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       # taz.de -- Trauma in ostdeutschen Bundesländern: Eine Frage der Perspektive
       
       > Sachsen fühlen sich oft abgehängt. Dieses Gefühl, das sogenannte
       > Ost-Trauma, wird seit Jahren zusammen mit einem Rechtsruck erforscht.
       
   IMG Bild: Die Frage der Perspektive stellt sich insbesondere dann, wenn Mauern im Spiel sind. Aufnahme in Colditz, Sachsen, 2021
       
       Das starke Abschneiden der AfD bei den Kommunalwahlen im Juni, die
       aggressiven Gegendemonstrationen von Rechtsextremen beim CSD in Bautzen –
       und wieder geht ein Aufschrei durch die Bundesrepublik. Denn offenbar hat
       Sachsen noch immer ein Problem mit Neonazis. Im In- und Ausland wundert man
       sich, was da im Osten Deutschlands eigentlich los ist.
       
       Es wird bereits länger im Zusammenhang mit einem Rechtsruck erforscht und
       im Deutschlandmonitor 2023 wieder vermehrt bei Ostdeutschen festgestellt:
       das Gefühl des Abgehängtseins. Doch wo findet dieses Gefühl seinen Ursprung
       und welche Faktoren begünstigen es heutzutage?
       
       Der Mauerfall – er wird in Geschichtsbüchern oft als Moment purer Befreiung
       dargestellt. Gerade so, als ob die Wiedervereinigung eine unmittelbare
       Gleichstellung von Ost und West mit sich gebracht hätte. Die Realität des
       Nachwende-Ostdeutschlands sah jedoch anders aus. Mit der Wende kam 1990 der
       Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zustande. Damalige
       BRD-Politiker wie Helmut Kohl oder Willy Brandt warben bei den
       DDR-Bürger:innen mit großen Versprechungen und ließen Hoffnungen wachsen,
       dass der materielle Wohlstand bald auch in den neuen Bundesländern ankommen
       würde.
       
       Jedoch war die DDR-Wirtschaft nicht auf die Konkurrenz des globalisierten
       Weltmarktes vorbereitet und brach innerhalb kürzester Zeit zusammen.
       Gemessen am Umsatz waren DDR-Unternehmen 1998 im Durchschnitt nur 60
       Prozent so produktiv wie Westunternehmen. Die Arbeitslosigkeit schnellte in
       die Höhe, sodass zwischen der Wiedervereinigung und 2005 laut
       Bundeszentrale für politische Bildung jede fünfte Person im erwerbsfähigen
       Alter arbeitslos war. Die frisch gewonnene Hoffnung vieler Ostdeutscher auf
       ein materiell den Westbürger:innen gleichendes Leben verwandelte sich in
       Enttäuschung.
       
       ## Differenzen zwischen ost- und westdeutscher Wirtschaft
       
       Bis heute konnten viele Versprechungen der Wiedervereinigung nicht gehalten
       werden, das Gefühl der Unzufriedenheit bleibt auch 34 Jahre nach der
       Wiedervereinigung bestehen. So sind ostdeutsche Unternehmen
       durchschnittlich nur 76 Prozent so produktiv wie die westliche Konkurrenz.
       Laut der Bundesagentur für Arbeit ist die Arbeitslosigkeit mit 7,2 Prozent
       im Jahr 2023 nach wie vor höher als in den alten Bundesländern (5,3
       Prozent).
       
       Und noch immer liegt die Lohnlücke von Vollzeitbeschäftigten zwischen Ost
       und West laut Statistischem Bundesamt bei durchschnittlich etwas mehr als
       800 Euro brutto im Monat. Vom demselben Bundesamt wurde 2023 die anhaltende
       Abwanderung ostdeutscher Menschen zwischen 18 und 25 Jahren nach
       Westdeutschland festgestellt. Vor allem junge Frauen verließen ihre Heimat,
       zurückblieben laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung meist Menschen
       mit weniger hohem Bildungsgrad, die ostdeutsche Bevölkerung überaltert
       stetig.
       
       Im Deutschlandmonitor 2023 wird aufgezeigt, dass all diese Faktoren, neben
       der persönlichen Lebenssituation, ein Gefühl des Abgehängtseins, ein
       Krisengefühl, begünstigen können. Dieses Einstellungsmuster wiederum sei
       unter der Anhängerschaft der populistischen AfD unter allen Parteien am
       meisten verbreitet, so die Studie. Das Gefühl des Abgehängtseins sei auch
       ein Erklärungsfaktor für politische Einstellungen wie beispielsweise
       fehlendes Vertrauen in die Bundesregierung.
       
       Im Deutschlandfunk-Interview sagt Steffen Huck vom Wissenschaftszentrum
       Berlin für Sozialforschung, dass es „alternative positive Gegenentwürfe“
       geben müsse, die den „negativ besetzten Themen der AfD“ entgegengesetzt
       werden sollten. Gemeint ist damit, dass die AfD sich in ihrer Politik vor
       allem auf Defizite stützt und Ängste schürt. Das aktuelle sächsische
       Regierungsprogramm der AfD beispielsweise beginnt mit der Behauptung, dass
       „im Namen Europas Wohlstand vernichtet“ werde.
       
       Positive Gegenentwürfe könnten beispielsweise aufzeigen und darauf
       aufbauen, dass das sächsische Bruttoinlandsprodukt seit 2020 stetig wächst
       und im mittleren Feld der Bundesländer liegt. Oder dass der Gender-Pay-Gap
       in Ostdeutschland im Jahr 2023 mit 7 Prozent wesentlich kleiner war als in
       Westdeutschland (19 Prozent, Deutsches Institut für Altersvorsorge). Die
       Sachsen können also fortschrittlich sein, wenn sie wollen. Auch ohne Angst
       und AfD.
       
       Julemarie Vollhardt, 25, wuchs in Kamenz auf und ging nach ihrem
       Jurastudium nach Australien. Dort setzt sie sich für den Klimaschutz ein
       und schreibt mal aus dem Van, mal von einer Farm aus frei über
       intersektionalen Feminismus und den Rechtsruck, den sie auch in ihrer
       Heimat beobachtet. 
       
       FOTO: Tim Gassauer, 27, aufgewachsen in Thüringen, lebt und arbeitet als
       Fotograf zwischen Berlin und Chemnitz.
       
       30 Aug 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julemarie Vollhardt
       
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