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       # taz.de -- Rechtsextremismus in der Öffentlichkeit: Ein Tag in Frankfurt (Oder)
       
       > Ist Brandenburg ein großer „Nazi-Kiez“? Fakt ist, dass die rechte Präsenz
       > Einfluss auf den Alltag hat – häufig ohne Widerstand. Alltag in der
       > Uni-Stadt.
       
   IMG Bild: Die meisten Studierenden kommen aus Berlin und sind nur ein paar Stunden die Woche in Frankfurt (Oder)
       
       Frankfurt (Oder) taz | Der Wecker klingelt. Es ist 8 Uhr, ich muss gleich
       zur Uni. Die Sonne scheint. Auf dem Weg zur Tram kommt mir ein junger Mann
       mit Hund entgegen, auf seinen Körper ist eine schwarze Sonne tätowiert. Er
       wohnt hier irgendwo. In der Tram sitzt ein Mann Mitte 30, den ich auch vom
       Sehen kenne, er trägt ein Pitbull-T-Shirt, etwas unauffälliger als seine
       Thor-Steinar-Winterjacke. Sein Kind auch. Ich versuche, seinem Blick
       auszuweichen.
       
       Während der Fahrt scrolle ich durch die Meldungen des [1][Vereins Utopia e.
       V.] in Frankfurt (Oder) zu den Ereignissen des letzten Abends: 10 rechte
       Sticker gefunden, eine ausländisch gelesene Person wurde nicht im Bus
       mitgenommen, Jugendliche sind mit Deutschlandflaggen durch die Stadt
       gefahren und haben Menschen angepöbelt. Im Durchschnitt 5 bis 10 Meldungen
       am Tag: mal nur Sticker, teilweise Beleidigungen und körperliche
       Übergriffe.
       
       Utopia ist eine der Meldestellen für rechte Vorfälle und Aktivitäten. Auch
       die [2][Opferperspektive (OPP) Brandenburg] führt ihre Statistik. Der
       Anstieg der Zahl „direkt Geschädigter“ in den letzten drei Jahren, also von
       Personen, die von rechten und rassistischen Übergriffen betroffen waren,
       lässt eine Trendwende vermuten. Es gibt immer mehr rechte Sticker, und
       Vorfälle in der Öffentlichkeit häufen sich.
       
       Durch solche Dokumentationen werden diese Vereine vermehrt zum Feindbild
       der AfD, und sie müssen um ihre Finanzierung und Existenz kämpfen. Die AfD
       arbeitet dabei mit kleinen Anfragen im Landtag, Bundestag oder in der
       Stadtverordnetenversammlung (SVV) und mit Ablehnung von Anträgen oder der
       Kürzung von Fördertöpfen.
       
       ## Ratlosigkeit in der Uni, Ämter bleiben unbesetzt
       
       Wir fahren durch den Bahnhofstunnel weiter. Allein dort erkenne ich fünf
       rote Quadrate mit einem Kreuz durch, die mal Hakenkreuze waren und jetzt
       dürftig unkenntlich gemacht wurden. Aus der Tram ausgestiegen finde ich
       noch einen Sticker mit einer Reichsflagge – ich melde ihn und entferne ihn
       schnell.
       
       Mein Seminar ist klein. Die Studierendenzahlen an der Fakultät für
       Kulturwissenschaften gehen bergab – und sie war mal die größte! Es herrscht
       Ratlosigkeit. Ein Amt des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) blieb
       die gesamte Wahlperiode trotz Bewerbungen unbesetzt. „Zu politisch und
       nicht konservativ genug“, so die Begründung des Studierendenparlaments
       (StuPA).
       
       Die meisten Studierenden sind nur 2 bis 3 Stunden in der Woche für ihre
       Kurse in Frankfurt. Eine weiblich und nichtdeutsch gelesene Person
       berichtet, sie habe in Frankfurt gewohnt, sei aber zurückgezogen, sie fühle
       sich hier nicht sicher. Ihre eineinhalbstündige Anreise aus Berlin geschehe
       nur geplant und in der Gruppe, niemals alleine.
       
       ## Linke Sticker kleben nicht lange
       
       Sobald das Seminar vorbei ist, baue ich mit meiner Hochschulgruppe einen
       Stand im Foyer auf, um Leute über die Hochschulpolitik aufzuklären. Der
       Nahostkonflikt und die AfD sind sofort Gesprächsstoff. Eine befreundete
       Person berichtet, auf der Toilette einen „1 %“-Sticker gefunden zu haben.
       Der Ein Prozent e. V. ist eine 2015 gegründete, vom Verfassungsschutz als
       gesichert rechtsextrem eingestufte Organisation – [3][mit 1 Prozent ist
       eine „deutsche Elite“ gemeint].
       
       Sticker, die nicht aus dem rechten Spektrum kommen, gibt es hier kaum –
       oder sie kleben nicht lange. Plakate der Students for Climate Justice, des
       Uni-Ablegers von Fridays for Future (FFF), werden täglich abgerissen.
       Plakate gegen Extremismus, wie die Demoaufrufe von „Frankfurt bleibt bunt“,
       mussten täglich ersetzt werden.
       
       Ich fahre nach Hause zurück. Auf dem Weg laufe ich an einer Person in Kutte
       vorbei, darauf ein Logo der Frankfurter Neonazibruderschaft Wolfsschar.
       Bisher haben sie ihre Kleidung nur außerhalb der Stadt getragen, in der
       letzten Zeit aber zunehmend auch in der Innenstadt. Andere Szenemodemarken
       wie Yakuza und Amstaff sind längst in der Mitte der Gesellschaft
       angekommen. Mit einem Antifaschismus-Pulli traue ich mich nicht mehr raus,
       denn die Leute sollen nicht wissen, wo ich wohne.
       
       ## Rechte fühlen sich mehr und mehr wohl in der Öffentlichkeit
       
       Später abends sitze ich mit Freunden in einer Bar. Schnell kommen wir mit
       den Leuten am Nachbartisch ins Gespräch über eine Hausarbeit. Das Thema:
       die Gedenkkultur und moderne Aufbereitung von Anne Franks Tagebuch. Nach
       einer Weile wird der Holocaust relativiert: „Warum müssen wir uns immer
       noch damit auseinandersetzen?“ Danach folgt ein klares Bekenntnis zur AfD.
       Die Partei ginge noch realistisch mit dem Holocaust um. Wir brechen das
       Gespräch ab.
       
       Die Kneipe ist eigentlich offen für alle, jedoch scheinen sich immer mehr
       rechte Menschen in der Öffentlichkeit wohlzufühlen. Einen Tisch weiter wird
       diskutiert, ob die Aussage „Ich mag die meisten Ausländer nicht, das sind
       Messerstecher und Vergewaltiger“ rassistisch sei. Es wird die Angst junger
       Frauen gegen Rassismus aufgewogen.
       
       Ich verabschiede mich, denn ich habe morgen wieder Uni. Einschlafen fällt
       mir schwer. Wie gehe ich damit um? Wo ist die antirassistische und
       demokratische „Mehrheit“? Wenn in Deutschland so viel Empörung über
       rechtsextreme Gesänge auf Sylt herrscht, warum empört sich kaum einer über
       diesen Alltag in meiner ostdeutschen Uni-Wahlheimat? Brandenburg ist nicht
       rechts, aber falls es kein Einschreiten gibt, wird dieses Stigma schnell
       Überhand gewinnen.
       
       Leandre Schepers (24), an der niederländischen Grenze aufgewachsen,
       studiert seit vier Jahren in Frankfurt (Oder), arbeitet in einer Bar und
       engagiert sich für Kulturarbeit. 
       
       ILLUSTRATION: Marlena Wessollek (22) studiert Visuelle Kommunikation in
       Berlin. Wenn sie erzählt, dass sie in Eberswalde aufgewachsen ist, ist das
       den meisten Menschen wahlweise ein Begriff wegen der dort ansässigen
       Hochschule für nachhaltige Entwicklung oder wegen der Eberswalder Würstchen
       – in seltenen Fällen auch wegen der O-Busse.
       
       20 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://utopiaffo.noblogs.org/
   DIR [2] https://www.opferperspektive.de/tag/brandenburg
   DIR [3] /Rechtes-Netzwerk-Ein-Prozent/!5484724
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Leandre Schepers
       
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