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       # taz.de -- Maßnahmen gegen Messer-Gewalt: Willkür ohne echten Nutzen
       
       > In der von Rechten befeuerten Debatte über mit Messern verübte Straftaten
       > setzt die Politik mal wieder auf Verbote. Das löst das Problem nicht.
       
   IMG Bild: Kontrolliert und konfisziert: Ein Bundespolizist zeigt ein in Berlin sichergestelltes Messer
       
       Heranwachsender erleidet mehrere Stichverletzungen in Neukölln.
       Messerangriff in Geflüchtetenunterkunft in Marzahn, sieben Verletzte.
       34-Jähriger nach Attacke mit Messer in Neukölln verstorben. Drei
       Polizeimeldungen aus den vergangenen sieben Tagen, die den Schluss
       nahelegen: Andauernd werden in Berlin schwere Straftaten mit einem Messer
       verübt. Die Nachrichten zeigen aber auch: Beherrscht ein Thema wie „die
       Messerkriminalität“ die Schlagzeilen, steigt die Aufmerksamkeit für jeden
       einzelnen Fall.
       
       Doch anders, als viele Berichte zu dem Thema glauben machen, geht in Berlin
       nicht täglich mindestens ein Täter wahllos mit einem Messer auf
       Passant*innen los. Die Wirklichkeit ist deutlich komplizierter – und die
       Lage trotzdem ernst. Höchste Zeit also, die Debatte zu versachlichen, die
       vor allem von der rassistischen AfD und ihren rechten Sprachrohren
       angeheizt wird.
       
       In Berlin [1][wurden im vergangenen Jahr 3.482 Straftaten mit Messern
       erfasst]. Das ist im Vergleich zum Vorjahr ein leichter Anstieg von 165
       Fällen, also 5 Prozent. Aber mit Zahlen kann man viel falsch machen, wie
       ein Blick in die Presse zeigt. Die Berliner Zeitung etwa erlaubte sich
       einen kleinen Zahlendreher, und, schwuppdiwupp, war die Rede von 3.842
       Messerangriffen und einem sagenhaften Anstieg von mehr als 500 Fällen
       binnen eines Jahres. Auch Bild, B.Z., Berliner Kurier, Junge Freiheit und
       T-Online [2][waren sich zu schade, selbst zu recherchieren], und übernahmen
       diese Zahl.
       
       Die knapp 3.500 Fälle sollen hier nicht schöngeredet werden. Jede von
       Gewalt betroffene Person ist eine zu viel. Traumata und körperliche Schäden
       bleiben oft lange. Doch Differenzierung bedeutet nicht Relativierung.
       
       ## 9 von 10 Tatverdächtigen sind Männer
       
       Im Schnitt kommt es also in Berlin jeden Tag zu rund 10 Straftaten mit
       einem Messer. Ein Blick in die Tiefen der Polizeistatistik verrät: Die
       meisten – und zwar knapp die Hälfte – sind Bedrohungen. Immerhin ein
       Viertel entfällt auf den Bereich gefährliche und schwere Körperverletzung.
       Und bei weniger als einem Prozent – 24 Fälle – handelt es sich um „Mord und
       Totschlag“. Dabei wurden 12 Menschen getötet. 200 der insgesamt 4.000
       Betroffenen einer Messer-Straftat trugen schwere Verletzungen davon. Und
       zwei Drittel wurden nicht verletzt.
       
       Es ist also kaum zu belegen, dass die öffentliche Sicherheit aufgrund einer
       Welle an Messerangriffen gefährdet ist. Und das lenkt den Blick auf die
       sozialen Hintergründe von Gewalt und Kriminalität. Auswertungen zeigen
       immer wieder: Oft kennen sich Täter und Opfer. Und eine Straftat mit einem
       Messer begehen in Berlin in fast 9 von 10 Fällen Männer.
       
       Doch die von rechten politischen Kräften befeuerte Diskussion lenkt den
       Blick immer wieder auf die vermeintliche kulturelle Dimension bei
       Messerangriffen. Tatsächlich sind Täter mit nicht-deutscher
       Staatsbürgerschaft in der Statistik überrepräsentiert. Doch daraus lässt
       sich nicht ablesen, ob es Geflüchtete, Arbeitsmigrant*innen oder
       Tourist*innen sind, die die Taten verüben.
       
       ## Selbsterfüllende Prophezeiung
       
       Und so kann die große Aufmerksamkeit für das Thema Messer zugleich zu einer
       selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Denn eine höhere Sensibilisierung
       führt oft zu einer größeren Anzeigebereitschaft – was sich dann darin
       äußert, dass mehr Bedrohungen mit einem Messer angezeigt werden und mehr
       Fälle in die Statistik eingehen. Die Statistiken und die Medienberichte
       steigern wiederum das subjektive Bedrohungsgefühl und damit womöglich den
       Drang, sich zu bewaffnen – was schließlich zu einem häufigeren Einsatz von
       Messern bei Konflikten führen könnte.
       
       Politiker*innen auf Bundes- wie auf Landesebene [3][versuchen dem
       Messer-Problem mit einem altbekannten Rezept beizukommen]: verbieten,
       verbieten, verbieten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stellte eine
       bundesweite Regelverschärfung für Messer im öffentlichen Raum in Aussicht.
       Bald sollen nur noch Messer mit einer Klingenlänge von bis zu 6 statt
       bislang 12 Zentimetern erlaubt sein. Sogenannte Springmesser, bei denen die
       Klinge auf Knopfdruck aus dem Griff schnellt, sollen komplett verboten
       werden.
       
       ## Willkürliche Kontrollen
       
       Doch können strengere Regeln für Alltagsgegenstände das soziale Problem
       Gewalt lösen? Natürlich nicht. Denn Verbote wirken nur, wenn sie auch
       kontrolliert werden. Berlins schwarz-roter Senat will das durch
       „Waffenverbotszonen“ möglich machen. Doch der Begriff führt in die Irre:
       Viele gefährliche Waffen, darunter auch einige Messertypen, sind ja sowieso
       verboten, und das überall. Ein ehrlicherer Name für diese Gebiete wäre wohl
       „willkürliche Kontrollzonen“, denn in diesen als unsicher deklarierten
       Bereichen darf die Polizei anlasslose Personenkontrollen durchführen.
       
       In Berlin gibt es dafür schon sieben sogenannte kriminalitätsbelastete
       Orte. Ob die jetzt, weil es schöner klingt, einfach in „Waffenverbotszonen“
       umbenannt werden oder in den etwaigen Zonen noch einmal verschärfte Regeln
       für gefährliche Gegenstände gelten sollen – das ist völlig unklar.
       
       Klar ist dagegen, dass mit mehr Befugnissen für die Polizei einer
       anhaltenden Rechtsunsicherheit sowie Racial Profiling Tür und Tor geöffnet
       werden. Verstärkte Waffenkontrollen bringen auch eine Menge „Beifang“ mit
       sich, das zeigen die [4][Auswertungen von Einsätzen der Bundespolizei an
       Berliner Bahnhöfen]. Dabei werden Passant*innen auch wegen Drogenbesitz
       oder Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz angezeigt – was im schlimmsten
       Fall zu einer Abschiebung führen kann.
       
       Die Berliner Law-and-Order-Symbolpolitik löst mal wieder kein Problem –
       aber verschlimmert die Situation für viele Bewohner*innen dieser Stadt.
       Es ist höchste Zeit für eine massive Ausweitung der
       Gewaltpräventionsangebote an Schulen und der psychosozialen Versorgung von
       Menschen in akuten Krisen und Suchterkrankungen.
       
       17 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Zunahme-von-Messerangriffen/!6026725
   DIR [2] https://x.com/retep_kire/status/1823288574659252654
   DIR [3] /Waffenrecht-soll-verschaerft-werden/!6027042
   DIR [4] /Waffenkontrollen-durch-Bundespolizei/!5947734
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hanno Fleckenstein
       
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