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       # taz.de -- Diskussion über Gewalt an Schulen: Lehrer sind frustriert und ratlos
       
       > Niedersächsische Lehrervertreter beklagen die wachsende Verrohung an
       > ihren Schulen. Doch die Debatte um Ursachen und Maßnahmen kommt nicht
       > weit.
       
   IMG Bild: Gewalt an Schulen ist ein drängendes Thema – nicht nur bei Amokandrohungen wie in diesem Bild
       
       Hannover taz | Polizeieinsätze auf dem Schulhof, erboste Eltern, die das
       Sekretariat stürmen, Schlägereien, Bedrohungen, Beleidigungen, Cybermobbing
       – glaubt man mancher Schlagzeile, [1][befinden sich deutsche Schulen quasi
       im Ausnahmezustand].
       
       Gleich zwei Veranstaltungen haben sich in der vergangenen Woche in Hannover
       mit dem Thema „Gewalt gegen Lehrkräfte“ beschäftigt. Am Donnerstag hatte
       die CDU-Landtagsfraktion zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, am Freitag
       stellte der niedersächsische Philologenverband die Ergebnisse einer Umfrage
       unter seinen Mitgliedern vor.
       
       Kurz zuvor hatte schon das Landeskriminalamt [2][seinen jährlichen Bericht
       „Junge Menschen – Delinquenz, Gefährdung, Prävention“] öffentlich gemacht.
       Außerdem hatte es im vergangenen Schuljahr eine Reihe von Schulen in
       Hannover gegeben, die öffentliche Brandbriefe – [3][ähnlich dem der
       Rütli-Schule in Berlin 2006]– verfasst hatten. Genug Stoff für Debatten
       also, aber auch sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Thema.
       
       Dabei gehört der Befund des LKA – auf dem CDU-Podium vertreten durch Heike
       Willems – zu denen, der am ehesten ein differenziertes Bild bietet. 5.053
       Fälle hat das LKA im Schulkontext erfasst, das ist ein deutlicher Anstieg
       im Vergleich zum Vorjahr mit 4.853 Fällen.
       
       ## LKA registriert Verschiebung hin zu Rohheitsdelikten
       
       Hier setzt sich der schon 2022 registrierte Anstieg fort, den die meisten
       Kriminologen für einen Nachholeffekt der Coronajahre halten, allerdings
       nicht mehr ganz so stark wie zuvor. Das Niveau liegt insgesamt immer noch
       unter dem von vor Corona.
       
       Zu berücksichtigen sei dabei auch, mahnt Willems, dass es sich hier um
       sogenannte Hellfeld-Zahlen handelt: Erfasst werden nur die Taten, die
       tatsächlich angezeigt werden, was zu Verzerrungen führen kann, wenn sich
       das Anzeigeverhalten, die Kontrolldichte oder die Rechtslage ändern.
       
       Sie macht das deutlich an dem Deliktfeld Verbreitung jugendpornografischer
       Schriften: Hier sind die Zahlen in den letzten Jahren dramatisch
       angestiegen. Das liegt aber nicht daran, dass mehr Kinder und Jugendliche
       pädokriminell sind, sondern daran, dass auch das Teilen pornografischer
       Bilder im Klassenchat neuerdings geahndet wird.
       
       Gleichwohl, erklärt die Landesbeauftragte für Jugendsachen beim LKA, zeigt
       sich auch hier eine bemerkenswerte Verschiebung: Die Anzahl der
       Rohheitsdelikte steigt deutlich, während die Zahl der Diebstähle,
       Sachbeschädigungen und Drogendelikte rückläufig ist.
       
       ## Philologenverband zeichnet noch dramatischeres Bild
       
       Opfer sind dabei vor allem Kinder und Jugendliche: 3.003 zählt die
       LKA-Statistik hier, das sind 24,24 Prozent mehr als im Vorjahr. Aber auch
       Lehrkräfte sind häufiger betroffen: 149 Opfer erfasst das LKA in 2023, das
       sind 16,41 Prozent mehr als im Vorjahr, darunter sind 87 Körperverletzungen
       und 56 Fälle von Bedrohungen.
       
       Ein noch sehr viel dramatischeres Bild zeichnet [4][die Umfrage, die der
       niedersächsische Philologenverband] unter 950 Mitgliedern im aktiven
       Schuldienst durchgeführt hat.
       
       Das Thema, erklärt der Vorsitzende Christoph Rabbow, sei auf dem letzten
       Verbandstag von Mitgliedern an den Vorstand herangetragen worden. „Wir
       haben das Problem bisher wohl unterschätzt.“ Was vermutlich auch etwas
       damit zu tun hat, dass der Verband in erster Linie Lehrer an Gymnasien
       vertritt, wo das Problem später virulent wurde als an anderen Schulformen.
       
       Der Befund des Verbandes: 70 Prozent der befragten Lehrkräfte geben an,
       schon einmal verbale Gewalt erfahren zu haben, jede fünfte Lehrkraft sogar
       physische. 71 Prozent der Lehrkräfte geben an, sich schutzlos zu fühlen, 87
       Prozent sehen keine ausreichende Reaktion aus dem Kultusministerium, ein
       Drittel sagt, sie würden den Beruf nicht noch einmal ergreifen.
       
       Der hier zu Grunde gelegte Gewaltbegriff bleibt allerdings etwas vage: Ob
       sich hinter der Aussage „ich habe an meiner Schule schon einmal Erfahrung
       mit verbaler Gewalt gemacht“ eine einmalige grobe Beleidigung oder
       minutenlanges Niederbrüllen verbirgt, weiß nur derjenige, der hier sein
       Kreuzchen gemacht hat.
       
       ## Lehrer möchten nicht schon wieder Konzepte schreiben
       
       Diese Unschärfen kennzeichnen dann auch die Debatte über Ursachen und
       Maßnahmen. Der Philologenverband sieht vor allem das Kultusministerium in
       der Pflicht sieht und fordert energisch eine Überarbeitung des
       entsprechenden Erlasses ein: klarere Verhaltensrichtlinien und einheitliche
       Konsequenzen. Das sei nötig, damit das Thema nicht länger kleingeredet oder
       unter den Tisch gekehrt werden könne, meint Rabbow.
       
       Bei der Podiumsdiskussion, die von der CDU-Landtagsfraktion organisiert
       wurde, steht das nicht so weit oben auf der Forderungsliste. Neben dem LKA
       hatte die CDU Vertreter verschiedenen Lehrerverbände, den Vorsitzenden des
       Landesschülerrates und eine Vertreterin des Landespräventionsrates
       eingeladen.
       
       Da zeigte sich schnell, wie unterschiedlich die Perspektiven auf das Thema
       sind. Viele Lehrervertreter äußerten vor allem ihren Frust, weil sie sich
       mit dem Problem – das sie als gesellschaftliches betrachten –
       alleingelassen fühlen.
       
       Sie leiden vor allem daran, dass es am Ende immer nur darauf hinauslaufe,
       noch ein weiteres Konzept schreiben zu müssen oder punktuell kurzfristige
       Präventionsprojekte organisieren zu dürfen. „Die nutzen dann drei Tage lang
       etwas und das war es“, sagt einer.
       
       ## Uneinigkeit bei Analyse und Maßnahmen
       
       Ansonsten mäandert die Debatte ziemlich: Während die Vertreterin des
       Landespräventionsrates Tanja Rusack betont, man müsse frühzeitig ansetzen,
       vor allem bei der Demokratieerziehung in Kita und Grundschule – weil
       Kinder, die wüssten, wo sie gehört werden, es nicht nötig haben zu
       schlagen, meint kurze Zeit später jemand aus dem Publikum, man müsse auch
       einmal aufhören, immer nur über Rechte zu reden, es gäbe ja auch Pflichten.
       
       Während der Vertreter der Schülerschaft, Matteo Feind, vor allem die
       digitale Gewalt im Auge hat und mehr Medienkompetenz für Schüler und Lehrer
       fordert, sind andere schnell beim allgemeinen Werteverfall und dem, was
       Gesellschaft und Elternhäuser eigentlich tun müssten. Das reicht dann vom
       Käppi absetzen im Klassenzimmer bis zum Schulverweis für Gewalttäter.
       
       So sehr sich der bildungspolitische Sprecher Christian Fühner und der
       innenpolitische Sprecher André Bock auch bemühen: Es will einfach kein
       Forderungskatalog daraus erwachsen, den man mal eben in einen Antrag oder
       Gesetzesentwurf gießen könnte.
       
       Am Ende muss es wohl bei dem Fazit bleiben, das die LKA-Vertreterin Heike
       Willems zieht: „Das Gute an dieser Debatte ist, dass wir sie führen.“ Mit
       anderen Worten: Schön, dass wir mal darüber geredet haben.
       
       26 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ergebnisse-des-Schulbarometers/!6006639
   DIR [2] https://www.lka.polizei-nds.de/startseite/praevention/kinder_und_jugend/jahresberichte-112158.html
   DIR [3] /Wochenendschwerpunkt-10-Jahre-Brandbrief-Ruetlischule/!5286659
   DIR [4] https://www.phvn.de/kultusministerium-muss-gesamtkonzept-zum-umgang-mit-gewalt-an-schulen-vorlegen-lehrkraefte-explizit-als-schutzbeduerftige-in-erlasse-aufnehmen/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nadine Conti
       
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