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       # taz.de -- BSW-Wahlkampf in Thüringen: Der Bündnisfall
       
       > Das BSW trifft einen Nerv im Osten. In Thüringen könnte Katja Wolf sogar
       > Ministerpräsidentin werden. Aber es gibt ja noch Parteichefin
       > Wagenknecht.
       
   IMG Bild: Aus dem Stand erfolgreich im Osten: Sahra Wagenknecht auf einem Plakat in Altenburg
       
       Im abgesperrten Bereich hinter der Bühne lehnt sich Katja Wolf an einen
       Transporter und schließt die Augen. „Entspannt ihr euch? Seid ihr
       locker?!“, fragt ihr Sprecher beschwörend in die Runde. Es ist Montag in
       Eisenach, der Marktplatz ist voll, gleich beginnt die Wahlkampftour des
       Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) durch Thüringen.
       
       Das Manuskript ihrer Rede hat Katja Wolf einige Male durchgeknetet. „Modul
       1“, steht auf dem ersten Zettel in ihren Händen, „Katjas Geschichte.
       Bildung.“ Und die erste Frage, die der Moderator ihr gleich auf der Bühne
       stellen wird:
       
       „Wie fühlst du dich?“
       
       Eben war sie noch bei [1][der Linken und Bürgermeisterin von Eisenach],
       jetzt könnte Katja Wolf für das BSW Ministerpräsidentin werden. Bei 18
       Prozent steht das Bündnis Sahra Wagenknecht in einigen Umfragen, der
       Abstand zur CDU ist klein. Das BSW könnte das Parteiensystem durchschütteln
       und der Regierung in Berlin den finalen Stoß geben, wenn zwei bis drei
       Ampelparteien aus dem Landtag fliegen.
       
       ## Neue deutsche Protestpartei
       
       Und Katja Wolf? Will die AfD schwächen und so die Demokratie vor Björn
       Höcke retten, damit hat sie ihren Wechsel begründet. Für ihre Parteichefin
       dagegen ist Thüringen nur der erste Schritt, um das BSW als neue deutsche
       Protestpartei zu etablieren.
       
       Wie soll man sich da schon fühlen?
       
       Dass eine Partei aus dem Stand so erfolgreich ist, ist selten. Was aber ist
       das BSW für eine Partei? Und wer sind die Leute, die in Thüringen bald
       regieren könnten?
       
       Wer das Bündnis Sahra Wagenknecht [2][durch den Wahlkampf begleitet],
       erlebt eine Partei, die einen Nerv trifft. Die improvisieren muss, weil es
       sie erst ein paar Wochen gibt, und die gleichzeitig mit ziemlich
       etabliertem Personal daherkommt. Nicht zuletzt eine Partei, die versucht,
       eine Balance zwischen dem Populismus ihrer Namensgeberin und einer
       pragmatischen Realpolitik in Thüringen zu finden.
       
       Bevor Katja Wolf auf die Bühne tritt, spielt der Liedermacher Tino
       Eisbrenner ein paar seiner alten Hits. Die größten Erfolge hatte er in der
       DDR. Noch im Frühjahr flog er für einen Musikwettbewerb nach Moskau.Dann
       geht es los.
       
       Der Marktplatz ist voll, die Eisenacher jubeln ihrer langjährigen
       Bürgermeisterin zu. Ab Juli 2012 regierte sie die Stadt, zur Kommunalwahl
       in diesem Frühjahr trat sie nicht wieder an.
       
       Wolf spricht über Bildungspolitik und fehlende Lehrerstellen. Besonders
       populistisch klingt sie nicht, nur einmal, als sie über die fehlenden
       Deutschkenntnisse an den Schulen spricht, sagt sie, das hier sei „nicht
       Neukölln“. Ansonsten sagt Wolf, das BSW stehe zum Asylrecht, und dass es
       ein Skandal sei, dass es in Thüringen so lange dauere, bis ausländische
       Ärzte anerkannt seien.
       
       Hinter der Bühne wird es hektisch. „Katja!“, ruft einer, „Sahra kommt in
       zwei Minuten.“ Wolf beendet ihre Rede und verlässt die Bühne, um ihre
       Vorsitzende vom Auto abzuholen.
       
       Die BKA-Beamten setzen ihre Sonnenbrillen auf, die Türen der schwarzen
       Limousine gehen auf, Sahra Wagenknecht steigt aus – und hat ihren Mann
       mitgebracht. „Oh“, sagt Wolf zu Oskar Lafontaine, „ich wusste gar nicht,
       dass du auch kommst.“ Wolf und Wagenknecht umarmen sich. Die Konkurrenz,
       die es zwischen ihnen gibt, hier die Parteichefin, dort die
       Realpolitikerin, man spürt sie nicht auf den ersten Blick.
       
       Vielleicht ist es jetzt, im Wahlkampf, auch weniger Konkurrenz als eine gut
       funktionierende Arbeitsteilung. War Wolf eben noch die pragmatische
       Bildungspolitikerin, betritt nun die Populistin die Bühne. Es dauert nicht
       lange, bis Wagenknecht über elitäre Großstädter mit „Hafermilch-Macchiato“
       und Lastenrädern schimpft.
       
       Hinter der Bühne tigert Oskar Lafontaine auf und ab. „Ah, meine
       Lieblingszeitung“, begrüßt er den Reporter der taz sarkastisch. Er selbst
       will keine Rede halten, wie ein Unbeteiligter wirkt er aber auch nicht.
       Nichts darf ihm den Blick auf die Menge von der Bühne versperren. „Ich muss
       sehen, wie die Leute reagieren“, sagt Lafontaine mit einem Lächeln: „Davon
       verstehe ich was.“
       
       Auf der Bühne galoppiert Wagenknecht durch die Wahlkampfschlager. Von
       Politikern, die vorschreiben würden, welche Autos wir fahren, über das Gas,
       das wir vom „bösen Putin“ nicht mehr kaufen dürften, obwohl der Rest der
       Welt das weiter tue.
       
       Lauten Applaus gibt es, als sie über Armut spricht. Über Rentner, die zur
       Tafel gehen müssten. In das Bürgergeld-Bashing der ganz großen Berliner
       Koalition stimmt sie nicht ein, wie überhaupt interessant ist, worüber
       sie im Wahlkampf kaum spricht: Migration. Das BSW hat die Wähler mit einem
       Onlinetool befragt, was für sie die wichtigsten Themen im Wahlkampf seien.
       Die Migration landete nur auf Platz vier. Das Volk bestellt, Wagenknecht
       liefert.
       
       Während Sahra Wagenknecht als Marktschreierin durchs Land reist, laden
       [3][Mario Voigt] und Friedrich Merz von der CDU in ein Erfurter Autohaus
       ein, und Kevin Kühnert geht mit Genossen wandern. Vielleicht ist das nur
       eine andere Strategie, vielleicht aber auch die Angst mancher
       Bundespolitiker, auf Protest zu stoßen.
       
       Sahra Wagenknecht kommt zum Ende ihrer Rede, dem Höhepunkt. Es geht um
       Krieg und Frieden, das Thema Nummer eins des BSW. In einem Satz verurteilt
       sie den russischen Angriff auf die Ukraine, dann schimpft sie auf die
       Waffenlieferungen der Ampelkoalition, auf „Strack-Rheinmetall“ von der FDP
       und sagt: „Ohne Frieden ist alles nichts!“
       
       Am meisten Applaus bekommt sie, als sie darauf hinweist, dass Wiesbaden von
       Eisenach nicht weit ist. Dort sollen 2026 die US-Raketen stationiert
       werden. Ein möglicher russischer Angriff hätte auch hier katastrophale
       Folgen: „Natürlich ist das Landespolitik!“
       
       Gerade erst hat Wagenknecht in einem Interview die Ablehnung der
       Stationierung zur Bedingung für eine Koalition gemacht. Vom BSW in
       Thüringen war niemand über ihren Vorstoß informiert. Spricht man die
       Wahlkämpfer darauf an, wird tief durchgeatmet und dann gelächelt.
       
       War es richtig, die Ablehnung zur Bedingung zu machen, Herr Lafontaine?
       „Das funktioniert hervorragend“, sagt er, was keine Antwort auf die Frage
       ist, aber zeigt, dass es vor allem um Wahlkampfstrategie geht. Ob ein
       bisschen Friedenspolitik im Vorwort des Koalitionsvertrags ausreiche, um
       die Bedingung zu erfüllen? Oskar Lafontaine winkt ab, das werde man sehen.
       Nach der Wahl.
       
       Er wendet sich an Katja Wolf, die wieder hinter der Bühne am Auto lehnt.
       Auch Lafontaine fragt, wie es ihr gehe. „So seh ich aus, wenn ich
       tiefenentspannt bin“, behauptet Wolf. Man muss ihr das nicht glauben.
       
       Nach der Rede von Sahra Wagenknecht gibt es die Möglichkeit, Fotos zu
       machen. Katja Wolf nimmt ein Handy nach dem anderen und macht Bilder – von
       Wagenknecht und Fans. Fotos mit ihr wollen deutlich weniger Menschen
       machen.
       
       Der Hype um das BSW ist groß. Dutzende Journalisten sind nach Eisenach
       gekommen. Die „Heute Show“ ist da, die New York Times habe auch schon
       angefragt. „Ich mein: Hallo!?“, sagt Pressesprecher Steffen Quasebarth,
       „Wir sind doch nur das kleine Thüringen!“
       
       Wenn aber in einer Partei selbst der Pressesprecher kaum über den
       Marktplatz laufen kann, ohne für ein Selfie angehalten zu werden, hat man
       wohl etwas richtig gemacht. „Ich dachte, Sie gibt’s nur um 19 Uhr im
       Fernsehen“, sagt ein Passant.
       
       Steffen Quasebarth hat 30 Jahre lang das „Thüringen Journal“ moderiert. Für
       ältere Thüringer ist das ein bisschen, als würde Ingo Zamperoni seine
       Krawatte ablegen und sich einer Partei anschließen. Quasebarth ist nicht
       nur BSW-Pressesprecher, er steht auch auf Listenplatz drei. Und es hat ja
       eine gewisse Logik: Was braucht eine Talkshow-Politikerin wie Sahra
       Wagenknecht, um erfolgreich zu sein? Einen Moderator.
       
       Am Morgen nach ihrem Auftritt in Eisenach sitzt Katja Wolf in Erfurt unter
       einem Kreuz in einem Tagungsraum der katholischen Kirche und muss über
       Familienpolitik reden. Es gibt Schnittchen und Obst auf Zahnstochern. Der
       Arbeitskreis Thüringer Familienorganisationen hat eingeladen, die anderen
       Parteien haben ihre fachpolitischen Sprecherinnen geschickt. Da das BSW so
       etwas noch nicht hat, geht die Spitzenkandidatin eben selbst.
       
       Katja Wolf schwirrt der Kopf, gestern war sie um halb eins zu Hause. „Das
       war okay. Aber bei der letzten Podiumsdiskussion dachte ich kurz: Wo bin
       ich? Wie heiß ich noch mal?“ Auf dem Podium kann sie die Finger nicht von
       ihrem Handy lassen.
       
       Der Sprecher des Familienverbands hat die Wahlprogramme genau gelesen, beim
       BSW sind ihm Widersprüche aufgefallen. Dort heißt es, dass die „normale
       Familie“ im Mittelpunkt stehen solle. Was denn normal sei, will er wissen.
       Außerdem fordert das BSW Sprachtests für Dreijährige. Wer durchfällt, soll
       verpflichtend in den Kindergarten. Den besuchen aber heute schon 95 Prozent
       der Thüringer Kinder – wofür braucht es da eine Pflicht?
       
       Die Familienpolitik ist eines von vielen Feldern, auf denen unklar ist, was
       die Partei will. Beim Wahl-O-Mat hat die Partei 33 von 38 ihrer Antworten
       nicht begründet. Familie sei „da, wo Verantwortung ist“, sagt Katja Wolf
       dann und unterscheidet sich damit nicht von SPD, Grünen und Linken.
       Deutlich wird aber, dass Wolf den Abgeordneten der anderen Parteien
       rhetorisch überlegen ist: Die Grüne Sprecherin spricht von „Care-Arbeit“
       und „Zeitpolitik“, die Linke sagt den schönen Satz: „Wir kennen alle das
       Familienförderungssicherungsgesetz“. Katja Wolf dagegen reißt als Erste das
       Publikum im Saal mit, als sie sich empört, dass auf dem heutigen Podium zur
       Familienpolitik ausschließlich Frauen sitzen.
       
       Während Katja Wolf diskutiert, betritt Frank Augsten die Geschäftsstelle
       des BSW. Nicht mal ein Schild hängt an der Tür, am Eingang hat jemand den
       Namen der Partei auf eine Postkarte geschrieben. Zwei Schreibtische, ein
       alter Teppichboden, ein Chihuahua und ein Drucker, der immer wieder
       ausfällt. Von hier aus wird die politische Landschaft
       durcheinandergebracht.
       
       Frank Augsten trägt Socken in Sandalen, äußerlich könnte man ihn für einen
       Grünen halten, und das war er auch, bis März. Augsten hat mal die Thüringer
       Landesverbände von Bund und Nabu mitgegründet, war Landesvorsitzender der
       Grünen – und ist seit Ende März beim Bündnis Sahra Wagenknecht. Ihn stört,
       dass sich seine Ex-Partei in die erste Reihe derer gestellt hat, die Waffen
       für die Ukraine fordern. Dass er im Frühjahr bei der Listenaufstellung der
       Grünen nicht berücksichtigt wurde, dürfte auch eine Rolle gespielt haben.
       Kurz danach habe es „einen Anruf“ gegeben, mehr will Augsten nicht
       verraten. Nun steht er auf Platz 5 der BSW-Liste für Thüringen, damit ist
       er sicher im kommenden Landtag.
       
       Mitglieder hat die Partei in Thüringen immer noch weniger als 100. Jeder
       Interessent soll sorgfältig geprüft werden, dafür fehlt aber die Zeit im
       Wahlkampf. In manchen Städten hat das BSW kein Mitglied, in manchen
       Landkreisen eins. Viele hatten geglaubt, dass das ein Nachteil sein würde
       im Wahlkampf. Gerade zeigt sich, dass das Hemdsärmelige bei den Wählern
       gut ankommt. Das hat das BSW mit der AfD gemein: Man spricht zwar nicht von
       „Altparteien“, aber will anders sein als die anderen.
       
       Tatsächlich wird viel improvisiert: Die Wahlplakate lagern in einer
       Tischlerei, der Meister selbst steht auf Listenplatz 21. Mails an manche
       der künftigen Abgeordneten kommen mit einer Fehlermeldung zurück, die
       Adressen werden gerade erst eingerichtet.
       
       Bei all der schönen Erzählung vom Aufbruch könnte man vergessen, dass das
       BSW ziemlich etabliert aufgestellt ist: Sie hat die größte einzelne
       Parteispende der vergangenen Jahre erhalten, 5 Millionen Euro von einem
       Unternehmerpaar aus Mecklenburg. Sie hat Bundestagsmandate, die aus der
       Spaltung der Linken hervorgingen. Und in Thüringen stehen auf den vorderen
       Listenplätzen erfahrene Kandidaten. Neben ehemaligen Grünen kommen
       Kandidaten von der CDU, den Wahlkampf koordiniert eine ehemalige
       Bundestagsabgeordnete der Linken.
       
       Sie alle werden nicht durch Amateurfehler auffallen, so das Kalkül.
       Gleichzeitig ist kaum vorstellbar, dass sich diese erfahrenen
       Landespolitiker aus Berlin oder dem Saarland diktieren lassen, unter
       welchen Bedingungen sie einer Koalition zustimmen.
       
       Auf ihrer Wahlkampftour betont das BSW, wie viele Unternehmer, Gastwirte,
       „ganz normale Bürger“ auf ihrer Liste stehen. Der Staat solle mehr
       ermöglichen, weniger verbieten, und überhaupt klingt das oft ziemlich
       wirtschaftsliberal. Hätte es noch einen Beweis gebraucht, dass das
       Parteiensystem im Umbruch ist und sich nicht mehr klassisch von links bis
       rechts organisiert, das BSW liefert ihn. Im Osten mit seiner geringen
       Parteibindung verfängt das.
       
       Der Ex-Grüne Frank Augsten hat nur kurz Zeit für ein Gespräch, gleich ist
       er mit dem Landesgeschäftsführer verabredet. Sie bereiten die
       Koalitionsverhandlungen mit der CDU vor, erzählt er. Beim Ökolandbau liege
       Thüringen ganz hinten, und wie könnte ein Kompromiss bei der Windkraft im
       Wald aussehen? Augsten ist dafür, viele Thüringer dagegen. Seiner Partei
       hat er abgerungen, dass sie im Wahlprogramm dazu uneindeutig bleibt. Er
       will vorbereitet sein für das, was am Wahlsonntag um 18 Uhr beginnt. Wenn
       es nach Augsten geht, ist er in ein paar Wochen Minister, das gibt er gern
       zu – bevor er sich verabschiedet.
       
       Augstens Beispiel zeigt, dass das BSW breit aufgestellt ist. Ob die Partei
       inhaltlich beliebig wird oder sich so als ostdeutsche Volkspartei
       aufstellen will, dürfte sich nach der Wahl zeigen.
       
       Einen Tag nach dem Marktplatz von Eisenach ist nun der von Altenburg dran,
       in Ostthüringen, an der Grenze zu Sachsen. Hier hat Katja Wolf keinen
       Heimvorteil.
       
       Altenburg hat seit der letzten Wahl einen Direktkandidaten der AfD, auch
       bei den Kommunalwahlen wurde die Partei stärkste Kraft. Auf dem Marktplatz
       schaut der Bratwurstverkäufer skeptisch auf die Bühne von Sahra
       Wagenknecht, stützt sich mit den Fäusten auf den Tresen und sagt: „Mir ist
       die AfD noch zu links.“ Ein älterer Mann schiebt sein Fahrrad über den
       Platz. Er freut sich, dass Wagenknecht sich gegen die US-Raketen stark
       macht. „Seit der Wende haben wir die scheiß Amis hier“, sagt er.
       
       ## Und wie hält man es mit der AfD?
       
       Katja Wolf hat ihren Übertritt zum BSW damit begründet, dem Rechtsruck
       etwas entgegensetzen zu wollen. Und tatsächlich trifft man auf den
       Marktplätzen viele Menschen, die erzählen, dass sie zu Hause bleiben oder
       die AfD wählen wollten, aber nun überlegen, dem BSW ihre Stimme zu geben.
       Die wütend auf die Ampel sind, aber in der CDU und der Linken keine
       Alternative sehen. Wenn man diese Menschen in ihrem Antiamerikanismus
       bedient und mit Populismus gegen Lastenräder dafür gewinnen kann, eine
       populistische, aber demokratische Partei zu wählen statt Höcke – wäre das
       nicht ein verschmerzbarer Preis?
       
       Einerseits.
       
       Andererseits hat das BSW es bei der Europawahl nicht geschafft, die AfD
       merkbar zu schwächen. Auch von der Linken dürften bei der Landtagswahl
       viele Wähler überlaufen. Katja Wolf erzählt, dass sie mit ihrem ehemaligen
       Genossen [4][Bodo Ramelow] weiter Nachrichten schreibe. „Aber keine
       Herzchen.“
       
       Realpolitisch könnte das BSW den Faschisten Höcke sogar stärken. Katja Wolf
       hat angekündigt, im Landtag „vernünftigen“ Anträgen der AfD zustimmen zu
       wollen. Das werde nicht oft vorkommen, verteidigt sie ihren Vorstoß, in
       Eisenach habe sie keinen einzigen solchen Antrag erlebt. Aber damit war der
       Geist aus der Flasche.
       
       Beim BSW glaubt man, dass man nicht weiterkommt mit der bisherigen
       Strategie, auch harmlose Anträge zur Geschäftsordnung lieber mit
       Copy-and-Paste zu übernehmen und selbst zu stellen. „Das Spiel ist
       gescheitert“, sagt Katja Wolf, die AfD stehe bei 30 Prozent. „Wenn die AfD
       sagt, der Himmel ist blau, dann können wir doch nicht aus Prinzip sagen,
       das ist er nicht.“
       
       Es ist ein Schritt, der die AfD weiter normalisieren wird. Katja Wolf
       glaubt, dass er sie entzaubert.
       
       Die CDU hat im Landtag bereits Anträge mit Stimmen der AfD durchgebracht,
       sich aber nicht an deren Initiativen beteiligt. Sollte es nach den Wahlen
       wieder keine Mehrheitsregierung geben, könnte sich die Frage umso
       dringender stellen.
       
       Eine Tolerierung durch die AfD oder eine andere Zusammenarbeit schließt das
       BSW aus. Auf ein Kemmerich-Szenario hat man sich aber bisher auch nicht
       vorbereitet, heißt es aus der Partei – also auf den Fall, dass es im
       Landtag keine Mehrheit für einen Kandidaten gibt und die AfD sich wieder
       einen Trick einfallen lässt, ähnlich wie 2020, als Thomas Kemmerich von der
       FDP mit ihren Stimmen zum Kurzzeitministerpräsidenten gewählt wurde.
       
       Am Wahlsonntag um 18 Uhr wird sich zeigen, ob sich beides zusammenbringen
       lässt: Eine pragmatische Lösung für Thüringen und der Aufstieg einer neuen
       deutschen Oppositionspartei.
       
       ## Kompromisslosigkeit oder Realpolitik
       
       Sahra Wagenknecht will kompromisslos in den Bundestagswahlkampf starten,
       der im Herbst nach den Landtagswahlen beginnt. „Wir werden nie Teil dieses
       Sumpfes sein!“, ruft sie den Altenburgern von der Bühne aus zu, als sie
       über die anderen Parteien schimpft. Eine Koalition mit der CDU in Thüringen
       würde dem widersprechen.
       
       Katja Wolf weiß, dass sie Ende nächster Woche zur ersten Machtbasis für das
       BSW werden könnte. Sahra Wagenknecht mag ihren Namen gegeben haben –
       realpolitisch ist sie eine Hinterbänklerin im Bundestag. Das föderale
       System der Bundesrepublik könnte helfen, den Populismus zu begrenzen:
       Formal entscheidet der Landesverband.
       
       Anders als Wagenknecht redet Wolf über Friedenspolitik nur, wenn sie darauf
       angesprochen wird. Arbeitsteilung eben. Dann sagt sie, man werde sich nur
       an einer Landesregierung beteiligen, die in dieser Frage klar ist. Was das
       bedeutet, lässt man lieber im Unklaren.
       
       „Wir können in Thüringen nicht beschließen, dass Putin an den
       Verhandlungstisch kommt“, hatte Katja Wolf hinter der Bühne in Eisenach am
       Vortag zu einer Traube von Journalisten gesagt. Es müsse aber ein „klares
       Bekenntnis für Frieden aus Thüringen geben“. Mit der Landes-CDU in scheint
       das durchaus realistisch. Auch ihr Spitzenkandidat Mario Voigt fordert im
       Wahlkampf „mehr Diplomatie“.
       
       Ob das der großen Vorsitzenden reicht? Auf dem Marktplatz in Altenburg sagt
       Sahra Wagenknecht: „Wir werden alles tun, um die Stationierung dieser
       Waffen in Deutschland zu verhindern“. Alles – das klingt nach mehr als ein
       bisschen Frieden im Vorwort des Koalitionsvertrags. Dem Spiegel hat
       Wagenknecht gesagt, sie werde bei möglichen Koalitionsverhandlungen „mit am
       Tisch sitzen“ – ungewöhnlich für eine Bundesvorsitzende.
       
       Wagenknecht rauscht wieder ab, die nächste Bühne wartet auf sie. Sie liebe
       Thüringen, ihr Heimatland, den Dialekt, hatte sie dem gerührten Publikum
       noch gesagt. Der Thüringer Senf scheint ihr weniger zu schmecken. Den
       Präsentkorb, den ihr die stolzen Altenburger auf der Bühne überreicht
       hatten, hat sie stehen gelassen.
       
       Katja Wolf sagt: „Es muss am Ende immer um Thüringen gehen.“
       
       24 Aug 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Kersten Augustin
       
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       Noch ist das Bündnis Sahra Wagenknecht die große Unbekannte in der
       politischen Landschaft. Trotzdem wollen viele Menschen sie wählen. Warum?
       
   DIR Mario Voigt über Wahl in Thüringen: „Warum diese Koalitionspuzzles?“
       
       Der CDU-Mann Mario Voigt will Ministerpräsident von Thüringen werden. Ohne
       das BSW geht das kaum. Ein Gespräch über Wagenknecht und „Höcke ist doof“.
       
   DIR Brandmauer in Ostdeutschland: Es kommt jetzt auf die CDU an
       
       Nach den Wahlen in Thüringen wird die Union über ihren Schatten springen
       müssen. Die Versuchung wird groß sein, stattdessen die Brandmauer
       abzubauen.
       
   DIR Landtagswahl in Thüringen: Zwischen Höcke und Wagenknecht
       
       In drei Wochen wählt Thüringen. Die CDU will an die Macht – ohne AfD und
       Linke. Aber mit wem dann? Unterwegs in einem komplizierten Wahlkampf.