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       # taz.de -- Kinderwunschbehandlung: Drei Versuche
       
       > Als unsere Autorin und ihr Partner eine Familie gründen wollen, ist sie
       > 35. Doch von alleine klappt es nicht. Über den langen Weg zum Wunschkind.
       
   IMG Bild: Endlich Eltern: Mutter Stella und Vater Michel in ihrer Hamburger Wohnung
       
       An einem Freitagmittag im Sommer 2022 liege ich mit gespreizten Beinen auf
       einem Gynäkologiestuhl in einem OP-Saal. Michel, mein Mann, streichelt
       meinen Kopf. Der Arzt führt mir ein Spekulum ein, dann einen Katheter. Von
       nebenan bringt eine Labormitarbeiterin ein kleines Gefäß mit einer
       Flüssigkeit darin – unser Embryo.
       
       Mir kommen die Tränen. Ich bin total ergriffen und fühle sofort eine innige
       Liebe zu dem kleinen Wesen. Unser Kind!? Nach etwa einer Minute ist es in
       mir. Sofort bekomme ich ein Ultraschallbild ausgehändigt, auf dem ein
       winziger Punkt zu sehen ist. Ein Punkt, von dem wir noch nicht wissen, ob
       er bleiben wird. Irgendwie komisch, denke ich, schürt das nicht zu viele
       Hoffnungen?
       
       Dennoch ist dieser Punkt jetzt schon mein ganzer Stolz, immer wieder schaue
       ich mir das Bild an. Beseelt schwebe ich nach Hause, kann gar nicht
       aufhören, meinen Bauch zu streicheln. Michel ermahnt mich sanft: „Steigere
       dich bitte nicht zu sehr hinein.“ Aber wie soll das gehen?
       
       Es ist eine Frage, die ich mir zu diesem Zeitpunkt seit beinahe einem Jahr
       fast täglich stelle und die mich noch zwei weitere Jahre beschäftigen wird.
       Hinter uns liegen Monate des Blindflugs. Sex auf gut Glück, ein bisschen
       Zyklus-Tracking – irgendwann wird das schon, dachten wir, das mit dem
       Schwangerwerden, das mit dem Kinderkriegen. Bis zur Erkenntnis, dass wir
       wohl ein wenig Hilfe brauchen. Damals starten wir relativ unbedarft in eine
       Zeit, von der wir nicht ahnten, wie viel sie uns abverlangen wird, an
       psychischer und finanzieller Belastung, an emotionalem Stress, für Michel,
       für mich und für uns als Paar.
       
       Wir durchlaufen eine Kinderwunschbehandlung, in einer der mindestens 142
       Kinderwunschpraxen in Deutschland. Ihre Zahl wächst und wächst, denn wie
       wir wird jedes sechste Paar in Deutschland nicht auf natürlichem Weg
       schwanger und braucht die Hilfe von Reproduktionsmediziner:innen. Tendenz
       auch hier: steigend.
       
       Wie funktioniert eine künstliche Befruchtung? Was macht das mit einem,
       mental, körperlich und finanziell? Wie stehen überhaupt die Chancen, dass
       es klappt? Mit diesen Fragen habe ich mich nicht wirklich beschäftigt, bis
       ich es musste.
       
       Michel und ich kennen uns, seit wir 19 sind. Dass es Liebe ist, haben wir
       aber erst mit 35 gemerkt, in einer heißen Sommernacht 2020, in einem
       aufblasbaren Kanu. Sofort war klar, dass wir zusammen all in gehen und eine
       Familie gründen wollen. Das war für uns beide neu. Lange wusste ich nicht
       mal, ob ich überhaupt Kinder will, reiste lieber um die Welt, ging auf
       Partys, verwirklichte mich als Autorin. Ich dachte, ich hätte noch ewig
       Zeit. Michel, der als Mechatroniker arbeitet und viel unterwegs ist, ging
       es lange ähnlich.
       
       Etwa ein Jahr nach der Nacht im Kanu ziehen wir zusammen in eine
       Zweizimmerwohnung in Hamburg-Ottensen und lassen es einfach mal „darauf
       ankommen“. Ich messe jeden Morgen meine Temperatur, mache hin und wieder
       Ovulationstests, um die fruchtbaren Tage zu bestimmen. Doch nach zehn
       Monaten und einigen negativen Schwangerschaftstests werde ich ungeduldig
       und mache im Herbst 2021 einen Termin bei meinem Gynäkologen.
       
       Ich jammere ein wenig, von wegen „Ich werde doch schon 36“ und so. Mein
       Arzt sagt nur „Probieren Sie es ruhig noch mal drei Monate“, schiebt mir
       aber schon mal die Visitenkarte einer Kinderwunschklinik über den Tisch.
       „Danach können Sie sich Hilfe holen.“ Ich bin etwas entsetzt darüber, dass
       ihm nichts anderes dazu einfällt, denke, okay, krass, jetzt sind wir also
       eins von diesen Paaren. Die, bei denen irgendwas nicht stimmt. Die sich so
       einer superkomplizierten, strapaziösen, arschteuren Behandlung unterziehen
       müssen. Die am Ende ihr letztes Hemd für Behandlungen im Ausland geben, die
       bei uns illegal sind. Die, von denen so viele verzweifeln, wenn es doch nie
       klappt.
       
       Und doch bin ich auch ein wenig erleichtert. Wir haben nun etwas in
       Aussicht, Profis, die uns helfen können. Nur will ich nicht weiter warten,
       bloß nicht noch mehr Zeit vergeuden – ich will wissen, wo der Fehler liegt.
       Michel ist von meiner Eile irritiert. „Lass es uns doch einfach noch ein
       paar Jahre so probieren“, sagt er. „Wir sind doch noch voll in der
       Verliebtheitsphase.“
       
       Aber was soll das bringen? Je älter wir werden, desto schwerer wird es,
       schwanger zu werden. Während Frauen mit 25 noch eine Chance von
       durchschnittlich 25 Prozent pro Zyklus haben, schwanger zu werden, sind es
       mit Ende dreißig nur noch 10 bis 12 Prozent.
       
       Es dauert, bis ich einen Termin in der Kinderwunschklinik bekomme. Das
       Telefon ist ständig besetzt. Nach fünf Wochen stehe ich morgens vor dem
       Kleiderschrank und überlege, was ich anziehen soll. Irgendwas, das nach
       Geld aussieht und mütterlich-seriös wirkt. Nicht, dass die Ärzt:innen
       denken: „Die können sich das eh nicht leisten“, oder uns als Eltern für
       ungeeignet halten und deshalb nur halbherzig beraten.
       
       Ich finde meine eigenen Gedanken absurd und betrete dennoch im schwarzen
       Blazer das Wartezimmer, das aussieht wie die Lobby eines
       Fünf-Sterne-Boutiquehotels. Mein extra-fröhliches „Moin“ wird von den
       anderen kaum erwidert, die Stimmung wirkt angespannt. Eine Frau, die
       aussieht, als müsste sie gleich ins Büro, starrt ins Leere. Ein Paar, Mitte
       dreißig, hält stumm Händchen. Ich bin allein, Michel muss arbeiten.
       Ansonsten wissen nicht mal meine Eltern oder meine beste Freundin, dass ich
       heute hier bin. Ich will nicht, dass ständig alle nachbohren: „Und? Hat’s
       geklappt?“
       
       Das Erstgespräch mit dem Leiter der Klinik dauert zehn Minuten. Nachdem ich
       ihm erzählt habe, wie lange wir es schon probieren, reißt er routiniert an,
       welche Behandlungen es gibt und was sie in etwa kosten würden.
       
       Im Jahr 1982 ist in Deutschland [1][das erste Baby zur Welt gekommen, das
       durch künstliche Befruchtung gezeugt wurde]. Die öffentlichen Krankenkassen
       bezuschussen Kinderwunschbehandlungen seit 1990. Bis zur Gesundheitsreform
       2004 wurden verheirateten Paaren vier Versuche sogenannter
       In-vitro-Fertilisation (IVF) – also einer künstlichen Befruchtung im
       Laborglas – komplett bezahlt. Danach wurde die Kostenübernahme von der
       rot-grünen Regierung gekürzt.
       
       Seither bezahlen die gesetzlichen Krankenkassen nur noch drei Versuche zur
       Hälfte – und weiterhin nur dann, wenn das Paar heterosexuell und
       verheiratet ist, die Frau zwischen 25 und 40 Jahre und der Mann zwischen 25
       und 50 Jahre alt ist. Die Kosten für eine IVF belaufen sich in Deutschland
       durchschnittlich auf 2.400 bis 3.800 Euro pro Zyklus, zuzüglich 500 bis
       1.500 Euro Kosten für Medikamente. Bei drei Versuchen können es also knapp
       16.000 Euro sein.
       
       Aber an dem Punkt sind wir noch nicht. Um zu entscheiden, welche Behandlung
       für uns geeignet sein könnte, müssen wir erst mal herausfinden, was das
       Problem ist. Also soll ich die Durchlässigkeit meiner Eileiter überprüfen
       lassen. Von Michel braucht der Arzt ein Spermiogramm.
       
       Die Tests ergeben wenige Wochen später: Ein Eileiter ist verstopft, die
       Spermienqualität ist so lala. Ein kleiner Schock. Aber „gut“, dass es an
       uns beiden liegt. So werden wir uns nicht gegenseitig Vorwürfe machen
       können, falls uns der unerfüllte Kinderwunsch in den Wahnsinn und
       finanziellen Ruin treiben sollte. Wir nehmen es sportlich – noch. „Andere
       haben es mit der Bandscheibe, bei uns ist es eben das“, sagt Michel, und
       dafür liebe ich ihn in diesem Moment.
       
       So entspannt sehen das nicht alle. Wir kennen ein Paar, das die künstliche
       Zeugung ihres Kindes weitestgehend für sich behielt, weil es sich vor
       Stigmatisierung fürchtete, etwa vor Fragen wie: „Sind Laborbabys anders?“
       Und obwohl immer mehr Menschen davon betroffen sind, empfinden nicht wenige
       Scham und Selbstzweifel, wenn sie nicht fähig sind, ein Kind zu zeugen.
       
       „Ich würde Ihnen eine ICSI empfehlen“, sagt der Kinderwunscharzt bei
       unserem zweiten Termin. Ich bin etwas entsetzt. Muss es denn gleich der
       Porsche unter den künstlichen Befruchtungen sein? Eine ICSI findet auch in
       der Petrischale statt, aber mit der Besonderheit, dass ein speziell
       aufbereitetes Spermium an einer bestimmten Stelle mit einer feinen
       Glaspipette in die Eizelle eingesetzt wird.
       
       Dieses Vorgehen wird angewendet, wenn die Spermienqualität zu schlecht ist,
       die Samenzellen etwa zu träge sind oder auffällig aussehen. Weil sie dann
       ihren Weg in die Eizelle nicht selbst finden, wird ihnen mit der
       „intrazytoplasmatischen Spermieninjektion“, kurz ICSI, nachgeholfen.
       
       Vorher muss die Frau etwa zwei Wochen Hormone zu sich nehmen, um die
       körpereigene Hormonproduktion zu unterbinden und einen natürlichen Eisprung
       zu verhindern. Danach wird die Eizellenreifung künstlich stimuliert, wieder
       mit Hormonen, hoch dosiert, oft gespritzt, etwa elf Tage lang täglich,
       damit mindestens eine, bestenfalls aber möglichst viele Eizellen
       heranreifen. Wenn diese so weit sind, wird der Eisprung mit einer
       Hormon-Injektion ausgelöst.
       
       Etwa 36 Stunden später werden die Eizellen entnommen, manchmal auch unter
       Vollnarkose. Dann folgt die Befruchtung im Laborglas, und die befruchteten
       Eizellen wachsen zwei bis sechs Tage in einer Nährlösung. Im Idealfall hat
       sich bis dahin mindestens ein guter Embryo entwickelt, der anschließend mit
       einem Katheter in die Gebärmutter eingesetzt wird. Ein Versuch dieser
       Methode kostet um die 5.000 Euro.
       
       Dabei gibt es deutlich softere Methoden. VZO zum Beispiel, das steht für
       „Verkehr zum Optimum“. Dabei wird der Zyklus bei Bedarf hormonell
       reguliert, sodass der Zeitpunkt des Eisprungs besser bestimmt werden kann
       und man dann Sex on time hat. Bei der Insemination hingegen wird Sperma
       abgegeben, aufbereitet und mithilfe eines dünnen Schlauchs am Tag des
       Eisprungs in die Gebärmutter eingespült. Der Eingriff – eine Sache von fünf
       Minuten.
       
       Aber unser Arzt schüttelt den Kopf. Unsere Ausgangslage sei zu schlecht. Es
       muss wohl wirklich eine ICSI sein.
       
       Eine Garantie, dass es klappt, gibt es nicht. Dafür gibt es Risiken, die
       uns der Arzt nun aufzählt: In seltenen Fällen kommt es zu einer
       Überstimulation der Eierstöcke. Das führt zu Übelkeit, Flüssigkeit im Bauch
       und Schmerzen. Auch Atemnot und Störungen der Blutgerinnung sind möglich.
       Das kann lebensgefährlich sein. Manchmal muss der Embryo-Transfer dann
       abgesagt werden.
       
       Außerdem ist das Risiko für niedriges Geburtsgewicht, eine Frühgeburt oder
       Schwangerschaftsvergiftung etwas erhöht. Werden gleich zwei oder gar drei
       Embryonen eingesetzt, um die Erfolgschancen zu erhöhen, besteht schließlich
       auch die Gefahr, dass sich nicht nur, wie erwünscht, ein Embryo, sondern
       zwei oder alle drei einnisten und Zwillinge oder Drillinge geboren werden.
       Das wiederum birgt weitere medizinische Risiken, wobei mit der immer weiter
       verbesserten Technik immer seltener mehr als ein Embryo eingesetzt wird.
       
       Ich höre dem Arzt nicht richtig zu. Ich höre nur, was ich hören will:
       „Sechs von zehn Frauen sind nach dem dritten Versuch schwanger. Nach mehr
       als vier Embryo-Transfers sind es schon 70 Prozent.“ Die Rede ist hier von
       der sogenannten aufaddierten Schwangerschaftsrate, also der
       Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, wenn man mehrere Behandlungen
       durchläuft. Das klingt super im „Verkaufsgespräch“.
       
       Fakt ist aber: Pro Versuch bleibt es bei einer Chance von etwa 30 Prozent,
       je nach Alter und Ausgangslage. Laut Deutschem IVF-Register gehen aktuell
       nur 23 Prozent der Frauen, die eine künstliche Befruchtung durchlaufen, mit
       einem Baby im Arm nach Hause. Fast 80 Prozent der Behandlungen scheitern
       oder enden mit einer Fehlgeburt. Trotzdem wurden 123.332
       Kinderwunschbehandlungs-Zyklen im Jahr 2022 dokumentiert, knapp 40.000 mehr
       als vor zehn Jahren.
       
       Unser Arzt lobt, dass wir „so schön früh“ gekommen sind. Mit seinem
       Kugelschreiber zeichnet er eine Kurve in einem Diagramm auf seinem PC nach.
       Sie geht steil bergab. „Ab 33 sinkt die Fruchtbarkeit der Frau rapide …“
       Michel wirkt skeptisch. Unruhig rutscht er auf seinem Stuhl herum. Ich
       merke, wie ihn all das überfordert. Die hohen Kosten, die Risiken, die
       Strapazen, die geringen Erfolgschancen – durch unsere Köpfe wirbeln lauter
       Fragen: Wollen wir uns das wirklich antun? Muss es wirklich direkt eine
       ICSI sein? Was, wenn es trotzdem nicht klappt? Überstürzen wir hier etwas?
       Oder ist das hier das neue Normal?
       
       Laut einer großen Analyse, veröffentlicht im November 2022 im Fachjournal
       Human Reproduction Update, ist die durchschnittliche Spermienkonzentration
       im Zeitraum von 1973 bis 2018 um mehr als 51 Prozent gesunken. Als mögliche
       Gründe dafür nennen die Wissenschaftler:innen schädliche
       Umwelteinflüsse und eine ungesunde Lebensweise, wobei Kritiker:innen
       anmerken, dass die wachsenden Zahlen eher auf eine sich stetig verbessernde
       Zähltechnik zurückzuführen seien.
       
       Die Universität Genf in Kooperation mit dem Swiss Tropical and Public
       Health Institute sah nach einer Studie ein Jahr später zudem einen
       Zusammenhang zwischen intensiver Handy-Nutzung und der Abnahme der
       Spermienkonzentration. Heraus kam, dass die Spermienkonzentration in der
       Gruppe der Männer, die ihr Handy nicht mehr als einmal pro Woche benutzten,
       signifikant höher ausfiel als in der Gruppe jener, die ihr Handy mehr als
       20 Mal pro Tag benutzten. Daraus ergibt sich ein Rückgang der
       Spermienkonzentration um 21 Prozent bei häufiger Handy-Nutzung.
       
       Ein [2][WHO-Bericht von 2023] resümiert: Jeder sechste Mensch sei zeitweise
       unfruchtbar. „Die schiere Zahl der Betroffenen zeigt, dass der Zugang zu
       Fertilitätsbehandlungen ausgeweitet werden muss und dass dieses Thema in
       der Gesundheitsforschung und -politik nicht länger verdrängt werden darf“,
       wird WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in dem Bericht zitiert.
       
       In Deutschland wird dieser Forderung nicht wirklich ernsthaft nachgegangen.
       Die Ampelregierung versprach in ihrem Koalitionsvertrag zwar, künstliche
       Befruchtungen „diskriminierungsfrei (…), unabhängig von medizinischer
       Indikation, Wohnort, Familienstand und sexueller Identität förderfähig zu
       gestalten“. Auch die Altersgrenze von 40 Jahren für Frauen und die Anzahl
       der Behandlungszyklen, also drei, wolle man überprüfen. Doch bisher ist
       nichts passiert.
       
       Noch immer werden nur heterosexuelle, verheiratete Paare von den
       Krankenkassen oder durch Zuschüsse der Länder gefördert.
       [3][Gleichgeschlechtliche Paare werden] nur in sechs von zwölf
       Bundesländern, die künstliche Befruchtungen überhaupt fördern, unterstützt.
       Eine Sprecherin des Familienministeriums führt auf Nachfrage aus, dass es
       aktuell an „dauerhaft ausreichenden Finanzmitteln“ mangele. Immerhin
       erklärte die FDP gerade erst im Bundestag, eine fraktionsübergreifende
       Initiative zur Legalisierung von bisher in Deutschland verbotenen
       Eizellspenden starten zu wollen – auch das könnte ungewollt Kinderlosen
       weiterhelfen.
       
       Das Selbstbewusstsein, mit dem unser Arzt an unsere Behandlung herangeht,
       finde ich bemerkenswert. Sein Ziel sei es, dass ich gleich beim ersten
       Versuch schwanger werde, schließlich seien wir jung und gesund. „Auch,
       damit es für Sie nicht zu teuer wird“, fügt er mit einem mitfühlenden
       Lächeln hinzu und händigt uns eine daumendicke Mappe mit dem
       Kostenvoranschlag – rund 5.000 Euro pro Behandlung – aus.
       
       Augen zu und durch, wir wollen es wagen. Das bedeutet aber auch: Wir müssen
       zügig heiraten, denn ohne die Zuschüsse der Krankenkasse können wir uns die
       Behandlung nicht leisten, vor allem, wenn mehrere Versuche erforderlich
       sind. Eine Freundin hat es zwölf Mal probiert, leider vergeblich.
       
       So sitzen Michel und ich im April 2022 auf dem Fußboden unserer
       Zweizimmerwohnung, trinken Sekt und basteln uns gegenseitig Verlobungsringe
       aus Alufolie. Weil man in Hamburg ungefähr sechs Monate auf einen Termin
       beim Standesamt warten muss, googelt Michel „Blitzhochzeit in Dänemark“,
       ein Tipp von Freunden. Hinter der Grenze könne man fast so schnell und
       unkompliziert heiraten wie in Vegas, heißt es.
       
       Letztlich finden wir heraus, dass wir in meiner Heimatstadt Cuxhaven sogar
       noch schneller an einen Termin kommen. Sechs Wochen später feiern wir ein
       rauschendes Fest mit Engtanz, Schokoladenkuchen und vielen Glückstränen.
       Am nächsten Morgen scanne ich unsere Eheurkunde ein und schicke sie an
       meine Krankenkasse. Ihr „Go!“ kommt nach wenigen Tagen.
       
       Zwei Wochen später bekomme ich meine Tage und werde in der Klinik zum
       gefühlt hundertsten Mal durchgecheckt. Alles sieht gut aus. Ich überweise
       die Anzahlung und kaufe Medikamente für 2.000 Euro. Später sitzen wir an
       unserem Küchentisch und arbeiten uns durch die Unterlagen. Wir brauchen
       ewig, bis wir all die Fachbegriffe verstehen, die auf den Verträgen für
       Behandlungsmethoden notiert sind, die wir dazubuchen können.
       
       Zum Beispiel Assisted Hatching – mithilfe eines Lasers wird dem Embryo das
       Abstreifen der Eihaut erleichtert und die Wahrscheinlichkeit für ein
       erfolgreiches Einnisten gesteigert; Kryokonservierung – Embryos einfrieren;
       oder Time-Lapse – die Überwachung der Embryos im Labor. Woher sollen wir
       wissen, was wirklich sinnvoll ist? Wir fühlen uns überfordert und buchen
       letztlich alle Extras, in der Hoffnung, damit unsere Chancen zu erhöhen.
       
       In diesen Tagen fällt mir auf, wie sehr mein Instagram-Feed auf unseren
       Kinderwunsch aufgesprungen ist. Er zeigt mir Werbeanzeigen ohne Ende:
       Zinkkapseln für 16,95 Euro die Dose, eine Haarmineralanalyse für 150 Euro,
       einen Online-Männerkurs „um gezielt Deine Spermien zu pimpen“, Yoga,
       Moorkuren. Gefühlt wird überall einfach nur der Begriff „Kinderwunsch“
       davor gesetzt und das Produkt als unverzichtbar angepriesen – oft mit
       „Schwangerschaftsgarantie“.
       
       Im Ausland werben einige Kinderwunschkliniken sogar mit einer
       Geld-zurück-Garantie, wenn es nach zehn Versuchen nicht klappt. „Seriosität
       merkt man an sehr zurückhaltenden Heilversprechen“, erklärt die
       Kinderwunschpsychologin Sally Schulze am Telefon. „Wenn jemand verspricht:
       Drei von fünf Frauen, die das gemacht haben, sind schwanger geworden, sind
       das Red Flags. Nicht darauf reinfallen!“
       
       Jeden Morgen schaue ich auf mein Stimulationsprotokoll, auf dem steht, was
       ich mir wann spritzen muss, um die Reifung mehrerer Eizellen
       herbeizuführen. Es sind täglich eine Fertigspritze und ein Hormoncocktail,
       den ich selbst anrühren muss. Ich ziehe ein Lösungsmittel mit der Nadel
       auf, spritze es in Ampullen mit Pulver, ziehe die Kanüle wieder auf und
       fühle mich wie in einer Crystal-Meth-Küche. Haut desinfizieren,
       Luftblasen-Check, bis drei zählen, zustechen. Meistens in den Bauch. Eine
       Riesenüberwindung. Ich habe jedes Mal Angst, etwas falsch zu machen und
       damit die gesamte Behandlung zu gefährden. Einmal fängt Michel
       währenddessen an etwas zu kochen und ich raste komplett aus. „Raus! Sofort!
       Ich muss mich hier konzentrieren!“
       
       Ich bin schnell gereizt und durch die Hormone ständig müde. Zweimal die
       Woche muss ich zur Kontrolle in die Klinik. Dadurch schaffe ich viel
       weniger journalistische Aufträge als früher und kann an den Wochenenden
       nicht mehr mit meiner Band auf Tour gehen. Also verdiene ich auch weniger
       Geld.
       
       In dieser Zeit streiten Michel und ich häufiger, weil ich von ihm verlange,
       dass er bis zur Spermienabgabe nicht mehr raucht oder trinkt. Er findet das
       übergriffig, ich finde ihn unsolidarisch. „Von den Millionen Spermien, die
       ich habe, werden sie ja wohl eins finden, das gut genug ist“, sagt er.
       Während er häufiger in den Verdrängungsmodus wechselt und am liebsten so
       wenig wie möglich über die ganze Sache reden will, um nicht so stark
       enttäuscht zu werden, falls es nicht klappt, fühle ich mich manchmal allein
       gelassen.
       
       Nach zwei Wochen muss ich mir zu einer bestimmten Uhrzeit eine
       eisprungauslösende Spritze setzen. Ich stelle mir drei Wecker, um nicht zu
       verpennen – sonst wäre alles umsonst gewesen. Tags drauf werden mir die
       herangereiften Follikel entnommen. Je mehr, desto höher die Chance, dass am
       Ende ein guter Embryo entsteht. Michel musste schon frühmorgens sein Sperma
       abgeben. Sessel mit Papierbezug, TV-Gerät mit Erotikfilmen in Endschleife,
       in Plastik eingeschweißte Fernbedienung. Maximal unangenehm, aber
       wenigstens schmerzfrei. Meine OP dauert 15 Minuten.
       
       Im Aufwachraum baumeln drei Störche über meinem Bett. Man ruft mir zu, dass
       zwölf reife Eizellen entnommen werden konnten. Jackpot! Manchmal sind
       Follikel nämlich auch leer, ohne Eizellen darin. Michel bringt mich nach
       Hause. Als die Betäubung nachlässt, habe ich Unterleibsschmerzen und mein
       Bauch schwillt an. Ab ins Bett.
       
       Tags drauf ruft die Klinik an, um uns mitzuteilen, dass sechs Eizellen
       befruchtet werden konnten. Wenn sich in der Nährlösung im Labor ein guter
       Embryo entwickelt, könne mir dieser in fünf Tagen eingesetzt werden. Und so
       kommt es dann auch, wie zu Beginn dieses Textes beschrieben.
       
       Danach müssen wir warten, quälend lange 14 Tage, bis der Bluttest gemacht
       werden kann. Ich versuche mich abzulenken, so gut es geht, besuche
       Lesungen, treffe Freundinnen. An Tag 13, ich sitze gerade mit meinem Laptop
       im Café, muss ich auf die Toilette. Da ist Blut am Klopapier. Alles um mich
       herum verschwimmt. Nein, bitte, nein.
       
       Das war’s, ich weiß es. Trotzdem will die Klinik noch einen
       Schwangerschaftstest machen. Blutungen kämen häufig vor. Dann kommt der
       Anruf: „Schwanger! Aber …“ Das Schwangerschaftshormon sei kaum noch
       nachweisbar. Für ein bis zwei Stunden erlaube ich mir, mich zaghaft zu
       freuen. Dann holt mich die Realität ein. Da ist einfach zu viel Blut.
       Biochemische Schwangerschaft nennt sich das. Der Embryo hat sich kurz
       eingenistet, ist dann aber abgegangen. Viele Frauen sind kurz schwanger,
       ohne es zu merken. Jedes Mal eine winzige Fehlgeburt.
       
       Michel und ich sind sehr traurig, aber auch hoffnungsvoll. Immerhin wissen
       wir jetzt, dass wir es können. Zwei Monate später, einen Tag vor meinem 37.
       Geburtstag im Oktober 2022, wird mir erneut ein Embryo eingesetzt. Ich
       verbringe den Abend mit Wolldecke auf dem Sofa, klappe den Laptop auf und
       googele „Anzeichen Schwangerschaft ICSI“, schaue Dokus, lese
       Erfahrungsberichte und Horrorstorys von anderen #icsimoms, recherchiere,
       was es für Behandlungsmethoden im Ausland gibt und wie eigentlich eine
       Adoption so abläuft. Ich will vorbereitet sein, falls alle Stricke reißen,
       um nicht so tief zu fallen.
       
       Nach außen hin lassen wir uns weiterhin nichts anmerken, nur unsere
       Familien wissen Bescheid. Ich gehe weiter auf Feiern, trinke heimlich
       alkoholfreien Sekt, um mich niemandem erklären zu müssen.
       
       Als 14 Tage vergangen sind, lasse ich mir in der Klinik Blut abnehmen und
       warte zu Hause mit Michel auf den Anruf. Die Klinikmitarbeiterin knallt uns
       die Info wenig empathisch um die Ohren: „Das war leider nichts.“ Michel und
       ich weinen, Arm in Arm. Es ist härter als beim ersten Mal, und wir wissen
       plötzlich nicht mehr, ob wir noch eine Enttäuschung verkraften können und
       wollen. Unsere Angst davor, dass auch der dritte teilfinanzierte Versuch
       scheitert und es uns niemals vergönnt sein wird, wird immer erdrückender.
       
       Aus rationaler Sicht wäre es Quatsch gewesen, an diesem Punkt aufzugeben.
       Bei vielen ICSI-Paaren klappt es erst beim vierten oder fünften Versuch.
       Und wir haben erst vor drei Monaten so richtig angefangen. Aber es ist
       härter als gedacht. Ich fühle mich mittlerweile nur noch leer, erschöpft
       und ängstlich. Michel lässt seinen Frust an der Klinik aus. Er vertraue den
       Ärzt:innen dort nicht, wolle eine zweite Meinung einholen. Aber dazu
       fehlt mir die Kraft. Ich muss meinem Arzt vertrauen.
       
       Gleichzeitig merke ich, dass ich psychologischen Support brauche, und mache
       einen Termin bei einer Kinderwunsch-Coachin. Alexandra Schuffenhauer ist
       kaum älter als ich. Sie trägt eine schicke Seidenbluse, Perlenohrringe und
       empfängt mich in einer coolen Altbauwohnung in Winterhude. Eine Stunde lang
       kotze ich mich bei ihr aus, offenbare ihr meine abgründigsten Gedanken.
       Familie oder Freundinnen hätte ich das nicht zumuten wollen. Für die
       Coachin ist das Tagesgeschäft. Ich muss nichts erklären, nichts
       beschönigen. Tränen gestatte ich mir nicht. Ich will jetzt nach vorne
       schauen und brauche Lösungen: raus aus dieser erdrückenden
       Hoffnungslosigkeit.
       
       Alexandra geht ein Gedankenspiel mit mir durch: „Was wäre, wenn du
       wüsstest, dass du im nächsten Jahr schwanger wirst?“ Ich antworte, dass
       mich das unfassbar beruhigen und ich wieder alles genießen würde, was mir
       Spaß macht. Sie rät mir, genau das jetzt schon zu tun – Spaß haben, leben.
       
       Im Februar 2023 fliegen Michel und ich nach Indien. Durchatmen, Kraft
       tanken, leicht sein. Wir erkunden einsame Strände, düsen mit dem Moped
       durch den Dschungel. Ich mache eine Ayurveda-Kur, Michel hört mit dem
       Rauchen auf. Es ist romantisch, witzig und unbeschwert. Nach unserer
       Rückkehr fühlen wir uns wieder wie wir selbst und schwören uns, dass wir
       einen dritten Versuch – wenn überhaupt – nur wagen, wenn dieses Gefühl eine
       Zeit lang angehalten hat, wir uns langfristig stabil und glücklich fühlen.
       
       Im April 2023, fünf Monate nach dem letzten Versuch, trauen wir uns. Wieder
       ist da Hoffnung, aber sie ist gedämpft. Wir ziehen die Prozedur so durch
       wie bei den letzten Versuchen. Diesmal entstehen sogar zwei lebensfähige
       Embryos. Einer kann eingefroren werden. Ein gutes Zeichen. Doch wenige Tage
       nach dem Transfer geht es mir plötzlich sehr schlecht. Mein Bauch ist stark
       geschwollen, ich habe Wassereinlagerungen. Offenbar eine Überstimulation.
       „Was muss ich denn noch alles ertragen?“, frage ich mich.
       
       Mein Arzt will mich sofort sehen. Es ist heiß, und jeder Schritt ist eine
       Qual. Ächzend erreiche ich die Klinik. Während des Ultraschalls schmunzelt
       mein Arzt plötzlich so komisch. Er habe einen Verdacht, wolle aber noch den
       Bluttest abwarten und mich später anrufen. Ich verziehe keine Miene. Was
       soll das heißen, ein Verdacht? Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich
       versuche, an nichts zu denken.
       
       Nachmittags stehe ich in der Küche, als das Telefon klingelt. Michel ist
       auf der Arbeit. „Mein Verdacht hat sich bestätigt“, sagt mein Arzt ohne
       Umschweife, und ich höre, wie er lächelt. „Sie sind schwanger!“ Ich
       stotterte irgendwas, von dem ich glaube, dass er es jetzt hören will. Erst,
       als ich aufgelegt habe, dringt die Info zu mir durch. Wir haben es
       geschafft.
       
       Ich erreiche Michel auf der Arbeit, er steht gerade mit Kolleg:innen
       zusammen, kann nicht offen sprechen: „Ja! Toll!“, stammelt er. Das war’s.
       Abends kommt er ewig nicht nach Hause. Gegen 22 Uhr höre ich Geräusche im
       Garten und sehe Michel, wie er ein Bäumchen pflanzt. „Was machst du denn
       da?“ Michel hat Erde an den Händen und feuchte Augen. „Der ist für unser
       Kind.“ Dann fallen wir uns in die Arme.
       
       Richtig loslassen können wir erst, nachdem die ersten zwölf Wochen
       überstanden sind. Da ist das Risiko für eine Fehlgeburt besonders hoch – 25
       Prozent, bei #icsimoms sogar noch höher. Bis dahin kaufen wir keinen
       Strampler, kein Bettchen.
       
       Spätestens nach der zweiten großen Ultraschalluntersuchung im fünften Monat
       weicht die Anspannung dann einer unbändigen Vorfreude. Am 12. Dezember
       dürfen wir unseren Sohn endlich in den Armen halten.
       
       Während der Frühschwangerschaft kehre ich noch einmal für einen
       3-D-Ultraschall in die Kinderwunschklinik zurück. Der ist freiwillig und
       kostet 120 Euro. Mein Arzt möchte gucken, ob alles gut ist. Michel
       schimpft, aber es ist mir ein Bedürfnis, meinen Arzt noch einmal zu sehen.
       Er freut sich wahnsinnig für mich. Und bestimmt auch für die Statistik der
       Klinik. Für die bin ich reines Gold.
       
       26 Aug 2024
       
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