Schilder sind selbstverständlich Teil einer Feldforschung zum Thema
       Gier.“ „Selbstverständlich“, sagte ich, während der Vorsitzende ärgerlich
       an der Kurbel des Leierkastens zog. „Und was bedeuten sie?“ „Sie
       repräsentieren zwei Grundhaltungen zum Thema Besitz“, sagte der
       Vorsitzende, „und die Leute sind eingeladen, sich durch das Betreten der
       Häuser einer zuzuordnen.“
       
       „Gier ist für eine wissenschaftliche Arbeit ja ein eher wertender Begriff“,
       sagte ich, während der Vorsitzende so heftig an der Kurbel riss, dass sie
       abfiel. „Wir könnten es auch bedürfnisentkoppelten Konsum nennen“, sagte
       der Vorsitzende zornig. „Aber meine Kollegen und ich sind zu dem Schluss
       gekommen, dass die heutigen Zeiten eine engagiertere Form der Forschung
       verlangen.“ „Hm“, sagte ich, es schien ein weites Feld.
       
       „Ich habe einmal ein Buch gelesen, in dem die Sesshaftwerdung sozusagen der
       Sündenfall war, ab dem die Menschen Besitz wichtig fanden. Es wurde aber
       nicht wirklich klar, ob es unvermeidlich war oder nicht. Und heute
       schreiben Essayisten Texte darüber, dass die Leute mit Konsum innere Leere
       füllen wollen, und recherchieren dann nach einem neuen Design-Rad für sich.
       Was sagt denn die Philosophie?“
       
       „[1][Laut Epiktet] liegt der Weg zum glücklichen Menschen darin, sich
       unabhängig von Besitz zu machen“, sagte der Ratsvorsitzende. „Hat Seneca
       das nicht auch gesagt und dann, weil er selbst so viel besaß, argumentiert,
       dass man viel haben könne, solange man auch ohne froh sein könne?“ „Das
       stimmt“, sagte der Vorsitzende unfroh, „aber wer sagt, dass man Seneca
       folgen sollte?“
       
       Es machte keine Freude, der engagierten Forschung zu widersprechen, deshalb
       bot ich stattdessen an, den Leierkasten zu reparieren. Die Kurbel hielt nur
       mäßig gut, aber der Vorsitzende konnte damit zwei Strophen „Oh, du lieber
       Augustin“ am Stück spielen.
       
       Wir näherten uns damit den beiden Holzhäusern, vor dem „Mehr davon“ stand
       eine sehr kurze und vor dem „Es ist genug“ eine sehr lange Schlange. „Oha“,
       sagte der Ratsvorsitzende erfreut, „das hätte ich in dieser Klarheit nicht
       erwartet.“ Aber als wir dichter an die Schlange kamen, drehte sich ein sehr
       kurz geschorener Mann zu uns um. „Es ist wichtig, zu sehen, dass wir viele
       sind“, sagte er und nickte dem Vorsitzenden zu. Der Vorsitzende wich
       zurück. „Sie haben die Versuchsanordnung missverstanden“, sagte er. „Und
       worauf gründen Sie Ihre Annahme, dass Sie viele sind?“, aber er wartete
       die Antwort nicht ab, sondern ging hinüber zur anderen Schlange.
       
       Dort stand ein Hippie mit einem räudigen Hund. „Und Sie?“, sagte der
       Vorsitzende, „was führt Sie hierher?“ „Ich stehe hier aus einer
       grundsätzlichen Position der Bejahung“, sagte der Hippie. Der
       Ratsvorsitzende tätschelte seinen Arm, und ich, die ich nicht zur
       Rührseligkeit neige, glaubte, ihn weinen zu sehen.
       
       27 Aug 2024
       
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   DIR Friederike Gräff
       
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